Die sentimentale Stimmung von Isolde bemerkte Trude sofort, als sie unvermittelt auf ihrem Sofa erschien. Mit einem sanften Blick sprach sie Isolde an. "Was bedrückt Dich Schwester. Ansonsten bist Du immer so heiter und ein echter Sonnenschein. Doch heute scheint Deine Seele irgendwie Schiffbruch erlitten zu haben. Magst Du mir erzählen, was Dich bedrückt?" Isolde schaute auf und entließ einige Tränen.
Es dauerte, bis sie ihre Fassung zurückgewonnen hatte. "Ja, aber wo soll ich anfangen. Du musst wissen, dass ich schon viele Schülerinnen hatte, damals vor 660 Jahren war es anders mit der Ausbildung, weil es ja überall Hexenprozesse gab. Du glaubst nicht, wie viele unserer Schwestern öffentlich verbrannt wurden, insbesondere die Novizinnen, die noch nicht so recht mit der Magie umgehen konnten. In den ersten Jahren mussten wir den Mädels erst einmal das Lesen und Schreiben beibringen, bevor wir mit der Ausbildung der Magie beginnen konnten. Ich reiste damals von Ort zu Ort als Kräuterfrau und so fand ich Karin ein aufgewecktes Mädchen. Sie hatte wunderbare blonde Haare und strahlend blaue Augen. Heute wäre ihr Geburtstag gewesen."
Isolde schniefte tief und wischte sich mit einem Taschentuch die Tränen aus dem Gesicht. "Sie war in vielen Bereichen talentiert, sie war immer ein Sonnenschein und glücklich wenn ich sie besuchte. Nach nur einem Jahr konnte sie halbwegs gut lesen und schon die ersten Buchstaben mit einem Bleier auf Papier bannen. Ihren Eltern erzählte ich immer, dass ich mit ihr Kräuter sammeln ginge und die Eltern bekamen dafür einige Kupfermünzen und Karin bald ein richtiges Kleid und vernünftige Schuhe. Du musst wissen, Mädchen zählten damals nichts. Sie mussten im Haushalt helfen, auf dem Acker arbeiten und eben die Hütte putzen und Wäsche waschen. Ihr Vater war Salzhändler und am Untergang von Runghold schuld, weil sie so einen schlimmen Raubbau an der Natur betrieben. Salz war damals so kostbar, wie Gold. Die Menschen brauchten damals viel Salz um das Fleisch und den gefangenen Fisch einzupökeln, damit es länger hielt. Nun gut, die Zeiten waren damals nicht so gut, denn überall lungerten Hexenjäger herum, denn für die Kirche war es ein einträgliches Geschäft, Frauen mit Geld oder Bildung auf Scheiterhaufen zu verbrennen."
Kurz dachte Isolde nach: "Inquisition nannte sich dieser Akt. Sicher, wir konnten die eine oder andere Frau retten und bei den Beginen unterbringen, aber leider gelang es nicht bei allen Mädels. Natürlich bläuten wir den jungen Damen ein, dass keiner wissen durfte, dass sie einzelne Buchstaben entziffern konnten oder sogar schreiben konnten. Aber manche Mädels vergaßen dieses leider ab und an und dann kamen schon die Häscher der Kirche. Waren sie erst einmal im Arrest, dann wurden sie schwer gefoltert, bis sie schließlich sagten, dass sie eine Hexe wären. Bei den meisten Frauen stimmte es natürlich nicht, aber was konnten wir tun, wir hätten erst alle Kleriker ersäufen müssen um die Mädels zu retten. Aber das durften wir ja nicht. Schade eigentlich!" Dieser Gedanke schien Isolde aufzuheitern. "Natürlich haben wir den einen oder anderen Frauenmörder zur Rechenschaft gezogen, immerhin grassierte ja auch die Pest, das Fleckfieber, die Ruhr und Cholera sowie andere Seuchen. Diese Krankheiten löschten ganze Landstriche aus. Na, was konnten wir schon tun, wenn wir zu spät kamen."
Ein Leuchten ergriff die Augen von Isolde. "Wollen wir Blumen pflücken und sie auf dem Grab von Karin niederlegen, das wäre wunderbar, dann wäre ich nicht so alleine mit meiner Trauer. Schließlich konnten wir sie aus den Fluten der großen Mandränke retten, aber ihre Gesundheit war danach angeschlagen. Wir brachten sie noch über das Frühjahr, aber am Sommeranfang schloss sie für immer die Augen. Herzmine sollte sie heilen, aber natürlich tat sie es nicht, das ist nur ein Grund, warum ich sie jetzt in die Wüste geschickt habe. Komm, lass uns gehen, ziehe dir aber Gummistiefel an. Wir werden mitten im Watt landen, in der Nähe von Runghold" Gemeinsam gingen sie in den Garten und stellten einen wunderschönen Blumenstrauß zusammen. Mit einem magischen Satz standen sie nun mitten im Watt in der Nähe vom Husum und Pellworm. Der Wind wehte munter und die salzige Luft umfing Trude sofort. Weit und breit waren keine Menschen zu sehen und nach einem kurzen Fußmarsch erreichten sie ein im Watt liegendes altes Tongefäß und daneben zwei große Steine, die mit Seepocken und Tang bewachsen waren. In der Ferne hörten sie nur ein schwaches Meeresrauschen und den Wind, der sanft über das Watt strich.
"Lass uns zunächst den Grabstein reinigen." Tränen strömten ihr dabei über das Gesicht. Mit einer Bürste befreite sie den Stein von allem was störte und mit einem Reinigungszauber vollendete sie ihr Werk. Aus ihrer Tasche entnahm sie eine Art Vase und stellte die Blumen dort hinein. "Du musst wissen, vor 94 Septen verstarb dieser kleine Engel, der mir so viel bedeutet hat. Ich war dabei, wie sie ihre Augen schloss und dann in die Welt der Menschen friedvoll zurückkehrte. Ach, hätte ich doch nur besser auf sie aufgepasst und sie gepflegt. Sie wäre eine so wunderbare Schwester geworden, die mit ihrer fröhlichen Ausstrahlung viel für uns hätte erreichen können. Herzmine jedoch meinte, sie sei nur eine dumme Göre. Offenbar war es ihr egal, dass sie viele Talente besaß und ein wirklich reines Herz besaß. Zu spät erfuhr ich von Herzmines Entscheidung und eilte in dieses so sehr gezeichnete Land. Nichts außer ihrer Kleidung war der kleinen geblieben und trotz allen strahlte sie jederzeit eine herzliche Liebe aus. Sie hatte ihre Eltern und alles Hab und Gut verloren und nur die Hoffnung und meine Liebe hielten sie am Leben. Doch ich musste damals für längere Zeit in verschiedene Städte reisen, um mit Asja und Ottilie einige unserer eingekerkerten Schwestern vor dem Klerus zu retten."
Trude legte ihre Hand auf die Schulter von Isolde. "Ich kann dir nachfühlen. Zu manchen Menschen fühlt man sich hingezogen und andere bedeuten einen halt weniger. Das Leben ist so und wir kleinen Geister können daran leider nicht viel ändern. Aber vielleicht findest du ja noch einmal so einen kleinen Engel und genießt mit ihr das Meeresrauschen. Vielleicht läuft dir schon morgen so ein kleiner Engel über den Weg und dann kannst du alles besser machen." Selbst Trude entließ nun einige Tränen, weil der Kummer von Isolde wirklich immens sein musste und sie sich eine Schuld am Ableben der kleinen Karin gab. Rasch erhob sich Isolde und sie sprangen zum nächsten Eiland. Sie landeten auf Sylt. In der Nähe sah sie eine klapprige Hütte, auf die Isolde zusteuerte. "Das ist meine Ferienvilla auf Sylt. Von außen macht es nicht viel her, aber für mich reicht es. Die Akademie am Meer hat mir diese Hütte zur Verfügung gestellt. Ihnen reicht es, wenn ich ab und an seltene Pflanzen vorbei bringe, damit Gäste diese wunderbaren Pflanzen malen können. Komm, lass uns eine Tee mit Hollersaft trinken, dann kannst du zurück nach Colmar und herzlichen Dank, dass Du Dir Zeit für mich genommen hast. Jedes Jahr um diese Zeit wird mein Herz schwach. Verzeih, aber auch wir Hexen müssen Kummer erdulden."
Die Große Mandränke war am 16 Januar 1362. Etwa 100 000 Menschen verloren damals ihr Leben binnen einer Nacht. Runghold war eine Stadt von etwa 1500 Einwohnern. Die Gier des Menschen sorgte aber dafür, dass ein riesiges Areal bei den Sturmfluten verloren ging. Sie bauten großflächig Salztorf ab und verkauften dieses Salz an der Küste bis Dänemark hoch. Durch die Kirchen und Steuerbücher ist bekannt, dass Runghold zu den profitabelsten Regionen an dieser Küste gehörten.