Für Trude wurde es ernst. Nur noch zwei weniger aufwendige Prüfungen und dann war diese Tortur des Lernens endlich überstanden. Zwischen Büchern sitzend lernte sie noch das Rechtssystem der Schwesternschaft und die Auflistung sämtlicher Staaten und Verträge mit anderen Völkern der Hexen Schwesternschaften. Also mit befreundeten Schwesternschaften, neutralen Ländern und Schwesternschaften, die sich im Laufe der Zeit als eher feindlich gesinnte Organisationen erwiesen hatten. Dazu kommen noch die Staatsverträge mit allen menschlichen Staaten und jedweden Organisationen, die im Gefüge der Macht eine mäßige oder größere Rolle spielen. Dazu noch die Liste mit wichtigen Sponsoren und wichtigen Persönlichkeiten, die der Schwesternschaft wohlgesonnen gegenüber stehen. Mitten in diese Trübsal platze Isolde, die offenkundig bester Laune war.
"Kindchen, warum bist du so still in letzter Zeit? Hast Du Dich etwa heimlich in ein Luftschloss zurückgezogen?" Des Grinsen der Schwester ließ Trude nur mit dem Kopf schütteln. "Bei allen Göttern! Liebe Isolde, ich glaube Du lebst in einem Luftschloss aus Seifenblasen. Ich muss lernen, damit ich euch nicht enttäusche und dieser trockene Scheiß ist echt eine Last. Das mit den Gesetzen ist nicht so wild, aber diese seltsamen Verträge, die an keiner Stelle greifbar sind, die rauben mir den letzten Nerv. Verzeih, dass ich mich ein wenig zurückgezogen habe. Ich bin nur eine kleine Seele, die mit allen Schwierigkeiten oder nenne es Höhen und Tiefen des Lebens zurecht kommen muss." Trude stand auf und ordnete rasch die Papiere auf ihrem Schreibtisch und griff noch die Tasse mit lauwarmen Tee. "Zudem hatte ich eine schwierige Entscheidung zu treffen. Ich habe die Hochzeit meiner Schwester nicht besucht, weil mich inzwischen alle in der Familie als spinnerte Person betrachten. Ich kann ihnen ja nicht offen erklären, dass ich hier eine sehr spezielle Ausbildung absolviere. Sie können nicht einmal verstehen, dass ich keine Muslima mehr bin und sie so selten besuche. Verzeih, das belastet mich." Isolde setzte ihr charmantes Lächeln auf. "Trude, Freunde kann man sich aussuchen, aber die Familie nicht. Wenn Du es wünscht, dann rede ich mal mit Deiner Familie? Früher hat so was bestens funktioniert. Zudem ein wenig Magie wird ihnen helfen, diese geringfügigen Veränderungen leichten Herzens zu akzeptieren. "
Trude schüttelte energisch den Kopf. "Nein, sie würden es nicht verstehen und dabei dachten sie immer, ich sei ihre zuverlässige kleine Tochter, die brav allen Regeln der Familie folgt. Nun führe ich ein selbstbestimmtes Leben und trage bald ein Jerusalem Kreuz. Das wird meiner Familie mit Sicherheit nicht gefallen. Bedenke, Muslime denken oft noch in Kategorien, wie vor zweitausend Jahren." Isolde machte eine wegwischende Handbewegung. "Papperlapapp, ich weiß was dich belastet. Es ist der Verlust Deiner Freundin. Hieß sie nicht Pauline? Ja, wir Menschen und Hexen leben immer mit Gefühlen und jeder Verlust kratzt an unserer Seele. Du wolltest der Katze helfen, aber Deine Magie reichte nicht, um die Katze am Leben zu halten. Dein Kummer wurde uns allen von Dir übergeben, aber so ist die Natur. Du kannst gewisse Dinge heilen, Hexen genesen lassen, aber bei nichtmagischen Geschöpfen versagen unsere Kräfte - leider. So ist es und so bleibt es. Diesen grundlegenden Vertrag wirst du nicht zwischen den Papieren finden. Der Vertrag mit dem Schöpfer und unserer Seele wirst Du erst abschließen, wenn Du die Prüfung hinter dich gebracht hast und zur ausgebildeten Hexe ernannt wurdest."
Kurz schwieg Isolde. "Unser Herz ist unsere stärkste Waffe. Dennoch müssen wir nicht selten auf unser Herz acht geben. Manche Emotionen und Erlebnisse können so stark sein, dass sie unsere Seelen und Herzen in tausend kleinste Fragmente zerlegen. Unser Verstand sagt uns immer wieder, dass wir stark sein müssen, dass wir helfen sollen, aber nicht alle Schwestern verkraften diese kummervollen Situationen auf Dauer. Werden sie erst einmal von der Agonie heimgesucht, dann kann es sein, dass wir sie verlieren, also in magischer und physischer Hinsicht. Manche von ihnen können wir retten, aber es gelingt uns leider nicht immer. Viele von ihnen enden dann als gebrochene Seelen im Bell Air Hospital. Wir haben diese Klinik in Kalifornien aufgebaut, um diesen armen Seelen zumindest eine wunderbare Heimat geben zu können, wenn ihre Seelen bei ihrer Arbeit verwundet wurden."
Dezent flocht Isolde eine gut gesetzte Pause ein. "Bei Dir haben wir diese Befürchtungen nicht. Denn Du bist weder aus Zucker noch wurde Deine Seele auf Sand gebaut. Du hast schon mehr Leid gesehen als hunderte andere Schwestern. Du hast gelernt zu verstehen, dass das Leben keine Poesie oder eine rosafarbene Seifenblase ist, sondern eben auch aus Gewalt, aus Leid und Ungerechtigkeit besteht. Wir haben Dich sorgsam ausgewählt, weil Du weder aus Watte bestehst noch eine Traumtänzerin bist, die einzig ihren Emotionen folgt. Das ist die Wahrheit. Es fällt mir schwer dieses zu sagen, aber viele der einfachen Schwestern schaffen nicht den Spagat zwischen der Realität und dem seelischen Ausgleich. Also vergesse diese trübsinnigen Prüfungen und lerne behutsam zu leben und auch vom Kelch des Glücks zu kosten. Würze Dein Leben mit Abenteuern und mit unvorstellbaren Eindrücken, die Dich durch das Leben tragen. Nein, das sind keine Luftschlösser - sondern der essenzielle Zauber, der uns Hexen umgibt. Ich war an den Niagarafällen, ich war in Japan zum Kirschblütenfest und auch in Manizales auf dem größten Musikfest der Welt. Ich habe mir vor Jahrzehnten einen Ausflug an den Südpol gegönnt und ich habe einige Monate bei einem Schamanen in Australien verbracht. Das sind die Wunder, die nur wir erleben können, weil wir Raum und Zeit mittels unserer Magie aus dem Weg gehen können. Das sind die Träume, die uns die Kraft für unser Schaffen geben, um all das Leid dieser Erde zu ertragen. Nur durch dieses Elixier der positiven Erfahrungen konnte ich die vielen Krisen in meinem Leben meistern."
Trude schaute nur kurz auf. "Ich könnte also nach Mekka reisen, das Taj Mahal besuchen oder die Wandersteine im Death Valley über längere Zeit betrachten?" "Ja, mein Kind, denn dadurch werden wir erst zu Frauen mit fast unerschütterlichen Seelen, die nicht in Luftschlössern oder Träumen leben. Verstehe diesen uralten Vertrag als ein Geben und Nehmen. Wir bekommen für unser positives Wirken Wünsche erfüllt, von denen andere Menschen nur träumen können. Dafür müssen wir aber auch den Dreck der Welt ertragen, der jeden Tag neu entsteht. Also Kopf hoch und schaue in Deine Zukunft. Dann werden aus diesen fragilen Luftschlössern in unseren Gedanken tatsächlich reale Gebäude oder Welten, die selbst schwerste Erschütterungen überstehen. Vergesse zu keiner Zeit, dass es unsere oberste Pflicht ist, die Seelen zu retten. Vergesse nie, dass unsere Arbeit oft die tiefsten Abgründe der Menschen zeigt. Und denke immer daran, jeden Tag kann Dir bösester Kummer begegnen, den Du Dir nicht einmal in Deinen schlimmsten Träumen vorstellen könntest. So ist es und so wird es wohl auch bleiben."