"Die alten Hühner verlangen verdammt viel von mir. Jede Woche kommen sie mit neuen Büchern, die ich allesamt lesen, verinnerlichen und denen ich jegliche Form von Essenz entziehen soll, um die magische Kosmologie zu verstehen." Echauffiert warf sie das Geschirrtuch über die Stuhllehne. "Kennen die Damen kein Mitgefühl für kleine Novizinnen? Das hätte ich zu gerne gewusst. Aber vielleicht teilen mir das die alten Schachteln ja mal mit. Wäre echt gespannt auf eine Antwort." Sie wusste, dass heute wieder ein Besuchstag war, also irgendwann würden eine oder mehrere Hexen erscheinen und auf dem Sofa ihren Platz finden, um danach die neuen und zugleich kaum erfüllbaren Lernziele für die kommende Woche zu verkünden. Nebenher hörte sie ihre Musik (https://www.youtube.com/watch?v=xhCECRwGmdI). Es war der Ohrwurm, um jede Menge Wissen binnen kürzester Zeit unterhalb der Schädelkalotte zu verstauen.
Wöchentlich oder doch schon täglich, stiegen die Anforderungen und Feiertage gab es anscheinend in der magischen Welt nicht. Ostern, Pfingsten oder Ramadan kamen irgendwie nicht vor. Selbst einen zuverlässigen Kalender mit den magischen Feiertagen konnte sie nirgends auftreiben. Das Teewasser kochte und der Lady Grey würde bald dem Gaumen schmeicheln. So sah der Plan aus, nachdem die zweite Portion vom Essen in der Tupperdose lag und im Gefrierschrank landete.
Der Wecker erinnerte sie an die Zeit, um den Teefilter aus der Teekanne zu entnehmen. Locker warf sie den Filterbeutel in den Biomüll und hoffte - gleich einmal die Füße hoch legen zu können. Doch, daraus wurde nichts. Ein Geschwader Hexen erschien zu früh in dem Raum. Edeltraud, allen voran. Isolde, Gertrude, Aldine, Maria und wie sie alle hießen. Ohne Vorrede winkte Noremi sie zu sich. Das hatte nichts Gutes zu bedeuten. "Kind, ziehe Dich um, wir müssen zu einer Trauerfeier und da ist üblicherweise angemessene Kleidung erforderlich. Also ziehe bitte diese schrecklichen Männerbeinkleider aus und kleide dich in das schwarze Kleid."
Erstaunt fragte Trude nach. "Wie, Hexen sterben auch?" Entfleuchte es ihrem Geist und danach auch noch dem Mund. "Ja, zumeist sind es tragische Unfälle. In diesem Fall eben auch. Noemi Bell wurde eine Kugel zum Verhängnis, die ein Jäger verschoss, als sie an dem falschen Platz zur Unzeit auftaucht. Also spute Dich, es liegt eine längere Reise vor uns und die Zeit drängt." Diese ständigen Befehle störten sie schon längst, daher ballte sie nur die Faust in der Tasche, um ihren Unmut nicht offen zu zeigen.
Rasch entledigte sich Trude ihrer Alltagskleidung und bereitete sich innerlich auf eine traurige Abschiedsfeier vor. Nebenher frischte sie sich auf und vernahm zufällig den Ort, der das Ziel der Reise sein sollte. "Plougastel!" Der Ort musste irgendwo im Jenseits oder Nirgendwo liegen, denn diesen Namen kannte Trude nicht, daher fragte sie neugierig nach. "Wo liegt Plougastel?" Trocken antwortete Noremi: "In Frankreich, also der Bretagne - in der Nähe eines alten Tanzplatzes unserer Schwesternschaft. Bevor die Römer kamen, konnten wir dort jedes Jahr ein wunderschönes Sommerfest feiern und Neomi war die Hüterin dieses magischen Ortes. In der Bretagne gibt es viele dieser wunderschönen und magischen Orte, die uns Hexen heilig sind. Naja, wir müssen dorthin reisen, weil uns eine besondere Freundschaft mit Neomi verband. Sie war meine Mentorin und wechselte aus Gründen der Liebe in die benachbarte Hexennation."
Rasch griff Noremi in ihre Tasche. "Hier sind die magischen Broschen von Neomi, die eine ist die Kriegerbrosche aus Schneeflocken-Obsidian und die zweite ist etwas delikater. Es ist eine Brosche aus schwarzen Opal, die bei uns nur von Richterinnen getragen wird. Leider musst Du das Amt von Neomi früher übernehmen, als erwartet. Wir dachten, wir hätten noch einige Dekaden Zeit, aber die dusseligen Weltenlenker haben es wohl anders entschieden."
Mitten im Ankleiden hörte sie den nächsten Wortschwall. "So jetzt zu Deinen Reiseutensilien, hier ist ein magischer Schirm, den brauchst du nur kräftig auf den Boden zu drücken und schon gelangst du an jedes Ziel, das Du dem Schirm eingibst. Denke also an Plougastel und der Schirm trägt dich an den vorbestimmten Ort. In diesem Fall müssen wir jedoch zum Soldatenfriedhof, der etwas Abseits liegt. Die meisten Hexen enden auf Soldatenfriedhöfen als unbekannte Soldaten, was wir in gewisser weise ja auch sind. Denn wir kämpfen stets für die Hoffnung und das Gute auf dieser Welt. Dazu benötigst du noch dieses Abspielgerät, um ihr Lieblingslied bei ihrer magischen Übergangszeremonie abspielen zu können. Höre dir den Titel an. Er heißt caminando y cantando von Ana Belen (https://www.youtube.com/watch?v=3t_h-Zjqdfg). Es ist ein Antikriegslied und besingt die unnützen Opfer durch Terror. Ich gebe Dir ein Zeichen und dann sollte die Musik erklingen. Das Gerät passt sich automatisch den Anforderungen an. Halte genügend Taschentücher bereit und jetzt stecke die Broschen an und stecke Dir zweihundert schwarze Seidentaschentücher ein. Nein, nicht nötig, hier in diesem Beutel sind die Taschentücher. Nun höre die Musik und dann geht die Reise los." Beklommen folgte Trude dem Text, sie spürte die Emotionen und erinnerte sich nebenher an Ruben Sosa, die ähnliche Texte sang. Rasch war alles gerichtet. Noch einen Blick in den Spiegel und dann war sie innerlich für die weite Reise bereit.
Mit einem kräftigen Aufsetzen begann die Reise in die ferne Welt. Als sie nahe dem zentralen Trauerplatz von dem Soldatenfriedhof eintrafen sah sie die große Ansammlung an Schwestern, die allesamt angemessen gekleidet erschienen waren. Die kühle Anklage dieses Ortes traf Trude wie ein Schlag mit einem Schmiedehammer. Weiße Kreuze, zu vieler Gefallener reihten sich konzentrisch um den Trauerplatz. Losgelöst von dieser Erfahrung traten einige Hexenschwestern auf sie zu. Eine alte schlanke Hexe begrüßte sie und umarmte sie so, wie es in Frankreich üblich war und gab ihr auf jede Wange einen Kuss. "Ich bin Asja! Danke mein Kind - für deine Bereitschaft, Neomis schwere Pflichten zu übernehmen. Ich wurde unterrichtet, denn Du bist eine der wenigen Damen, die sich zur Kriegerin und Richterin eignen. Zuerst spielen wir ein emotionales Stück von Vangelis, es heißt: To the unknown man (https://www.youtube.com/watch?v=RiHAUEJ0EQw). Es ist eine Art Trauerhymne, die Neomi liebte. Danach halte ich eine Ansprache und im Anschluss spielst du das Abschiedslied für unsere liebe Schwester. Sei nicht von der Zeremonie überrascht, aber Hexen werde nicht in der Erde bestattet, sondern wir steigen als Wolke in den Himmel auf."
Die fremdartige Musik von Vangelis drückte die Stimmung sämtlicher Damen in Trauerkleidung. Es war eine Musik, die Trude nicht kannte und dennoch ihre Gefühle bewegte. Kurz darauf wurde eine unermesslich lange Rede von der Schwester Asja gehalten und irgendwie schienen es die Götter nicht gut mit ihnen zu meinen. Ein heftiger Sturm zog gerade jetzt auf und dunkle Wolken marschierten wie eine finstere Armee von Nordwesten her auf. Irgendwann bekam sie ihr Zeichen und Trude spielte den Song: Caminando y cantando ab. Der mit Runen und Blumen verzierte Sarg der Zwischen ihnen stand fing augenblicklich Feuer und silberner Rauch stieg trotz der schweren Regentropfen in den Himmel auf. Nebenher verteilte sie die seidenen Taschentücher. Rings um sie herum schlugen permanent Blitze ein, als sei es ein würdiges Fanal für die verstorbene Schwester, um Abschied zu nehmen. Als sich der Rauch verzogen hatte, verwandelten sich die Taschentücher in schwarze Schmetterlinge, die ebenfalls in den Himmel aufstiegen. Es blieb keine Zeit, um sich den differenten Eindrücken dieser Zeremonie länger als einem Atemzug hinzugeben, denn ein Hauch Magie traf sie gerade in diesem Moment.
Sie kannte die Antwort, die sie geben musste. "Ja, ich übernehme die Pflichten und werde Neomis Wirken würdig fortsetzen." Ein kurzer Blickkontakt mit Asja reichte, um ihre Antwort zu erhaschen. "Danke, junge Schwester, denn die Bürde wiegt schwer. Du musst uns von nun an gegen alle finsteren Einflüsse verteidigen und Schwestern aus brenzligen Situationen retten, die es aus eigener Kraft nicht mehr können. So wollen es die Gesetze unserer ehrwürdigen Schwesternschaft."
Gruppenweise verschwanden die Schwestern in ferne Regionen, bis Noremi ihr ein Zeichen gab. "Deine erste Pflicht ist erfüllt. Lerne fleißig, damit Du uns allen Kraft und Zuversicht schenkst. Besuche mich alsbald. Ich wohne in Carnac, nahe dem Hochzeitsstein, der eine besondere Magie besitzt. Ich werde Dich aber noch genauer über Zeit und Ort unterrichten." Mit nur einem festen Stoß des Schirms auf den Boden begann die Reise und ein Gedanke. "Welche Lieder werde ich spielen lassen, wenn meine Zeit gekommen ist?"