Wieder verging eine Nacht, und ein weiterer Tag im Reich des dunklen Mondes brach an.
Aellia stand an der Reling und hielt nach der Obsidian-Stadt Ausschau. Sie wurde langsam etwas nervös und fragte sich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis sie zu Hause ankamen. Hatte Irisa die Königin und die Hohepriesterin wohl schon gut auf ihre Ankunft vorbereitet?
Die Harpya liess ihren Blick umherschweifen und betrachtete den Greif, welcher schon kurz erwacht war und sogleich angefangen hatte, an den Fesseln zu zerren, die man ihm angelegt hatte. Das Schiff schwankte dabei leicht.
Artemia kniete neben das mächtige Tier und redete leise und sanft auf es ein. Schliesslich gelang es ihr wieder, den Greif zu beruhigen.
Aellia hatte ihm vor kurzem etwas zu Fressen gebracht, doch noch hatte der Greif das Fleisch nicht angerührt. Sie konnte ihn gut verstehen. Auch ihr wäre es in Gefangenschaft so ergangen. Sie hätte sich auch mit allen Kräften dagegen gewehrt und die Nahrung verweigert. Sie überlegte sich, ob es eine gute Idee gewesen war, das wilde Tier einfach so mitzunehmen. Doch sie hoffte, dass Artemia ihm begreiflich machen konnte, dass ihm niemand etwas Böses wollte. Es ging ja in erster Linie um die Erhaltung dieser einzigartigen Wesen. Ob es den Harpyas jemals gelang sie als Reittiere auszubilden, stand auf einem andern Blatt. Vielleicht würde auch gar nichts daraus werden, wenn das Greifen Paar sie als ihre Feinde ansah.
Mit einem leisen Seufzer wandte sich die Harpya ab und schaute erneut gedankenverloren hinaus auf die Planetenscherben. Teilweise quoll aus deren Innerem noch orangerot glühende Lava, die hinab in die endlosen Tiefen darunter stürzte. Andere Scherben waren schon stärker abgekühlt und nur noch ein geringes, rötliches Leuchten, das aus dem, wie ein spinnennetzartiges Geflecht angeordneten Ritzen drang, zeugte davon, dass noch immer ein Feuer in ihnen brannte. Viele jedoch waren schon ganz abgekühlt, ihre Oberfläche war an einigen Stellen sehr rau und porös. An anderen Stellen, war glatter Obsidian entstanden.
Gerade waren die Schiffe an einem besonders mächtigen Felsgebilde vorbeigekommen, dass mit vielen Höhlen durchlöchert war. Aellia hatte es beeindruckt betrachtet. Doch die Sicht war ziemlich schlecht. Es war eine unwirtliche Gegend hier, denn es lag sehr viel Qualm in der Luft und das Atmen fiel schwer. Zum Glück erfüllten die Schutzgewänder ihren Zweck, denn keiner ihrer Freunde litt unter irgendwelchen Beschwerden.
Sie flogen und flogen, bis es erneut Abend wurde. Der nun wieder etwas klarer gewordenen, nur von vereinzelten Schwaden durchzogene Himmel, wurde dunkler und dunkler. Er verwandelte sich in himbeerrot, dann in violett und schliesslich in undurchdringliche Schwärze. Besonders die Solianer, welche sich sehr an helles Licht gewöhnt waren, hatten Mühe sich in dieser Finsternis zu orientieren. Auch die Lunarier hatten etwas Mühe, doch sie kamen noch etwas besser klar. Aber keiner der andern, sah die grosse Lilithia auf dieselbe wundervolle Weise wie Aellia. Diese war eine wunderschöne, makellose Kugel, mit silbernen Adern durchzogen, die wundervolle Strukturen bildeten. Hingabe und Liebe erfüllte Aellias Herz, als sie ihre geliebte Göttin betrachtete und doch, war da auch eine seltsame…Trauer in ihr.
Nannios gesellte sich wieder zu ihr und legte den Arm um sie. „Es ist für dich sicher komisch, nach allem was du auf Equilibria erlebt hast, hierher zurück zu kommen.“
„Ja, es ist wirklich seltsam. Einerseits fühle ich mich innigst verbunden mit meiner Heimat. Ich sehe die Göttin, wie sie über uns leuchtet in ihrer dunklen Schönheit und doch weiss ich, dass sie eigentlich nur ein Schatten von Lunaria ist. Sie ist… nur ein Aspekt von ihr und ich… fühle mich manchmal so orientierungslos, weil mein einst unerschütterlicher Glaube so ins Wanken geraten ist. Ich liebe Lilithia, aber sie ist… nicht mehr mein Leben, wie einst. Sie ist mir auf seltsame Weise fremd geworden und doch ist sie mir so vertraute, so wie dieses Land hier. Ich fühle mich daheim und doch wieder nicht. Ich sehne mich zurück nach dem Reich des Silbermondes und doch, bricht es mir auch irgendwie das Herz, wenn ich daran denke, dass ich diesem Ort hier, einst für immer den Rücken kehren werde.“
„Ich kann dich sehr gut verstehen. Es würde mir auch so gehen. Immerhin dass hier war deine Heimat und einst war es für dich die perfekte Welt. Du hast nie etwas in Frage gestellt, du hast einfach gelebt, auf gewisse Weise unbeschwert…wie ein Kind. Das alles ist nun nicht mehr möglich.“
„Nein, das ist es nicht…das ist es wahrlich nicht. Jetzt da ich so viel mehr weiss.“
„Wissen ist wunderbar, aber es kann auch mit viel Schmerz verbunden sein.“
„Aellia nickte langsam, dann auf einmal stutzte sie. Sie schaute angestrengt in die Richtung, wo die Stadt sich befand und… auf einmal sah sie einige matt schimmernde Lichter in der endlosen Schwärze des Raums auftauchen. Langsam schälte sich die gewaltige, pyramidenförmige Stadt der Harpyas aus der Finsternis. „Wir sind da!“ rief sie und in diesem Moment erfüllte sie unbändige Freude. „Wir sind tatsächlich angekommen!“