"Pflanzen, immer wieder diese blöden Pflanzen! Herzmine züchtet ja jetzt Sandrosen. Zum Glück werde ich dieser herzlosen Dame vorerst nicht mehr begegnen." Das Herbarium wuchs und wuchs. Das Ziel waren dreitausend europäische Pflanzen zu sammeln, die Trivialnamen und die wissenschaftlichen Namen zu kennen und natürlich die botanische Ordnung zu kennen, also Ordnung, Familie, Unterfamilie, Gattung und halt diverse Trivialnamen auswendig zu lernen. "Morgenblume, Mondscheinblume, Regenblume, Sommerröschen, Augenblume, Königsblume." Sie leierte gerade den Salmon runter, als Edeltraud und Isolde kurz bei ihr reinschauten. Sofort schüttelten beide Damen den Kopf.
Energisch sprachen sie Trude an. "Du bist ein dummes Huhn!" Das war das erste was sie zu hören bekam. "Wie kann man nur so umständlich lernen. Haben wir Dir etwa nicht genügend Magie beigebracht, um das Lernen zu vereinfachen?" Trude schaute missmutig auf. "Oh, danke für die Blumen, dabei dachte ich doch tatsächlich, dass ich ganz normal lernen sollte. Ist es uns nicht verboten magische Tricks beim Lernen anzuwenden?"
Mit bewegter Erschöpfung quittierte Trude den Vortrag der beiden Damen. Edeltraud schüttelte entsetzt den Kopf. "Du hast doch so ein flachen Kommunikator, mit dem man auch tolle Fotos machen kann. Also warum nutzt du nicht die magischen Mittel, die wir Dir an die Hand gegeben haben. Du musst Dir einen Farbkatalog im dein Hirn hochladen und da alle Bilder von den Pflanzen platzieren. Ach da hast du ja Bellis, das Gänsebümchen oder auch Tausendschönchen. Dieser Katalog enthält Bilder und alles was Du wissen musst. Aber zuerst machen wir einen kleinen Ausflug nach Berlin. Zieh dir die Straßenkleidung an und dann reisen wir mal eben zu unserem Lernort in der Hauptstadt." Trude nickte und folgte den strikten Anweisungen ihrer Tutorin. Gemeinsam landeten sie in einem muffigen Raum mit alten Möbeln. Die Dauerausweise für die Besucher hatten sie sich angesteckt und dann marschierten sie schon los. "Hexe sein - bedeutet Wissen zu sammeln. Zudem ist das Ischtar Tor hier in der Ausstellung ein beliebter Treffpunkt von Hexen, weil wir hier in ruhe studieren können und ein Hauch deiner Urahnin an den Mauern hängt." Trude war mehr als überrascht. "Ich sagte doch Kindchen, dass ich mit einer deiner Vorfahrinnen befreundet war und sie wird hier bildhaft dargestellt. Natürlich nicht als Frau sondern als Bellis, dass war ihr Name. Vielleicht solltest Du wissen, dass sie zum Hofstaat von Nebukadnezar gehörte, der dieses prächtige Tor vor sehr vielen Jahrhunderten errichten ließ. Ja, damals war ich noch jung und Männer verrenkten sich ihren Hals, um mich mit ihren Blicken zu erfassen." Durch einen geheimen Gang, den nur Hexen passieren konnten, verließen sie den Raum und bestaunten das wunderbare Kulturdenkmal, das einen großen Teil der Ausstellung einnahm.
Die Farbenpracht war eine Augenweide, die jenseits Trudes Erwartungen (https://de.wikipedia.org/wiki/Ischtar-Tor) lag. Neugierig fragte sie nach. "Wie alt ist den dieses prächtige Gemäuer, wenn ich mal fragen darf." Edeltraud winkte mit der Hand ab. "Einige tausend Jahre, aber das ist weniger wichtig. Versteh, selbst in unserem Alter ist man noch ein wenig eitel. Wichtiger ist die Kultur die dahinter steckt. Es ist die Größe und Pracht, die dir helfen soll, das Leben als Hexe zu genießen. Da, sieh dir nur die vielen Gänseblümchen oder Bellis auf den Wänden an. Ich weiß natürlich, dass deine Ahnin eine versierte Heilerin war, die auch mir auf die Sprünge geholfen hat. Sie schenkte mir immerhin das Wissen über Pflanzen und die Heilkunde. Wenn ich mich nicht irre, dann hat es etwa zwanzig Minuten gedauert, bis ich alles über Pflanzen verinnerlicht hatte. Herzmine hasste Bellis, weil sie nicht jedem ihr Wissen offenbarte. Dort, unterhalb des Zwischenturmes erhielt ich meine Ausbildung und diese blöden Tests mussten wir damals nicht machen. Ja, das waren noch schöne Zeiten." Trude betrachtete den Ort und schien vage Bilder aus dieser Zeit aufzufangen. Sie sah Edeltraud und Isolde, die bei einer hübschen, dunkelhaarigen Frau saßen und das Wissen vermittelt bekamen. Isolde berichtete kurz darauf, dass sie als Heilerinnen über vier Jahre an diesem herrlichen Ort arbeiteten und während dieser Zeit viel erlebten und nebenher die Kultur studierten. "Damals war die Nahrung noch vollkommen anders und gesünder. Täglich gab es Trauben, Oliven, Brot und natürlich viel Gemüse. Zwei Mal in der Woche gab es auch Fleisch und einmal Fisch. Dazu Joghurt, Getreidebrei und alle Arten von Nüssen. Das alles ist sehr gesund und meine Figur ähnelte noch einer griechischen Göttin."
Es war ein traumhafter Ausflug und nach dem verlassen der Ausstellung gingen sie ein Eis essen. Auf den Stühlen sitzend erzählten die beiden älteren Schwestern so manchen Schwank aus ihren Anfangsjahren. "Stelle Dir nur vor, mich nannten sie damals Tausendschön, weil ihnen helle Haare unbekannt waren. Ja, ich war fast so etwas - wie ein Wunder für die Leute aus dieser Zeit, weil sie noch nicht einmal wussten, dass wir aus einem fernen Land stammten. Isolde hieß damals Tamrir, sie war eine Hilfsgöttin von Ischtar, die für die Heilung der Armen zu sorgen hatte. So hat jedes Ding halt seinen Namen und Platz in einer merkwürdigen Ordnung. Ähnlich ist das mit den Pflanzen und deren Namen, die alle in ein wissenschaftliches Ordnungssystem gesteckt wurden." Trude schaute auf ihre Uhr, die anzeigte, dass es längst später Nachmittag war. "Schwestern seid mir nicht gram, aber morgen ist die nächste Prüfung. Ich denke, ich muss noch ein wenig lernen, damit ich nicht als Dummerchen bei der Prüfung abgestraft werde. Zudem, knurrt mein Magen und selbst ich muss ab und an etwas mehr als Zucker zu mir nehmen." Isolde nickte. "Lass uns eben bezahlen. Edeltraud kauft eben noch ein wenig zu Essen ein und dann lehren wir Dich Botanik, nach allen Regeln der Kunst. Nur wenig später standen sie mit vollgepackten Taschen in Trudes Zimmer und Edeltraud bereitete magische orientalische Speisen zu, während Isolde ihr das Wissen mittels einer Gedankenübertragung zukommen ließ und sie dabei mehr lernte, als mittels ihre akribischen Fleißmethode. Gemeinsam dinierten sie noch das wunderbare Essen, Lamm-Kotelette mit einer Minzsoße zu einem bunten Gewürzreis. Dazu gab es viele verschiedene Gemüsesorten und einen deftigen Rotwein, der allen rasch die Müdigkeit in die Köpfe trieb. Hernach gab es noch einen leckeren Nachtisch, der nicht aus jener fernen Zeit stammte.
Zum Abschied ermahnte Isolde Trude noch einmal. "Setze mehr auf unsere strukturierte Lernmethoden, dann wirst Du sicher bald auch zu einem Tausendschönchen, also einer strahlenden Blume des Orients und des Okzident."