CN: Beteiligung von Kindern, Mord (erwähnt), Sucht (erwähnt), Alkohol (erwähnt)
Mitch ließ ihn und Partner am Bürogebäude in der Charlemont Street aussteigen. Cian verabschiedete sich augenzwinkernd von Eddy mit dem Versprechen, ihr ein andermal seinen eigentlichen Arbeitsplatz und seine eigene kleine Firma zu zeigen. Aber heute Nachmittag wollte er dem Mädchen nicht mehr neugierigen Blicken aussetzen, als notwendig. Daher schickte er die Doktorandin nach Hause. Er selbst nahm den Aufzug in den dritten Stock. Die gesamte Etage hatten er und seine Geschäftspartnerin und gute Freundin - Samantha Roise - gemietet und daraus den Sitz ihrer gemeinsamen Gutachterfirma Primum nil Nocere Consultings Ltd. erschaffen. In den Räumlichkeiten befanden sich Büros, ein Warte- und zwei Diagnostikzimmer, sowie eine Aktenablage, ein Mitarbeiterraum mit Küche und eine Dunkelkammer.
Cian und Sam beschäftigten noch zwei weitere Psychologen, eine Sonderpädagogin und eine Sozialarbeiterin, sowie abgesehen von Fab noch einen IT-Spezialisten und einen freischaffenden Detektiv.
Eigentlich lief ihre Firma auch wirklich gut, sie waren gefragt und konnten sich vor Aufträgen kaum retten. Doch Cian hatte sich in den letzten vier Jahren zunehmend gehen lassen und kaum Aufträge angenommen. Da sie auf Honorarbasis arbeiten, kam so natürlich auch kein Geld in die Kasse und er hatte den Gürtel entsprechend eng schnallen müssen. Von der Provision, die er von den Aufträgen der anderen Kollegen erhielt, konnte er bei weitem kein luxuriöses Leben führen. Nicht, dass der Kriminalpsychologe darauf viel Wert legte. Aber warmes Wasser zum Duschen hatte schon so seine positiven Aspekte.
Er betrat den Empfangsbereich und grüßte einige Klienten, die dort im Wartezimmer saßen, mit einem freundlichen Lächeln. Sam holte gerade eine junge Dame ab, die scheinbar per Gerichtsbeschluss zu ihnen bestellt wurde und nun gutachterlich erfasst werden sollte.
"Dein Termin wartet mit Fab in deinem Büro auf dich", ließ sie ihn netterweise wissen, bevor sie hinter ihrer Klientin in einem der Diagnostikzimmer verschwand. Cian nickte und machte zunächst einen Abstecher in den Personalraum, um sich einen Kaffee zu besorgen. Hoffentlich hatte Fab das Büro vorab für den Termin vorbereitet. Obwohl ... Hoffentlich nicht! Der Jungspund konnte mit Küchengeräten nicht umgehen und sie wollten ihre Gäste ja nicht vergiften. Also kochte Cian schnell noch Tee und heiße Schokolade, füllte es in Thermoskannen und stellte alles zusammen mit Tassen und einem Teller Keksen auf ein Tablett. Dann balancierte er alles zusammen zu seinem Eckbüro am Ende des Ganges. Als er mit der Hacke gegen die Tür trat, wurde sie nach einiger Zeit endlich geöffnet und Fab stand mit fragender Miene vor ihm.
"Hast du so rabiat gegen die Tür gezimmert?"
"Nee, das war der Kobold am Ende des Regenbogens, der will seinen Goldtopf wiederhaben", ätzte Cian, "Na sicher, war ich das. Wer denn sonst."
Fab verdrehte die Augen und trat beiseite, damit der Kriminalpsychologe endlich sein Büro entern konnte. In dem großen Raum standen an der Fensterfront sein Schreibtisch und linker Hand eine gemütliche Sitzecke mit einem Sofa und zwei Sesseln neben einem Bücherregel, vollgestopft mit Fachliteratur. Gegenüber hatte er eine kleine Spielecke für jüngere Kinder eingerichtet. Im Büro tummelten sich außer Fab bereits drei weitere Leute. Cian stellte das Tablett auf den gläsernen Couchtisch und begrüßte zunächst lächelnd die kleine Becky in ihrem himmelblauen Kleidchen.
Still aber sich neugierig umsehend, saß sie neben ihrer Tante auf der Couch.
"Hallo, Becky. Ich freue mich, dich wieder zu sehen."
Artig erwiderte die Kleine seinen Gruß und schüttelte sogar seine Hand.
"Darf ich mit Partner spielen?", fragte sie und deutete auf seinen Hund. Cian lachte und nickte bestätigend. Er kramte in seiner Hosentasche und gab Becky einige Leckerlis für Partner und erlaubte ihr, dass sie und der Hund in die Spielecke gehen durften.
"Ist das wirklich okay? ich dachte, es ginge hier um eine Befragung zu den Ritualmorden?", flüsterte Beckys Tante so, als ob sie vermeiden wolle, dass ihre Nichte sie hörte. Cian machte eine verstehende Geste und bot der Dame zunächst eine Tasse Tee an. Auch Fab und Osín Bennett, der gemütliche Sozialarbeiter und Fabs Pflegebruder, erhielten eine Tasse, bevor Cian sich seinen Bürostuhl heranzog und in normaler Zimmerlautstärke antwortet.
"Oh ja, so ist es auch. Aber ich möchte, dass Becky sich hier wohlfühlt und eine angenehme Atmosphäre schaffen. Es ist niemandem damit geholfen, wenn wir verkrampft hier sitzen und ihr das Gefühl vermitteln, in einer bedrohlichen Situation zu stecken. Ich verstehe natürlich, dass das schwierig ist und Sie Becky nur schützen möchten, aber zumeist hilft es, das Trauma zu entkatastrophisieren und normal über das Erlebte zu sprechen. So kann es auch besser ins Gedächtnis eigebettet und verarbeitet werden", erklärte Cian geduldig und nahm einen tiefen Schluck von seinem Kaffee.
"Mrs. ..."
"Vernon", half ihm Osín aus.
"Mrs. Vernon, ich würde gern mit Becky reden, ohne, dass sie von außen beeinflusst wird. Es wäre toll, wenn Sie und Mr. Bennett nebenan warten könnten. Keine Sorge, Sie können alles über den Monitor dort verfolgen, mein Kollege - Mr. MacCrea - lässt eine Kamera mitlaufen."
Zögerlich stimmte die Dame zu und ließ sich von dem Sozialarbeiter aus dem Raum führen.
Fab und Cian blieben mit dem kleinen Mädchen zurück, das noch immer vergnügt mit dem Hund knuddelte. Fab baute leise das Equipment auf und gab nach einigen Minuten Cian ein Zeichen. Der Kriminalpsychologe begab sich zu Becky und setzte sich im Schneidersitz zu ihr. Das Mädchen sah auf und lächelte ihn an. Wieder trafen ihn diese großen Kinderaugen mitten ins Herz und Cian wusste schon jetzt, dass er an einem langen Gespräch mit seinem Sponsor nicht vorbeikäme, um nicht morgen wieder an der Flasche zu hängen.
"Becky, ich habe deine Tante mit dem Herrn von der Seelsorge mal hinausgeschickt. Aber sie sind direkt nebenan. Ist das für dich in Ordnung, wenn wir allein miteinander reden?", fragte er das Mädchen.
"Darf Partner denn hierbleiben?"
Cian lachte und nickte zustimmend. Becky zuckte mit den Schultern.
"Dann ist das okay."
"Gott, ist die niedlich", murmelte Fab verzückt, was ihm ein Abwinken von Cian einbrachte, damit er still war. Aber recht hatte der Analyst allemal.
"Hat deine Tante dir erklärt, warum du heute hier bist?", wollte Cian nun von Becky wissen, die mit den Händen durch das zottelige Fell des Hundes fuhr.
"Tante Heather hat immer angefangen zu weinen, wenn sie mit mir reden wollte. Aber Osín hat mir gesagt, dass Sie mit mir reden wollen, weil ich da war, als meine Mummy gestorben ist" erklärte Becky.
Cian atmete tief durch und sammelte sich einen Moment. Es nahm ihn immer mit, wenn er mit Kindern diese Art von Befragungen durchführen musste. Sich noch dazu äußerlich nichts anmerken zu lassen, fiel ihm unglaublich schwer. Doch er riss sich zusammen, schenkte Becky ein Lächeln.
"Genauso ist es. Ich war ja auch da, an dem Abend. Aber ich wüsste gern, was du so erlebt hast, bevor ich gekommen bin, um dir mit Partner Gesellschaft zu leisten. Meinst du, du könntest mir davon erzählen?"
"Ich weiß aber nicht, was passiert ist", gestand Becky kleinlaut. "Sind Sie jetzt böse auf mich?"
Der Kriminalpsychologe runzelte die Stirn. Sein Atem beschleunigte sich etwas und er spürte sein Herz in seiner Brust heftig schlagen.
"Natürlich bin ich nicht böse, Becky. Aber wie genau meinst du das, wenn du sagst, dass du nicht weißt, was passiert ist?"
"Der Mann mit den blauen Augen hat mich weggebracht."
Cian wurde zugleicht heiß und kalt bei den Worten des kleinen Mädchens. Eindringlich sah er Becky an.
"Okay, Becky. Erzähle mir, was genau passiert ist, bis der Mann dich fortgebracht hat."