CN: Verlust, Trauer, Tod (erwähnt), Krankheit (erwähnt), Trauma (erwähnt)
Donnerstag schüttete es wie aus Eimern. Bei schwülwarmen Temperaturen fiel das Atmen bereits schwer, wenn man sich auch nur von der Couch zum Kühlschrank quälte, um sich ein hoffentlich Erfrischung bringendes Soda zu besorgen. Dementsprechend konnte man sich vorstellen, wie grauenvoll die Luft im Pub stehen musste, in dem der Kriminalpsychologe am heutigen Morgen saß und in seinen Eiskaffee stierte. Den Schweißfilm auf seiner Stirn mit dem Unterarm fortwischend, nahm er einen tiefen Schluck und stöhnte verhalten. Diese Bruthitze war nicht zum Aushalten. Mitch gesellte sich zu ihm und wedelte sich mit seinem grünen Zylinder japsend Luft zu, um sich die feuchten Haare zu trocknen.
"Was eine Affenhitze. Die Schicht halte ich nicht durch", beschwerte sich Cians bester Freund, griff nach dessen Glas und kippte den Rest des Getränks in einem Rutsch. Brummend nahm dieser es hin.
"Was soll ich denn sagen?", konterte Cian schulterzuckend, "erst darf ich den Vormittag auf dem Friedhof verbringen und dann im Verhörraum schwitzen, während der Lackaffe O'Neal mir seine geschwollenen Sprüche um die Ohren pfeffert."
"Du hast gewonnen."
Mitch schmunzelte ihm entgegen. Dann wischte er mit einem Tuch über den Bartresen. Überlegend legte sich dabei die Stirn seines besten Freundes in Falten und er gab summende Geräusche von sich. Mit erhobener Braue beobachtete Cian dieses Schauspiel eine Weile, bis er seufzend nachgab und gegen den Arm des Rotfuchses schnippte.
"Was?", forderte er zu wissen.
"Ach nichts", druckste Mitch zunächst herum, ergab sich aber, als Cian ihn kritisch musterte, "nur, dass Bracken eigentlich immer ein geschätzter Kollege war. Ich kann mir so gar nicht vorstellen, dass er in diese ganze Sache verwickelt sein soll. Bist du dir da sicher?"
Cian stieß schnaubend seinen Atem durch die Nase und schüttelte seinen Kopf, dass ihm die feuchten kastanienbraunen Strähnen nur so um die Ohren flogen.
"Das ist seine Masche, Mitchy! Der liebe und sympathische Professor, der für alle Theorien offen ist. Aber eigentlich ist er ein wahnhafter Fanatiker."
"Ich weiß nicht C", sagte Mitch, die Mundwinkel skeptisch verzogen, "du klingst beinahe wie Eddy zu ihren Anfangszeiten: Vorschnell verurteilend."
"Er hat mich direkt auf Pheobe angesprochen", ereiferte sich Cian nun deutlich hitziger. Er konnte nicht verstehen, warum sein Freund sich ausgerechnet auf O'Neals Seite schlug. Immerhin ging es hier auch um den Mord an seiner Ehefrau, verdammt!
"Er wusste, dass sie meine Schwester ist, Mitch!", beschwor er seinen besten Freund tief in die Augen sehend, "verstehst du? Woher hätte er das wissen sollen, wenn er nicht an der ganzen Sache beteiligt ist, huh? Sie trug schließlich deinen Nachnamen. Auch vorab lief sie unter Marks Familiennamen."
Nach dieser Offenbarung starrte der Bartender ihn einfach nur an, das Gesicht kreidebleich. Einerseits verstand der Kriminalpsychologe den Schock, den Mitch da gerade verarbeiten musste, doch andererseits sollte der Mann sich doch darüber freuen, dass Cian so dicht davor stand, den Mord an Pheobe endlich aufzuklären. Oder nicht?
"Mitchy?", fragte Cian behutsam nach.
Der Rotschopf ruckte mit dem Kopf und zwinkerte einige Male mit den Augen, bevor er sich wieder an seinen Freund wandte, ein schmales Lächeln aufsetztend.
"Wann bist du heute bei Henry?", wollte er dann wissen und Cian verstand den Wink. Großzügig ging er auf den Themenwechsel ein.
"Um zehn Uhr, wie mit Sam besprochen."
So stand er pünktlich um kurz vor zehn Uhr am Eingang des Friedhofs und starrte auf die künstlich angelegten Wege, die sich durch die Grabstätten schlängelten. Unwillkürlich griff Cian Partners Leine fester und drückte sein Rückgrat durch. Dann lief er mit langen Schritten dem Weg folgend an der kleinen Kapelle vorbei, passierte das Wasserspiel mit den Plaketten für die halbanonym Bestatteten, bog zweimal ab, vorbei an der Trauerstätte für Sternenkinder und kam schließlich bei Henry an.
Sam und ihre Pflegekinder waren bereits da. Seine langjährige Freundin und Geschäftspartnerin redete leise mit ihren Schützlingen. Links daneben erkannte Cian ihren ehemaligen Pflegesohn Osín, mit dem er als Sozialarbeiter regelmäßig zusammenarbeitete und der auch heute noch ein inniges Verhältnis zu Fab pflegte.
Leise trat der Kriminalpsychologe auf den stämmigen jungen Mann zu. Er begrüßte ihn mit einem Trost spendenden Lächeln. Osín erwiderte die Geste mit tränenverhangenem Blick und reichte ihm kurz die Hand, bevor Cian die Runde machte, die Kinder begrüßte und dann Sam an sich zog. Anschließend legte er die Schnitzerei ab, die er angefertigt hatte. Diese stellte den Lebensbaum Yggdrasil dar.
Heute war Henrys Jahrestag. Heute vor fünf Jahren erlag Sams Jugendliebe den Folgen seiner schweren Krankheit. Sie verlor ihre große Liebe, vier Pflegekinder einen fürsorglichen Vater und Fab jemanden, der ihm zeigte, dass ein Zuhause Geborgenheit und Sicherheit bedeuten konnte.
"Warum diese Trauermienen? Ist doch keiner gestorben - zumindest nicht heute."
Cian löste seinen Blick von der Grabstelle und wandte sich der aufgekratzten Stimme zu, die hinter ihm erklungen war. Fab kam mit beschwingten Schritten auf sie zu stolziert, eine einzelne weiße Rose in der Hand, die Augen rotgeädert, sodass seine hellen Irden noch mehr strahlten, als es sonst der Fall war. Dunkle Schatten lagen darunter und sein ohnehin blasser Teint hatte inzwischen einen gespenstisch weißen Ton angenommen. Doch es waren nicht allein diese Aspekte, die dem Kriminalpsychologen sorgen bereiteten.
Es war der Fremde, der den Analysten wie selbstverständlich begleitete. Es war die Natürlichkeit, wie Fab dessen Hand hielt und sie an seine Lippen führte, um einen raschen Kuss darauf zu hauchen, sich aber trotz seines ausgeprägten Charakters, stets einen halben Schritt hinter ihm hielt. Der dunkelhaarige Mann musste etwa in Sams Alter sein, schätzte der Kriminalpsychologe. Also Ende dreißig, Anfang vierzig. In seiner Hand hielt er einen üppigen Blumenstrauß. Freundlich lächelnd trat der beleibte Brünette auf Cians Geschäftspartnerin zu und sprach ihr sein Beileid aus. Cian beobachtete Fab, dessen Augen funkelnd auf dem Älteren lagen.
"Wusstest du davon?", hörte er Osín neben sich fragen.
"Nein. Wir haben uns letzte Woche gestritten", antwortete Cian leise, "ich habe auch nicht erwartet, dass heute wieder eitel Sonnenschein zwischen uns sein würde. Aber ich dachte nicht, dass er sich einfach in eine Beziehung stürzt. Und schon gar nicht, dass er einen wildfremden Typen zu Henrys Jahrestag mitbringt."
Die Chance, mit Fab über sein Verhalten zu sprechen, ergab sich nicht. Zumindest nicht unter vier Augen. Der Analyst hing wie eine Klette an dem Fremden, der sich schließlich als Quin vorgestellt hatte. Sie hatten sich am letzten Wochenende kennengelernt. Sie seien sich auf Anhieb sympathisch gewesen und seither unzertrennlich. Beide hätten eine schwierige Zeit durchgemacht - gerade beide unter einer bösen Trennung gelitten. Cian war bei diesen Worten gestutzt und hatte versucht, Fabs Blick aufzufangen, doch dieser hatte nur Augen für seinen Neuen gehabt. Wann hatte er sich denn bitte von dem Analysten getrennt? Dazu müsste eine Beziehung bestanden haben und 'böse'?! Klar, es lief momentan nicht ganz rund in ihrer Freundschaft, aber es war doch nichts verloren. Cian hätte gern mit Fab über all dies gesprochen. Über dessen scheinbar stark verletzte Gefühle geredet, doch Quin schien ihn permanent abzuschirmen. Er ergriff sogar zumeist das Wort, wenn einer der Anwesenden Fragen an den Analysten richtete und antwortete für den kleinen Nerd. Irgendwann war es Cian zu bunt geworden und er hatte sich von der Trauergesellschaft entfernt, um durchzuatmen. Er wollte nicht aufgebracht und durcheinander beim Verhör aufkreuzen, zu dem er in einer halben Stunde aufbrechen musste. So schlenderte er mit Partner einen der Wege entlang und schlug schließlich eine ganz bestimmte Richtung ein. Etwa fünf Minuten später hielt er vor einem verwitterten Grab. Stumm blickte Cian auf die Inschrift im Stein.
Lt. Sean Finnigan
geb.19.06.1956 gest. 26.09.2004
liebender Vater und geschätzter Freund
"Es kann keiner gerecht sein, der nicht menschlich ist" (Luc de Clapiers)
Ein leises Räuspern ließ den Kriminalpsychologen aus seiner Vergangenheit aufschrecken, die ihn für einen Augenblick zu überwältigen drohte. Wie grausam war es, dass er an diesem Ort, der dafür gedacht war, um den Hinterbliebenen Trost zu spenden, doch jedes Mal wieder einen Ort der Zerstörung und der brutalen Hinrichtung sehen musste? Cian wünschte sich, dass er um seinen Vater trauern könnte, wie Sam und ihre Familie es für Henry tun konnten. Doch er konnte es nicht. Alles, was er mit diesem Ort verband, war Pheobes Ermordung und die Bilder, die ihm in zu vielen Nächten den Schlaf raubten.
"Es muss schwer für Sie sein. Hierher zu kommen, meine ich."
Verwirrt drehte Cian sich herum und sah Quin düster an. Was wollte der Mann überhaupt von ihm? Warum war er dem Kriminalpsychologen nachgelaufen?
"Der Tod meines Vaters ist schon lange her. Ich bin darüber hinweg", antwortete er dennoch widerstrebend. Quinn schüttelte den Kopf und machte eine verneinende Geste.
"Ich meinte die traumatische Erfahrung, die Sie und Ihr Schwager hier machen mussten. Ihre kleine Schwester auf so brutale Weise ermordet - das - mein Gott, das kann ich mir gar nicht vorstellen."
Perplex und vollkommen überrumpelt sah Cian den anderen Mann an, kurz öffnete und schloss er seinen Mund unverrichteter Dinge wieder, bis er schließlich seine rasenden Gedanken einigermaßen sortieren konnte.
"Woher wissen Sie das?", verlangte Cian zu wissen, in seinem Magen machte sich ein flaues Gefühl breit.
"Fab hat es mir erzählt. Er redet viel, wissen Sie? Er war einsam und todunglücklich. Vermutlich wäre er irgendwann an all seinem Seelenschmerz zugrunde gegangen. Gut, dass er nun mich hat."