CN: Trauma, Alkohol (erwähnt)
"Junge, willst du mich verarschen?!"
Es war nun schon das vierte Mal, dass Bates ihm diese Frage stellte. Und zum vierten Mal beteuerte Cian ihm, dass der Mann in dem Verhörraum nicht der Täter war. Zumindest kein durchtriebener Psychopath, wie Bates überzeugt zu sein schien.
"Der Kerl ist traumatisiert. Er steht unter Schock, ist dissoziiert. Dieser Zustand ist ganz typisch für Zeugen von Gewaltverbrechen. Lassen Sie mich mit ihm reden, dann kann ich herausfinden, was genau geschehen ist."
Der Captain war nicht überzeugt, Cian konnte es ganz deutlich sehen. Doch er wagte es auch nicht, an der Kompetenz des Kriminalpsychologen zu zweifeln, dazu hatte er schon zu oft gesehen, wie Cian mit seinen Deduktionen und Verhörtechniken zu bahnbrechenden Durchbrüchen in scheinbaren Sackgassen verholfen hatte.
Doch gerade, als Bates seinen Inspector von dem Verhör abziehen wollte, sagte dieser irgendetwas zu dem Verdächtigen. Was, konnten sie nicht verstehen, da die Lautsprecher, die den Ton übertrugen, noch ausgeschaltet waren. In Sekundenschnelle veränderte sich die gesamte Körperhaltung des Mannes. Vorab noch schlaff und in sich zusammengsunken, schien er nun unter Höchstspannung. Mit weit aufgerissenen Augen und umsichschlagend, sprang der Verdächtige auf. Er lief im Kreis, scheinbar panisch kreischend, die Zähne bleckend, spuckend, sich hinkauernd, wieder aufspringend. Der Inspector flüchtete verstört aus dem Raum.
"Glückwunsch, Bates. Ihr Inspector hat meinen Patienten soeben in eine psychische Krise befördert."
"Mein Gott, Cian! Was ist mit dem Mann?"
"Flashback. Traumatisiert, sag ich ja."
Ohne ein weiteres Wort marschierte der Kriminalpsychologe in den angrenzenden Raum und schloss leise die Tür. Er dimmte das grelle Licht, bis es nur noch angenehm orange glimmte, um die sowieso schon überreizten Sinne seines Patienten nicht noch weiter zu überlasten.
Cian blieb mit größt möglichem Abstand von dem anderen Mann entfernt stehen. Dieser hatte begonnen, vor sich hin murmelnd mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen und mit den Fingern seine Unterarme blutig zu kratzen.
"Hi, Sir", zufrieden registrierte Cian, wie der Mann sich ihm erschrocken zuwandte und sein desorganisiertes Verhalten einstellte.
"Mein Name ist Dr. Finnigan, ich bin Psychologe und hier, um Ihnen beizustehen. Sie sind hier sicher und ich bin für Sie da."
Tränen traten dem Mann in die Augen und er nickte. Langsam glitt er an der Wand hinunter und setzte sich auf den Fußboden. Cian trat näher und setzte sich mit einigem Abstand neben ihn.
"Wie heißen Sie?
"Ian ..."
"Ok, Ian. Ich möchte, dass Sie sich entspannen. Sehen Sie sich im Raum um und nennen Sie mir drei Dinge, die Sie sehen."
Ians Blick huschte unstet durch den Verhörraum, noch immer ging sein Atem schnell und unregelmäßig, Tränen rannen ihm die Wangen hinab und er zitterte.
"D-das orange Licht ... der T-tisch ...der Dreck a-a-a ..."
"Shhh! Schon gut, nur weiter."
"Der Dreck auf dem Boden."
Cian gab ein zustimmendes Brummen von sich. Mit einem leisen Ächzen streckte er sein linkes Bein lang aus, das andere zog er angewinkelt weiter an den Körper und legte seinen Arm darauf ab.
"Nun, Ian, möchte ich, dass Sie mir zwei Dinge nennen, die Sie riechen."
Skeptisch sah der Mann ihn an, doch Cian stellte zufrieden fest, dass die Atmung seines Patienten bereits beinahe normal ging und auch die blauen Augen seines Gegenübers wirkten nicht mehr so panisch. Aufmunternd nickte Cian ihm zu,
"Ich rieche Senf", sagte Ian, mit einem Zucken bewegte sich seine rechte Hand zu einem gelb-orangen Fleck aus einem Senf-Ketchupgemisch auf seinem Strickpulli. Eine unbewusste Geste.
"Und ich rieche Ihre Alkoholfahne."
"Haha, sehr witzig", äußerte sich Cian sarkastisch.
Auf Ians Gesicht zeigte sich ein zittriges Grinsen. Sehr gut.
"Und jetzt eine Sache, die Sie schmecken."
"Das Salz meiner Tränen."
Nun wieder ernst ließ der Verdächtige seinen Kopf sinken, Schamesröte überzog seine Wangen.
Vorsichtig, mit langsamen Bewegungen, um Ian nicht zu verschrecken, legte Cian ihm eine Hand auf die Schulter und lächelte ihn mit einem Zahnpastawerbunglächeln an.
"Es ist ganz normal so auf eine Ausnahmesituation zu reagieren. Sie haben etwas sehr Belastendes erlebt. Dafür brauchen Sie sich nicht zu schämen."
"S-sie glauben also nicht, wie diese Polizisten, dass ich es gewesen bin?"
Der Kriminalpsychologe räusperte sich und blickte mit seinen schokoladenbraunen Augen, von denen er wusste, dass sie Vertrauen suggerierten, in die des anderen Mannes.
"Ich, Ian, denke, dass Sie mir sagen können, was in dieser Gasse am Trinity College geschehen ist. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie erzählen und ich höre zu. Mehr nicht. Ich werde nicht urteilen und nicht werten."
Ian nickte. Cian gab Bates über den semi-durchlässigen Spiegel unauffällig ein Zeichen, dass dieser die Kameras und den Ton laufen lassen sollte. Ian begann zu berichten.