Seit langer Zeit gönnte sich Trude wieder einen Spaziergang durch die Dämmerung von Colmar. Der Tag war anstrengend gewesen, denn jeden Tag gab es zu viel zu lernen und zu wenig Zeit, um den Kopf frei zu bekommen, von den unzähligen Lerninhalten. Die Abendluft empfing sie mit einer angenehmen Milde und lastete nicht mehr so heiß auf ihr, wie zur Mittagszeit. Überall schwirrten Insekten über die Wiesen und das Gezwitscherter der Vögel ebbte in der Dämmerung zunehmend ab. Kleine Fledermäuse tanzten zwischen den Bäumen und jagten die Insekten. Sie beobachtete gerne die lautlosen Flieger, die stetig als dunkle Schatten an ihr vorbei glitten und kühne Flugmanöver vollführten, um ihre Beute zu fangen. Bei einem Bäcker kaufte sie noch frisches Brot, also nicht diese Baguettes sondern deutsches Vollkornbrot. In der Nähe kaufte sie im Vorbeigehen Käse und einige Scheiben Wurst.
In ihrem Kopf kreisten stetig die Gedanken. "Ich bin keine Muslima mehr und eine Hexe bin ich auch noch nicht. Oft zweifle ich an meiner Entscheidung, aber ich bin bisher auch nur ein kleines Wegstück in der Ausbildung vorangekommen. Sicherlich, ich lerne unvorstellbare Dinge, ich kann mittels meiner Gedanken reisen und Zauber bewirken. Aber - genauso weiß ich auch, dass noch eine lange Strecke vor mir liegt. Isolde und die vielen Schwestern sind freundliche Wesen, aber wo wird später mein Platz in der Gemeinschaft dieser Damen sein. Die Andeutung, dass sie mehr mit mir vorhaben, als geplant ist eine Bürde, die ich längst noch nicht tragen kann."
Der Weg führte sie nach dem Einkauf zurück zu der Villa, in der sie wohnte. Sie schlenderte zu ihrer ruhigen Ecke im Garten der Villa, wo sie oft saß und die Seele baumeln ließ. Zwei Kiefern und ein Haselnussstrauch rahmten diesen besonderen Platz ein. Eine Decke breitete sie aus und Geschirr ließ sie aus ihrem Zimmer heranschweben. Rasch fanden, die Teller, Messer, die Gläser und die Getränke ihren Platz. Mit Genuss verspeiste sie die Einkäufe, samt ein wenig Obst und gönnte sich danach einen Schluck Rouge und einen stillen Blick in den Himmel, der jetzt in der Dämmerung nur wenige keine Sterne erkennen ließ. Unbekümmert ließ sie den Sonnenuntergang auf sich wirken und erste Sterne sandten ihr Licht durch die Dunkelheit. Unbemerkt näherten sich Gertrude, Asja und Isolde, die offenbar dem Ruf von Trude gefolgt waren. Auch sie gönnten sich Decken als Unterlage und legten sich rings um Trude. Die Stille durchbrachen sie zuerst nicht, denn so ein kontemplatives Naturerlebnis gönnten auch sie sich nicht alle Tage.
Asja wagte nach längerer Zeit eine kurze Frage. "Bist du bereit für einen Sommernachtstraum, Trude?" Über ihre Gedanken gab die Novizin ihre Antwort, da sie die Stille nicht durch Worte vertreiben wollte. "Wenn ich wüsste, was es bedeutet - so ein Sommernachtstraum zu erleben? Vielleicht." Isolde gab mittels ihrer Gedanken die Antwort. "Trude, so ein begleiteter Sommernachtstraum ist eine wunderbare Gedankenreise in eine mögliche Zukunft. Du wirst Bilder - angefangen von deiner Jugend und weiteren Lebensstationen sehen. Der Traum zeichnet zuerst Deinen Lebensweg nach - um dann in Deine gedankliche Zukunft zu wandern. Dir stehen mit deinen Talenten unzählige Wege offen, das muss ich voran schicken. Letztlich liegt es jedoch an Dir, welchen Weg Du beschreiten möchtest. Einzig Deine Wünschen werden Dich leiten und Du wirst sicherlich schnell erkennen, wo möglicherweise Dein Platz in unserem Orden sein könnte. Ob es so kommt, kann Dir keiner meiner Schwestern mit Gewissheit sagen, aber uns würde es helfen, um deine Ausbildung ein wenig in die richtigen Bahnen zu lenken. Zudem soll es Dir zeigen, dass nicht wir Deine Zukunft bestimmen sondern einzig Du oder Dein Herz und Deine intimsten Wünsche."
Trude grübelte nicht lange. "Ja, wenn es euch und mir hilft, dann möchte ich so einen Traum erleben, um mir selbst sicher zu sein, in welche Richtung ich mich entwickeln möchte. Verzeiht, aber bei dem vielen Lernen gewann ich das Gefühl, dass ich meine Ziele möglicherweise verändern möchte." Gertrude rief ein magisches Himmelszelt über ihnen auf, um jegliche Geräusche von ihnen fern zu halten. Isolde wob fast unbemerkt ein silbernes Band um sie herum, damit keine andere Seele ihre Gedanken auffangen konnte. Sanft überkam Trude nach wenigen Atemzügen eine ungewohnte Müdigkeit und rasch ordneten sich dabei ihre Gedanken. Ein Einwirken von Magie spürte sie während dieser sanften Entspannungsphase nicht, denn der Tag hatte genug Energie gekostet, die jetzt offenbar fehlte.
Ohne Übergang glitt sie in ihre gemütliche Traumwelt. Zahllose Bilder aus der Kindheit tauchten auf und die teilweise unangenehme Schulzeit glitt schmerzlich an ihr vorbei, weil sie stets die Außenseiterin war. Von Traurigkeit erfasst durchlebte sie noch einmal den schmerzvollen Verlust ihrer Mutter. Nach einer kurzen Unterbrechung änderten sich die Eindrücke. Sie stand nun an einem Tor und blickte über ein weites Land. Wiesen, Wälder und kleine Dörfer waren vom Tor aus zu erblicken. Munter schritt sie auf einem nur vage erkennbaren Weg voran. Der Wunsch Medizin zu studieren war längst nicht mehr so dominant, wie noch vor Wochen. Mehr und mehr sah sich Trude als schlichte Heilerin, so wie sie es in dem Buch von Hildegard von Bingen gelesen hatte. Sie träumte von der Stärkung der Gemeinschaft, von Frauenrechten und einem Leben im Einklang mit der Natur. Sacht flackerten Sequenzen von verschiedenen Völkern auf. Zu sehen waren Inuit, Indianer, Frauen im Orient und Waldläufern aus Afrika und Naturvölkern aus fremdartigen Ländern, die sie nicht mal kannte. Aus dem Nebel der Gedanken erhoben sich reale Bilder alter Kulturen, die Trude gerne erforschen wollte, um daraus Rückschlüsse für die Gegenwart zu erlangen. Mehrfach tauchten auch Wünsche auf, die eine Ausbildung der Schwestern zu halbwegs tauglichen Kämpferinnen beinhalteten, die den Schutz der Schwesternschaft übernehmen und stärken sollten, um die Gemeinschaft von der Außenwelt abzukoppeln. Es folgten noch eine Reihe andere Gedankenbilder, die allesamt in diesem Kreis aus Wünschen ihren Platz fanden. Oft waren es Reisen und die Möglichkeit dieses alles genauer ergründen zu können. In einem Nebel aus unzähligen Gedanken sank sie schließlich in einen tiefen und erholsamen Schlaf.
Ohne Trude bei ihrem Sommernachtstraum zu stören unterhielt sich Asja mit Isolde und Gertrude mittels ihrer Gedanken. "Sie hat viele Wünsche und es ehrt Trude, dass sie diese Wünsche mit uns geteilt hat. Warum sollte sie nicht Archäologie studieren, Heilkunde erlernen und Kriegerin sein." Isolde stimmte als erste zu. "Sie ist ein kluges Mädel und für uns ist es wichtig eine starke Frau in unseren Reihen zu wissen. Ich habe keine Einwände gegen so eine Entwicklung, denn in Trude steckt so viel positive Kraft und Gutes." Gertrude schien noch in ihrer Gedankenwelt zu schweben. "Da ihr so offen seid, so möchte ich Trude nicht im Weg stehen. Ich sehe in ihr ebenfalls viel Potenzial, aber natürlich hätte ich mir anderes gewünscht, aber sie muss ihren Weg und Platz bei uns finden und soll ein glücklicher Mensch sein können, der gerne seine Gedanken mit uns teilt. Ihre Idee eine Armee aufzustellen, erscheint mir aber noch zu vage. Manche Schwestern könnten dabei auf den Gedanken kommen, dass sie möglicherweise an Macht interessiert sein könnte, was ich natürlich nicht denke. Zuerst sollten wir also ihre primären Wünsche verfolgen und die Zeit für Trude arbeiten lassen. Ich denke, wenn mehr Schwestern sie kennen, dann kann sie auch dieses Projekt verfolgen, um die Gemeinschaft zu stärken."
Asja erhob sich lautlos. "Ich denke, wir wissen nun was zu tun ist. Aber zuerst muss sie ihre Ausbildung in unserer Gemeinschaft beenden. Das ist der erste Schritt und alles andere wird sich durch Trudes innere Stärke und ihre Wünsche schon finden. Natürlich werde ich mich mit einigen meiner Schwestern unterhalten, denn die erste Idee einer kleiner Gruppe von umsichtigen und kämpferischen Hexen wird bei meinen Schwestern sicher nicht auf Ablehnung stoßen. Schließlich wächst bei uns gerade eine nicht zu unterschätzende Bedrohung heran. Vergesst bitte auch nicht, die Schwestern aus anderen magischen Reichen, die noch deutlich mehr zu leiden haben als wir." Danach entschwand Asja ohne das Himmelszelt zu tangieren oder auch nur eine minimalste Störung hervorzurufen. Isolde grübelte noch, denn Trudes Veranlagungen und Wünsche waren relativ leicht in Einklang zu bringen. Es gab bisher keine Dissonanzen. Andererseits gab es schon immer nörgelnde und neidische Schwestern, die irgendwann aufgehört hatten sich mit Leib und Seele in die Schwesternschaft einzubringen. Gab es von der Seite eine Bedrohung? Das mit den Magiern und Druiden war ein schwelendes Feuer, welches bisher nur wenigen Schwestern bekannt war.