Für Karima war der Flug längst nicht so genussvoll gewesen, wie für die beiden Hexen. Aus der Erinnerung vergegenwärtigte sie sich die Situation. Wild zogen sie die Kreise durch schmale Schneisen im Wald. Dann waren die beiden Damen wieder in dem Raum. "Na, Karima, hast du Lust auf mehr bekommen. Dann lasse uns noch eine zweite Runde drehen. Schließlich erlebt man so was nicht alle Tage!" Eigentlich wollte sie ablehnen, aber ihre Zunge sagte etwas anders. "Warum eigentlich nicht. Aber eine Jacke möchte ich mir noch anziehen."
Erneut blendete sie ein Lichtblitz und die wilde Hatz auf einem Besen begann erneut. Die Dunkelheit kaschierte vieles, aber der Fahrtwind weckte tiefste innere Gefühle und beglückte ihr Herz. Es fühlte sich so an, als führe sie gerade eine schwere Maschine. Mehrfach sah sie andere Hexen, die ebenso tollkühn auf ihren Besen durch die Dämmerung ritten und manche hatten sogar noch Katzen oder anderes Getier dabei. Der Flug führte immer weiter in die fallende Dämmerung, bis sie in der Ferne ein riesiges Feuer auflodern sah. Genau dahin lenkten Isolde und Edeltraud ihre Besen.
Der Flug durch die kühle Luft ließ Karima nur ein wenig frösteln. Nach der Landung auf einer großen Wiese sah sie erst den gewaltigen Auflauf an Frauen, die aus aller Welt zu kommen schienen. Einige glichen indischen Gottheiten, andere persischen Damen und die anderen Damen schienen aus dem Norden oder Süden zu stammen. Jede Hautfarbe und jede Haarfarbe schien bei diesem Fest vertreten zu sein. Rasch bildete sich um die Neuankömmlinge ein großer Kreis von Damen. Eine scheinbar uralte Dame beäugte Karima intensiv. Scheinbar blickte sie Karima direkt in die furchtsame Seele, die zwischen Realität und Wahnsinn pendelte. Nichts und auch nicht der kleinste Gedanke ließ sich vor der Frau verbergen. Freundlich sah die Dame dann zu ihr. "Kind, ich kenne deine Urahnin, damals wohnte deine Familie noch in Babylon und ich redete gerne mit Deiner Mutter, wenn ich zufällig in der Gegend war. Wir trafen uns oft am Ischtar-Tor, du weißt, dass es ein wundersames Symbol ist. Sie war eine meine Gönnerinnen und ich schenkte ihr das Leben, so dass wir über viele Jahre enge Freundinnen waren. Es erstaunt mich dich hier zu sehen. Sag also Kindchen, was ist dein Anliegen oder innerster Wunsch."
In Karima brodelte es, wie konnte eine fremde Frau etwas über ihre Familie wissen. Mutiger sah sie auf. "Woher wisst ihr das alles. Es ist doch sicher schon viele Jahre oder Jahrhunderte her? Und wie macht ihr es, dass ihr vorgebt etwas über mich zu wissen?" Giggeln begleitete ihre Worte. "Kindchen, mein Name ist Brigta, andere nennen mich Ostara und wieder andere Malei. Sicher weißt Du nicht, dass jeder lebende Mensch und die Frauen noch viel stärker Gedankenintarsien in sich tragen, die von der Mutter immer auf die Töchter übergeben werden. Bei dir ist es das Vergissmeinnicht, es hat die gleiche Farbe, wie das Ischtar-Tor. Deiner Urahnin übergab ich diese Intarsie, das dazu passende Schmuckstück ging sicher in den Wirren der letzten Jahrtausende verloren, aber das ist ja eh nur ein äußeres Merkmal. Als entfernte Freundin heiße ich Dich hier in unserem Kreis Willkommen. Spreche mit den Damen. Danach kannst Du Dir überlegen , wie deine Zukunft aussehen mag. Sicher, Du bist noch nicht die schlauste, aber aus Dir könnte noch etwas werden. Vorausgesetzt, Du möchtest eine kluge Hexe werden. Warnen möchte ich Dich jedoch vor dem merkwürdigen Gebräu meiner liebreizenden Schwestern, manche haben in die Getränke kleine Zauber eingebunden, die recht unangenehme Folgen haben können, wenn man keine Hexe ist. Abgesehen - natürlich von dem starken Alkohol in dem Zeug, welchen Deine Urahnin ja schließlich so benannt hat."
Mit einer Geste lud die reife Hexendame Karima nun zu einem Rundgang um das riesige Lagerfeuer und die kleine Zeltstadt ein. "Trinke nur Wein und Met und probiere mal die vielen leckeren Sachen an den Ständen. Zu empfehlen sind Elchschinken, der Wein aus Shiraz und die Feigen aus dem Orient. Edeltraud und Isolde kümmern sich sicher gerne um Dich, schließlich bist Du ja ihr Gast. Ach, und noch eine Kleinigkeit, Dein Handy oder moderner Ackerschnacker funktioniert hier in dieser Gegend nicht. Gebe dir also keine Mühe um etwas festzuhalten, was Du niemals festhalten kannst."
Geruhsam schlenderten sie zusammen im Lichtschein des großen Feuers an zahlreichen Ständen vorbei. Tische standen voller Speisen und Getränke zu beiden Seiten des Weges. In schlichten Brotkörben stapelten sich Juwelen. Flaschen mit unbekannten Aufschriften standen in kleinen Regalen neben den Ständen. Erst jetzt stellte sie Fragen. "Wie kann es sein, dass es diese verborgene Welt gibt?" Isolde lächelte dezent. "Wir wissen um die Verletzlichkeit unserer kleinen Schwesternschaft und daher hüten wir unsere Geheimnisse und schützen uns. Zudem sind sämtliche Damen überaus gebildet und natürlich beherrschen alle Magie. Mit kleinen Zaubern schützen wir uns vor Neugier und Blicken, aber natürlich haben wir auch Gaben, die uns in die Zukunft schauen lassen. Unauffällig leben wir am Rocksaum der Gesellschaften und treten nur selten mit unserem wahren Gesicht im gesellschaftlichen Leben auf. Daher haben wir Zeit, also fast bis zur Unendlichkeit, um auch einmal eine Familie zu gründen und Nachwuchs zu zeugen. In manchen Zeiten studieren wir wieder über Jahre oder bereisen einfach die Welt. Natürlich nur, wenn uns unsere Pflichten dafür die nötige Zeit lassen."
Jetzt schaute Isolde intensiver zu Karima, so als seien ihre Augen hochmoderne Scanner, die mehr als die Oberfläche erfassten. "Wenn du es wünscht, dann kannst Du bei uns mitmachen und eine Ausbildung beginnen. Du hast wertvolle Talente und mit ein wenig Mühe und Fleiß kannst Du bei uns viel erreichen und zu einer bedeutenden Persönlichkeit heranwachsen. Gesundheit können wir schenken und Sorgen brauchst Du nicht mehr zu haben. Aber, dafür musst du dich von Deinen jetzigen Weltanschauungen befreien. Du kannst nicht länger Muslima sein sondern wirst eine Jüngerin des Wissens und der Magie. Du musst Dich nicht sofort entscheiden, daher gebe ich Dir ein kleines Geschenk. Du erhältst von uns einen Anhänger, der den Blüten des Vergissmeinnicht nachempfunden wurde. Immer, wenn du Fragen hast und dieses Juwel berührst erhältst Du Hilfe und Antworten von uns. Und wenn es Dein Wunsch sein sollte unserem Kreis beizutreten, dann kommen wir und bereiten Dich auf den Übergang in die Welt des Wissens vor."
In Karima arbeitete es, Gedanken wurden verarbeitet und ein Ergebnis zeichnete sich vage ab. "Und wo werde ich leben und ausgebildet werden, falls ich eurer Gilde beitrete?" Edeltraud schmunzelte dezent. "Zunächst bei mir, ich wohne hier in der Nähe und kann alles notwendige arrangieren. Aber, alleine schon mit diesem kleinen Juwel übernimmst du von uns ein Schweigegelübde. Anderen Menschen kannst Du nichts von unserer Welt erzählen. Nur dieser kleine Zauber wird Dich von nun an begleiten. So besagen es unsere Regeln." Isolde deutete auf ein buntes Farbenspiel. "Lass uns zu dem Magietester gehen, dort wirst Du möglicherweise etwas erleben, was Dir hilft eine Entscheidung zu treffen. Sie sah eine Art Magnetfeld, um das herum metallische Teile schwirrten. Bei Hexen deformierte sich das Magnetfeld mal mehr und mal weniger stark. Als sie kaum noch drei Meter von dem illuminierten Teil stand änderten sich die Feldlinien mehr als zuvor. Leuchtende Metallteile schwirrten nun auch um sie herum und viele Damen klatschten anerkennend Beifall als sie es sahen. Verwirrt reagierte Karima, die es für einen netten Trick hielt, dennoch, die Metallteile sausten um ihren Kopf herum und leuchteten dabei in allen erdenklichen Farben auf.
Erstmals seit ihrer Kindheit überlegte Karima, was für sie wichtig war, während sie sich von diesem Gerät entfernte und die Metallteile wieder zu dem Magneten zurückkehrten. Sie litt wie viele, nein wie fast alle Frauen mit Migrationshintergrund unter alten Traditionen, der minderwertigen Rolle der Frau in der eigenen Familie und eine Deutsche, war sie noch längst nicht. Daran änderte auch nichts der Fakt, dass sie Beamtin geworden war. "Danke, aber ich denke, ich sollte jetzt zur Ruhe kommen. Ich hatte seit heute Morgen Dienst und ehrlich gesagt bin ich schon ein bisschen müde. Ich bedanke mich für diese ersten Einblicke in diese mir so unsagbar fremdartige Welt. Zudem bedanke ich mich für dieses kleine Juwel, denn ich werde Fragen haben und will überlegen, ob ich eurem Bund beitreten möchte." Isolde nickte, "dann wird es so sein." Karima spürte nun das Schmuckstück um ihren Hals und sie spürte, dass sie plötzlich einen Rucksack trug, der sicherlich manches Geheimnis in sich verbarg.
Nur einen Moment später stand sie wieder in der Polizeiwache und war überrascht, über die letzten Bilder, die immer noch schemenhaft durch ihren Kopf geisterten. Sie grübelte noch kurz und legte den Rucksack ab. Darin fand sie verschiedenste Spezereien, einen ihr unbekannten Mantel und ein merkwürdiges Foto. Wenn sie die Augen schloss, dann sah sie Isolde und Edeltraud, die auf ihren Besen durch die Nacht flogen. "Ihr beiden Schlitzohren habt mich ganz schön hinters Licht geführt. War das nur ein Trick oder Realität?"