Zweifelnd umrundete Trude den Schreibtisch in ihrem großzügig und kostbar eingerichtetem Zimmer. Sie grübelte über eine moralische Frage, die sie tief bewegte. "Wir sollen allen Menschen mit offener Hilfsbereitschaft begegnen und immer dort helfen, wo Hilfe von Nöten ist. Aber nur wenige Zeilen weiter stand eindeutig, dass wir nur Menschen helfen sollen, die der Mühe wert sind und ein reines Herz in ihrer Brust tragen." Dieser offensichtliche Widerspruch marterte ihr Hirn und bewegte sie zu eingehenden Überlegungen, die mehr als eine Grübelei waren, sondern auch den Verstand und das Herz bewegten. "Wie erkenne ich einen Menschen, der wirklich Hilfe bedarf und reinen Herzens ist." Unbewusst hatte sie sie damit einen Besuch von ihren Lehrerinnen eingefordert.
Mehr als sie es hörte, spürte sie plötzlich die Aura von Isolde und Gertrude, die wie zwei Hühner auf ihrem Sofa auftauchten. Freundlich und offen blickten sie zu Trude, die immer noch in ihren Gedanken verfangen schien. Dezent machte Gertrude mittels eines sanften Aufruf auf ihren Anwesenheit aufmerksam. "Ja, jede von uns noblen Damen steckt ab und an in einer moralischen Zwickmühle. Wir haben einen Eid geleistet, jedem Menschen offen zu begegnen und ihm zu helfen, wenn dies erforderlich ist. Aber bedenke in diesem Zusammenhang bitte auch, die anderen Ordensregeln. Was passiert beispielsweise mit unserem Orden, wenn man uns als Hexen in der Öffentlichkeit entdeckt. Dadurch könnten wir nicht länger bedürftigen Menschen helfen, die wirklich Hilfe benötigen. Wäge sorgsam zwischen den Alternativen ab. Also nicht mehr helfen zu könnten, weil plötzlich der Orden im Rampenlicht der Presse und anderer Medien stehen würde? Oder - eben vielen Menschen zu helfen und in Ruhe arbeiten zu können. So habe ich es mit meinem Gewissen in Einklang gebracht. Aber - letztendlich muss jede Schwester ihren eigenen moralischen Weg finden und gehen."
Isolde setzte nach, aber auf eine dezentere Art. "Wir als deine Schwestern sollen Dir jederzeit mit Rat und Tat zur Seite stehen. Also in allen Fällen, wenn Du Kummer hast oder Probleme mit dem Lernstoff Dich drücken. Genau das machen wir jetzt und ich denke, ich kenne einen geeigneten Weg, um diesen scheinbaren Widerspruch zu klären. Zudem ist es in diesem Zimmer viel zu eng und stickig. Lasse uns einen Sparziergang in die Stadt unternehmen. Dort kenne ich ein formidables Eiscafé, mit wunderbaren Köstlichkeiten. Bei einem leckeren Eis und insbesondere bei der Beobachtung der Menschen geht Dir vielleicht ein Licht auf, wie du diesen Widerspruch für Dich klären oder doch zumindest ein Stück weit abmildern kannst. Lass uns gleich einen Spaziergang machen, um dieses Mysterium auf dem Grund zu gehen." Energisch zog Isolde ihre Augenbrauen hoch. "Schiebe die tristen Gedanken zunächst für einen Moment beiseite und schnappe Dir eine Jacke."
Der Spaziergang tat allen drei Damen gut. Frische Luft und ein wenig Bewegung im Sonnenschein lockerten die Anspannung bei Trude und Gertrude. Es schien so, als wüsste Isolde genau was in diesem Moment zu tun war. Trude erfreute sich an der reichen Architektur, die sich im Laufe vieler Jahrhunderte in dem Ort angesammelt hatte. Überraschend blieb Isolde an einen Torbogen stehen. "Hier habe ich vor über neunhundert Jahren unterrichtet und natürlich folgten wir dem Aufruf zum Kreuzzug in das Heilige Land. Damals war unser Motto: Wir helfen allen Verwundeten und vom Krieg betroffenen Menschen, die Hilfe erbitten oder dringend Hilfe benötigen. Mit sechsundzwanzig Schwestern nahmen wir die gefahrvolle Reise auf uns und wir sahen manches Gemetzel auf dem Weg nach Jerusalem. Ich behandelte Ungläubige, Christen, Juden, Muslime und sogar Gotteslästerer. Für mich war es nie vergebene Liebesmühe, denn ich sah die Fragen in den Herzen der Menschen. Viele waren in den Krieg gezogen, weil sie etwas positives bewirken wollten und von ihren Anführern enttäuscht wurden. Sie litten, weil sie Worten von Priestern, Gelehrten oder Adeligen glaubten. Ich sah immer wieder, dass kein Hass in den Herzen der Männer wohnte. Den wahren Grund des Kreuzzuges kannten die meisten jungen Burschen ja nicht einmal. Damals wurden wir gesegnet und als offizielle Heilerinnen von Gottfried von Bouillon anerkannt und selbst der Papst und seine Nachfolger bedienten sich über Jahrhunderte unserer nützlichen Dienste. Und Trude, bedenke, wir sahen Dinge, die Du Dir nicht vorstellen kannst, weil sie so schrecklich waren. Damit meine ich Grausamkeiten, die es heute kaum mehr gibt."
Ein paar Schritte weiter erreichten sie das Eiscafé. Rasch ergatterten sie einen Tisch und ließen sich nieder. Jetzt ergriff Gertrude das Wort. "Beobachte die Menschen und sage uns, welche Menschen reinen Herzens sind. Erkläre warum Du einen als guten Menschen und einen anderen als weniger guten Menschen beschreiben würdest. Das ermöglicht Dir vielleicht einen ersten Schritt zum Verständnis. Isolde bestellt inzwischen das Eis und den Kaffee." Es dauerte und alle hatten ihren Kaffee und eine wunderbar duftende Eisspeise vor sich stehen. Isolde beglich sofort die Rechnung und steckte der jungen Frau ein gediegenes Trinkgeld von fünfzig Euro zu.
Sofort fragte sie Trude. "Erkennst Du den Sinn für das üppige Trinkgeld?" "Ja, die Frau und ihr Kind wurde von ihrem Mann sitzen gelassen und sie muss hier arbeiten, um ihre kleine Familie über Wasser zu halten. Natürlich erkannte ich nebenher ihr angespanntes Nervenkostüm, denn sie möchte ihrer Tochter eine schöne Puppe kaufen und Kleidung braucht ihre Josefine auch." Isolde und Gertrude nickten. "Dieser Frau haben wir einfach so eine Freude bereitet, weil wir ihre kleine Not erkannten. Was sind fünfzig Euro, um einer Seele Ruhe zu schenken. Die Frau hatte es nicht leicht und mit so einer Kleinigkeit, die unauffällig erscheint, können wir im Verborgenen helfen - ohne bemerkt zu werden. Auf ihrem Konto wird zudem in den nächsten Tagen eine Fehlbuchung eingehen, die fünfhundert Euro umfasst. Die Summe hat sie angeblich in einem Preisausschreiben gewonnen. Immerhin schickt sie genügend Karten an Verlage, da wird sie sich sicher nicht mehr an jedes Kreuzworträtsel erinnern."
Isolde deutete zügig auf den Eisverkauf, an dem sich fünf Kinder drängelten. "Achte darauf, was passieren wird." Es dauerte nicht lange und einem Kind fiel die Eiskugel aus der Waffeltüte. Trude wollte schon eingreifen. "Das passiert Trude und das Kind lernt dadurch, dass es besser auf seine Umwelt und die geliebte Eiskugel aufpassen muss. Lernt es diese Lektion nicht, dann sieht ihre Zukunft nicht so rosig aus. Kleine Missgeschicke sind kein Grund für uns einzugreifen. Nun achte auf den smarten jungen Mann im Anzug, der gerade in seinen Porsche steigt. Er wird diese Stunde nicht überleben, denn so betrunken, wie er Auto fährt, handelt er fahrlässig. Seine Seele hat er schon längst über Bord geworfen, um mit einer miesen Masche anderen Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Das Wort Reue kennt er nicht und er denkt, dass alle anderen Menschen nur Dreck seien. Natürlich könnten wir auch in diesem Fall eingreifen, aber würde sich der Charakter von dem Mann dadurch verbessern?"
Gertrude stupste Trude nun an. "Rasch, achte jetzt auf den Penner oben an der Kreuzung. Sie deutete mit ihrem Arm dezent in eine Richtung. Der Mann ist verzweifelt und überlegt, ob er sich das Leben nehmen soll. Ja, er ist ein Kleinkrimineller, der Drogensüchtig ist, aber er hat ein reines Herz und er erbittet Hilfe. Also helfe ihm!" Verdutzt sah Trude zu Gertrude. "Ja, er hat ein gutes Herz, aber was kann ich tun?" Isolde sprang Gertrude zur Seite: "Lotse ihn hierher, den Rest übernehme ich. Ich werde ihn von seiner Drogensucht befreien und ihm einen Weg in eine nützliche Zukunft öffnen. Ansonsten wird er von dem betrunkenen Porschefahrer in wenigen Sekunden platt gefahren." Trude konzentrierte sich und lenkte die Schritte des Mannes zu ihnen. Genau in diesem Moment raste der Porsche bei Rot über die Ampel und donnerte mit viel Lärm in eine Hauswand. Eben hatte dort noch der kranke Mann gestanden. Erschrocken blickte der Mann auf und kratzte sich verlegen am Kinn. Sie lasen die Gedanken des Mannes und jetzt erfuhr Trude, dass der Mann Gott dankte. "Danke lieber Gott! Von nun an möchte ich was nützliches tun. Darauf mein Ehrenwort." Träge latschte der Mann in seiner abgerissenen Kleidung auf sie zu. Als er in der Nähe ihres Tisches stand reichte ihm Isolde einen Geldschein und eine Visitenkarte. "Gehe zu dem Kloster, ich denke, dort wird man dich bereitwillig aufnehmen und dir einen Weg weisen. Nur dort kannst du dich von deiner Vergangenheit befreien." Mehr war es nicht, als ein paar kurze Worte.
Gertrude ergriff das Wort. "Das war keine vergebene Liebesmüh. Der junge Mann wird geläutert und ein Studium zum Sozialpädagogen aufnehmen. Er wird in Zukunft Drogensüchtigen helfen einen Neubeginn zu versuchen. Das ist mit unseren Regeln gemeint. Wir dienen der Allgemeinheit, führen Menschen auf den richtigen Weg oder stehen ihnen in ihrer tiefsten Not bei. Damit haben wir keine Ordensregel verletzt, Du kannst heute Abend beruhigt in dein Bett steigen und Du hast durch einen kleinen Eingriff geholfen, wo Hilfe erforderlich war. Mehr gibt es zu diesem scheinbaren Widerspruch in unserem Regelwerk nicht zu sagen, denn es wird stets Deine Entscheidung bleiben, welcher Seele Du hilfst und wo keine Hilfe mehr fruchtet. Zudem solltest Du lernen, dass man nicht jede Seele retten kann. Diese Zweifel werden Dich dein Leben lang begleiten, egal wie lange Du in unserem Kreis wirkst. Mehr ist es nicht. Zudem können Worte niemals das beschreiben, was unser Herz uns erlaubt."