CN: Trauma (impliziert), Dissoziation, (Drogen und/oder)Alkoholrausch (erwähnt), Blut (erwähnt), Häusliche Gewalt (impliziert)
Im Affenzahn sprintete der Kriminalpsychologe die Treppe hinauf, die Flure entlang, hinaus auf die Straße. Schwer atmend sah er sich suchend um, um dann festzustellen, dass er keinen Schimmer hatte, wie er überhaupt zu diesem Laden gelangen sollte, den Fab beschrieben hatte.
Partner an seiner Seite hechelte verstört, schien der Hund doch nicht zu begreifen, warum sein Herrchen beschlossen hatte, völlig aus dem Konzept gerissen, überhastet die vertraute Umgebung zu verlassen, um dann wie festgefroren blöd glotzend auf dem Bürgersteig zu stehen und Passanten als Slalomhindernis zu dienen.
Was tat man, wenn man verzweifelte und nicht wusste, wo hinten oder vorn war?
"Cian?", schallte es aus seinem Smartphone und der Hüne seufzte erleichtert, dass sie tatsächlich abgehoben hatte.
"Hi", brachte er nur heraus.
Zugegeben, in diesem Tempo wäre er übermorgen noch nicht soweit, ihr zu erklären, was der Hauptgrund für seinen Anruf war, aber schon ihre Stimme zu hören, dabei die Augen zu schließen, war Balsam für seinen aufgewühlten Verstand. Das schmerzhafte Pochen hinter seinem linken Auge nahm etwas ab und endlich hörte auch die Umgebung um ihn herum auf, mit ihm Karusell zu fahren. Gern hätte er Eddy gebeten, einfach weiter zu reden, damit er ihrer leicht rauen Stimme mit dem so wunderschönen wie hier ungewohnten britischen Akzent lauschen konnte. Er wollte sie Worte sagen lassen, die keinen Sinn ergaben - die dümmsten Geheimcodes, die der MI5, BND, oder KGB, die CIS oder der FBI und wie sie alle hießen entwickelt hatten - nur, um einige Herzschläge länger die Gewissheit zu haben, dass sie blieb und er das Privileg genießen durfte, ihr zuhören zu dürfen. Und ja, Scheiße, ja, er wusste, dass das hoffnungslos kitschig klang, richtig schmalzig, aber er wollte verdammt sein, wenn er es vorzöge, einen auf unnahbar zu tun, um seine beinharte Männlichkeit zu wahren.
"Cian?", drang wieder Eddys Stimme an sein Ohr, erinnerte ihn nun daran, dass er seit geraumer Zeit dümmlich lächelnd einem Laternenmast schöne Augen machte.
"Mhm?"
"Wolltest du etwas Bestimmtes?"
Hatte er etwas ...? Erschrocken riss Cian die Augenbrauen in die Höhe.
"Kannst du mich fahren?", stieß er hastig aus, "ich brauche dringend deine Hilfe."
Eine Stunde und ein paar zerquetschte Minuten später hielten sie mit quietschenden Reifen vor einem Laden an den Docks.
Wie Fab hier her gelangt war, wusste Cian nicht, vielleicht würde er es nie erfahren. Das käme auf den kleinen Nerd an und den Zustand, in dem sie ihn antreffen würden. Der Kriminalpsychologe rechnete mit dem Schlimmsten.
Hier drängten sich Restaurants an fragwürdige Etablissements und Angebote im großen Stil, wie dies Hüpfburgenparadies. Wie sich dieser Laden hierher verirrt hatte? Cian hatte keine Ahnung und er wollte es auch gar nicht wissen. Vermutlich war das Ding auch ein einziger Drogenumschlagsplatz, lediglich Fassade, um vordergründig einen unschuldigen Eindruck zu erwecken. Ironisch schnaubend stieg Cian aus dem Porsche und bedeutete Eddy, im Auto zu warten. Er wollte zunächst allein mit Fab reden.
Im Inneren des Ladens roch es penetrant nach Zuckerwatte, schwitzigen Socken und Gummi. Eine Mischung, die bei Cian direkt spontan Brechreiz verursachte und doch zwang er sich, weiter hinein zu treten, sich umgehend jeden Winkel erfassend nach seinem Freund Ausschau zu halten. Einige Kinder wuselten zwischen den aufgeblasenen Attraktionen umher, mit staunenden Augen deuteten sie auf farbenfrohe Schlösser oder den aufgerissenen Mund eines überdimensionierten Clowns, in den man hineinklettern konnte. Irgendwie hoffte Cian inständig, dass es zu diesen Kindern hier irgendwo die passenden Eltern gab. Endlich erspähte der Kriminalpsychologe eine dralle Blondine in einem knallig roten T-Shirt mit gelber Aufschrift und passender Baseballkappe. Mit unterdrückter Hast trat Cian ihr freundlich lächelnd in den Weg, um sie anzusprechen.
"Verzeihen Sie", begann er zögernd, "Sie haben nicht zufällig einen jungen Mann gesehen? Schwarze Haare, blaue Augen, etwa meine Brusthöhe und schmal gebaut? Vielleicht wirkt er unsicher oder desorientiert?"
"Oh, der gehört zu Ihnen?", kam die prompte Antwort, bewirkte eine Mischung aus Erleichterung darüber, dass Fab tatsächlich hier war und Besorgnis über den Tonfall der jungen Dame bei Cian.
"Ja, der steht schon seit einer ganzen Weile dahinten bei den Konfetti-Kanonen ängstlich in der Ecke rum. Eigentlich wollte ich die Polizei rufen, aber der tut ja keinem was, wollte nur mal telefonieren. Ich schätze, er hat Sie angerufen?"
Mechanisch nickte Cian bei dieser Frage, ließ sich anschließend die grobe Richtung zeigen, um dann endlich zu seinem Freund zu gelangen.
Er bog um eine Hüpfburg, die in die Form eines gigantischen, freundlich dreinblickenden Krokodils gepresst war und erblickte dann ein offenes Feld, das von mehreren kleinen sich gegenüberliegenden Schusskonstruktionen gesäumt wurde, an dem Kinder laut lachend dabei waren, sich mit in allen Farben des Regenbogens gehaltene Papierschnipsel um die Ohren zu pfeffern.
Gedrungen in eine Ecke an die Wand gelehnt, die Arme um seinen schlotternden Körper gepresst, fand Cian schließlich Fab. Verschwitzt, sichtlich verwirrt und von oben bis unten mit Konfetti besprenkelt. Warum nur trug der kleine Nerd keine Schuhe an seinen blutenden Füßen?
"Fab?", sprach der Kriminalpsychologe den jungen Mann vorsichtig an.
Den Blick stur gen Boden gerichtet, ruckte Fab urplötzlich mit dem gesamten Körper nach vorn und warf sich Cian in die Arme.
"Es tut mir so leid", nuschelte er gegen die breite Brust, an die er sich presste.
Und Cian hielt seinen Freund, sprach leise auf ihn ein, strich beruhigend über den bebenden Körper. Erst, als Fab sich etwas beruhigt hatte, lotste der große Mann ihn langsam hinaus, stützte ihn, denn der Analyst wirkte so unglaublich zerbrechlich und unsicher auf den Beinen.
Draußen blieb Fab dann wie angewurzelt stehen. Seine rotgeäderten Augen ruhten auf dem Porsche - oder vielmehr der Person, die hinter dem Steuer saß.
"Hallo, Fab", grüßte Eddy mit sorgenvoll gerunzelter Stirn, "Bist du Okay?"
Cian war sich nicht sicher, ob es an der Gesamtsituation lag. Vielleicht war es auch der offensichtlich berauschte Zustand seines Freundes oder aber etwas ganz anderes löste das folgende Verhalten aus. Doch das Keuchen, das sich mit einem Mal Fabs Kehle entrang, das beängstigende Verdrehen seiner Augen in Kombination mit dem Verkrallen seiner Fingernägel in seinen Unterarmen, hatte etwas Bizarres und zutiefst Verstörendes an sich.
"Warum dissoziierst du?", murmelte Cian alarmiert vor sich hin, trat um die geöffnete Autotür herum und vor den abwesenden Nerd.
"Fab, kannst du mich hören?", sprach er den jungen Mann deutlich mit lauter Stimme an, erntete immerhin ein Zucken der Augenbrauen, "du bist in Sicherheit, ich bin hier bei dir - C. Du bist an den Docks, es ist später Nachmittag, du hast mich angerufen."
Der Kriminalpsychologe hoffte, dass der Realitätsabgleich dem Analysten helfen würde, wieder ins Hier und Jetzt zu finden.
"Gib mir bitte den kleinen Knickstab aus der Tasche."
Als keine Reaktion erfolgte, löste er seinen Blick unwillig von seinem Sorgenkind und ließ ihn zu Eddy schweifen, die ihn musterte, als habe er ihr einen unlösbaren Geheimcode genannt. Vielbedeutend zuckte Cian mit seinem Kinn auf seine Jacke.
Endlich schien Eddy zu verstehen, denn sie wühlte kurz in seinen Taschen und reichte ihm schließlich das Gewünschte. Seit er Fab näher kannte, sie eine Vertrauensbasis aufgebaut hatten, hatte der ältere Mann es sich angewöhnt, die kleine Ammoniakampulle bei sich zu tragen. So knickte er das Hilfsmittel und hielt es Fab unter die Nase, damit dieser den stechenden Geruch einatmete.
Ein Zucken wanderte durch den erstarrten Körper, ein Blinzeln folgte, die bebenden, bläulich angelaufenen Lippen zogen sich zurück, als der Nerd mit einem Schlag tief Sauerstoff in seine Lungen pumpte und mit dem Kopf nach hinten schnappte. Erleichtert sackten Cians Schultern herab, das Hilfsmittel nahm er herunter.
"Bist du wieder bei uns?", fragte er mit ruhiger Stimme, versuchte seinem Freund Beständigkeit und Sicherheit zu vermitteln.
"W-was ist -?", stammelte Fab unzusammenhängend.
"Du bist dissoziiert. Weggedriftet, als Eddy dich begrüßt hat."
Fabs Augen wanderten mit zu weiten Pupillen unstet über das Autodach bis sie schließlich ins Innere blickten und dort auf Eddy trafen.
"Ist mir ewig nicht passiert", gab der Nerd sichtlich erstaunt zu.
Cian nickte lediglich, nahm ihn nun vorsichtig bei den Schultern, um ihn ins Auto zu bugsieren.
"Wir bringen dich jetzt nach Hause. Vielleicht ist Vigor da, dann kann er ein Auge auf dich haben und morgen reden wir."
Noch fix schnallte der Kriminalpsychologe den mitgenommenen jungen Mann an, der wiederholt zusammenzuckte, als er sich über ihn beugte. Ein Stich nach dem anderen jagte durch Cians Körper. Eilig verfrachtete er sich selbst auf den Beifahrer sitz und bedeutete Eddy, loszufahren.
"Nicht zu mir", flüsterte Fab da von der Rückbank, auf der er sich zusammengerollt hatte, nachdem er sich direkt wieder abgeschnallt hatte, "aufs Revier."
Verdutzt und definitiv beunruhigt drehte Cian sich halb auf seinem Sitz herum, damit er Fab ansehen konnte.
"Warum willst du aufs Revier, Kurzer?"
"Weil - ich - also -", krächzte der Analyst heraus, vermied den Augenkontakt und schloss die Lider schließlich ganz, "ich muss eine Aussage m-machen. Weil ich weiß, wer - ich - ähm - ich weiß, wer der Ritual-m-mörder ist."