Stumm betrachteten sie das Diagramm am Whiteboard. Stunden waren vergangen, in denen das Team getüftelt hatte, um alle bisher gesammelten Fakten wie Hinweise, Indizien wie Spuren oder auch nur Gedankengänge und Ideen zusammenzufügen, miteinander zu verknüpfen und in ein in sich schlüssiges Konzept zu ... stopfen.
So konnte nun erkannt werden, dass eindeutige Verküpfungen zwischen Ripley und den Tatorten zu Ms Six und Beckys Mutter bestanden. Ripley kannte O'Neal und beide hatten wiederum Verbindungen zum Trinity College als auch nach St. Andrews. Damit waren auch die Morde dort in das Muster eingefügt. Pheobe wies über Mitch eine Beziehung zum Trinity College und somit über mehrere Ecken auch zu O'Neal auf, der zugegeben hatte, sich zumindest vage an sie und ihren Tod erinnern zu können. In jedem Fall aber mit ihrem Mann bekannt gewesen zu sein.
Viel wichtiger war vermutlich der Umstand, dass der Professor Cian so dumm-dreist auf den Mord seiner Schwester angesprochen hatte - ja, ihn regelrecht als Mittel genutzt hatte, um ihn zu provozieren. In einer Art, die nur dazu dienen sollte, um den Kriminalpsychologen aus der Reserve zu locken oder zu verunsichern. Damit hatte O'Neal einen Fehler begangen, denn Cian hatte somit ein sicheres Indiz an der Hand und außerdem Blut geleckt.
Die Männer wiesen jeweils ein Studium der Theologie auf und zeigten ähnlich fanatische Züge, noch dazu wurde Ripley von einer Zeugin eindeutig identifiziert und auch Ian hatte Ripley damals in der Gasse erkannt. Der junge Doktorand wiederum hatte die Morde gestanden und trotz Beteuerungen, diese allein begangen zu haben, stets von einem 'wir' gesprochen und im Zuge dessen O'Neal ins Spiel gebracht. Hier allerdings stutzte Cian. Wenn auch widerstrebend.
"Was hatte Ian noch zum Täter gesagt?", fragte er an Eddy gewandt.
Die Doktorandin überlegte kurz und blätterte dann flink in ihren Notizen. Wehmütig dachte der Kriminalpsychologe für einen kurzen Moment an Fab, der mit seinem unglaublichen Gedächtnis den genauen Wortlaut ihres Zeugen hätte wiedergeben können. Er sah geradezu vor sich, wie der schlanke junge Mann, an einem mit pinken Guss glasierten Donut mümmelnd, eine eins A Imitation des Verhörs nachgespielt hätte. Beide Rollen, wohlgemerkt.
"Die kleine schlaue Naschkatze", murmelte Cian mit traurigem Lächeln vor sich hin.
"Was sagst du?", kam es von Susanna.
Eilig holte er seine Gedanken zurück zum Fall. Er durfte sich nicht ablenken lassen. Auch, wenn es wehtat, einen Freund zu verlieren, so musste Cian nun Prioritäten setzen.
"Ein großer Mann, aber nicht so groß wie du", ließ sich Eddy nun vernehmen, als sie ihre Notizen fand, "mit einigen Pfunden zu viel."
"Passt doch zu dem Professor", kam es von Freddy.
Noch immer war der Forensiker Cian gegenüber etwas reserviert. Sah dem Kriminalpsychologen seit Fabs Enthüllungsaktion kaum in die Augen, beteiligte sich nur, wenn es unbedingt möglich war. Es verletzte Cian, denn sie hatten immer gut zusammengearbeitet, auch privat keine Probleme gehabt und sich generell immer sympathisch gefunden. Dass der Ältere ihn nun so schnitt, nur weil er Eddy liebte und mit ihr eine Beziehung unterhielt, konnte nicht der Grund sein. Freddys Frau war selbst einige Jahre jünger. Vielmehr hatte Cian den Verdacht, dass es an dem neu erlangten Wissen lag, dass der Kriminalpsychologe sich nicht ausschließlich zu Frauen hingezogen fühlte. Seufzend nickte Cian dennoch einfach zu Freddys Aussage.
"Stimmt", nahm er den Faden auf, "aber Ian meinte auch, dass dieser eine braune Kapuzenjacke getragen habe und als er diese vom Kopf des Täters zog, seien darunter dunkle Haare erkennbar gewesen."
Vernehmliches Gemurmel der Überlegung und Zustimmung von allen Teammitgliedern.
Damit war der Professor raus. Es sei denn, er hatte sich für die Taten extra die Haare gefärbt.
"Außerdem ist da noch die Sache mit seinem Bein", sagte Susanna.
Unzufrieden musste Cian seiner Kollegin da einen Punkt geben. Der alternde Dozent konnte schwerlich ohne Gehilfe laufen, wie er da die Morde vollbringen wollte, war ein ungelöstes Rätsel. Es sei denn ...
"Er hat die Methodik entwickelt und gibt sie nun weiter. Bringt es jemandem bei. Ein Lehrmeister, wie er es als Professor nun einmal ist", sprach Cian seine Gedanken laut aus.
"Wenn dem so wäre, meinst du, es ist dann Anderson Ripley?", hakte Eddy sofort nach, doch Cian schüttelte den Kopf.
"Nein. Es ist eine andere, weitere Person, die er anlernt. Unter seine Fittiche genommen hat, als er das Potential in diesem Menschen erkannt hat. Vermutlich hat O'Neal in diesem etwas von sich selbst gesehen. Eine Chance, sein Vermächtnis weiterzuführen, jetzt, da er die Taten nicht mehr mit eigenen Händen ausführen kann und die Traditionen wahrt, wenn er nicht mehr sein sollte."
Die Rädchen in seinem Hirn drehten sich unablässig. Thesen bildeten sich, wurden verworfen. Es blitzte eine Vermutung auf, die Cian schnell wieder verwarf, weil er hoffte, ja gar zu den Göttern betete, dass er sich irren möge - irren musste - aber zumindest zu einem Schluss gelangte.
"Der Unbekannte in der Gasse!"
Wer auch immer dieser Mann sein möge, er war derjenige, der nun für O'Neal die Morde beging. In dessen Fußstapfen getreten war, von diesem angeleitet wurde. Wie Ripley unter dessen Fuchtel stand. Wenn er herausfinden könnte, mit wem der Professor gestern Abend gesprochen hatte, dann konnte er endlich aufklären, wer Pheobe ermordet hatte.
"Nur - wieso - also - warum erst jetzt?"
Verwirrt sah er zu Eddy, die ihn beinahe entschuldigend ansah. Der Kriminalpsychologe blickte einfach zurück in diese stahlgrauen Augen. Warum erst jetzt? Warum erst jetzt?! Ja, verdammt, er hatte doch auch keine Ahnung! Er wollte diesen Fall einfach lösen, den Mistkerl wegsperren und abschließen. Mit der Vergangenheit, dem Schmerz, all dieser ganzen Scheiße, die ihn seit vier Jahren unaufhörlich zu verfolgen schien. Ihn beinahe alles gekostet hatte.
"Weil er sich verstecken musste?", mutmaßte Schwarz zögernd.
"Klingt doch plausibel", meinte auch Brannegan, "wenn wir annehmen, dass er derjenige war, der die Frauen in den 80ern ermordet hat. Frankreich, Deutschland und Irland. Da hatte der gute Prof. viel zu tun."
Und bei Cian machte es klick.
"Drei, nicht vier. Es sind immer drei", plapperte er aufgeregt und schnappte sich Partners Leine, "ich muss sofort zu Bates aufs Revier."