Sie suchten sich einen Platz in den hinteren Reihen und hörten dem Professor bei seiner Litanei zu. Cian ließ sich tief in den ausklappbaren Sitz sinken und befahl Partner leise, sich neben ihn in den Gang zu legen. Bereits nach einigen Minuten wurden seine Lider schwer. Schon zu seinen Studienzeiten war es ihm fürchterlich schwergefallen, den ewigen Ausschweifungen der Dozierenden zu folgen, ohne sich zu Tode zu langweilen. Dabei musste er zugeben, dass O'Neal sich darauf verstand, seinen Studierenden sein Wissen auf durchaus ansprechende Art und Weise zu vermitteln. Er sprach in angenehmer Tonlage ohne zu leiern, machte hin und wieder auch mal ein Späßchen und beantwortete Fragen gekonnt und empathisch. Er erschien ... sympathisch. Und das machte den Professor noch gefährlicher, wenn man den Kriminalpsychologen fragte. Denn für Cian stand bereits fest, dass dieser in der Sache drinsteckte. Es blieb nur noch zu klären, wie er es ihm nachweisen konnte. Den Hinterkopf an der harten Lehne abgestützt, beobachtete Cian aus schmalen Augen, wie O'Neal wie ein eitler Pfau vor seiner Zuhörerschaft auf und ab stolzierte. Die graumelierten Haare waren akkurat nach hinten frisiert, der Vollbart feinsäuberlich gestutzt. Er war groß, aber nicht überdurchschnittlich hochgewachsen. Ein Bein zog er leicht hinter sich her, was er mit einem Gehstock auszugleichen versuchte. Dabei nutzte er das Ding aber eher mit Würde und es schien ihm einen adretten Touch zu verleihen, als ihn kränklich wirken zu lassen. Unter dem Tweetjackett versteckte er eine füllige Figur. Blieb zu enträtseln, wie der ältere Herr von Nahem betrachtet aussah.
Am Rand auf einem Stuhl saß mit einem Notebook auf dem Schoß Ms Clarck und schien in ihre Gedanken versunken. Immer wieder schob die mausgraue Doktorandin ihre Brille zurecht, sah aber nicht einmal von ihrem Bildschirm auf. Ihrer Körpersprache nach zu urteilen, war die Verhaftung Ripleys noch nicht durchgesickert. Gut, darauf hatte Cian gesetzt.
Die Vorlesung endete. Die Studierenden klopften mit den Fingerknöcheln auf ihre einklappbaren Tische und erhoben sich. Die Massen strömten aus dem Saal, vereinzelt scharten sich einige Exemplare um den Professor und nahmen ihn in Beschlag. Cian blieb entspannt auf seinem Platz und winkte ab, als Eddy sich bereits auf den Weg machen wollte. Er hatte Zeit.
Erst, als er sich mit einem Blick nach hinten vergewissert hatte, dass auch der Rotschopf mit den Teekannen verschwunden war, klatschte er betont sarkastisch in die Hände. Dr. O'Neals Kopf ruckte zu ihnen nach oben. Der Kriminalpsychologe erhob sich träge und schlenderte mit Partner an der Leine und Eddy im Schlepptau die breiten Treppen des Auditoriums hinunter.
"Bravo, Professor. Ich muss schon sagen, man kauft es ihnen beinahe ab", lobte Cian O'Neal mit ruhiger Stimme.
"Verzeihung? Darf ich fragen worauf Sie anspielen?"
"Sie dürfen", gewährte Cian nonchalant, "Ich hätte ihnen den sympathischen, etwas in die Jahre gekommenen Professor beinahe abgekauft. Wüsste ich nicht, dass sich hinter diesem Schauspiel ein so scharfsinniger und doch manipulativer Verstand verbirgt, wäre auch ich darauf reingefallen."
"Ich befürchte, dass Sie mir mehr zutrauen - oder besser - Schlimmeres unterstellen, als den Tatsachen entsprechen, Dr. Finnigan", sagte O'Neal und schmunzelte ihm entgegen, nachdem er vor dem älteren Mann zum Stehen gekommen war. Cian legte den Kopf etwas schief und hob kurz die Schultern.
"Und doch wissen Sie, wer ich bin."
Ein leises Lachen war O'Neals Antwort.
"Kunststück. Sie und Ihr Team sind momentan die Hauptattraktion aller Nachrichtensender Irlands", kam es dann ergänzend. Da war etwas Wahres dran, doch Cian war nicht davon überzeugt, dass das die ganze Erklärung sein sollte. Sein Blick wanderte unauffällig musternd über den Körper des Theologen. Wie bereits von der Distanz vermutet, verbarg sich hinter der offenen Anzugjacke eine stämmige Figur. Auch der Trick mit dem Jackett konnte nicht verbergen, wie straff das Hemd darunter sich über einen nicht zu verachtenden Bierbauch spannte. Nach Ians und Beckys Aussage passte der Professor zumindest in Größe und Statur ins Profil. Nahm man Ripleys ausversehen getätigten Kommentar, ergab sich ein relativ klares Bild. Doch er hatte so ein Bauchgefühl, dass er es hier mit einem Gegenüber zu tun hatte, das nur zu gut wusste, wie das Spiel zu spielen war.
"Was also verschafft mir die Ehre eines unangekündigten Besuchs, Dr. Finnigan?", machte der Professor auch seinen nächsten Zug. Cian knirschte verhalten mit den Zähnen.
"Sehen Sie es als neugieriges Interesse", antwortete er ausweichend.
"An meiner Arbeit?"
"Natürlich."
Welcher Arbeit sein Interesse galt, war hierbei ja Auslegungssache. Skeptisch und doch scheinbar amüsiert, hob der Professor seine Augenbrauen. Cian beschloss, sein Ass zu ziehen, um eine Reaktion aus dem Mann hervorzulocken.
"Das mit Mr. Ripley muss Sie hart getroffen haben."
"Sie meinen Ms Six", berichtigte Dr. O'Neal ruhig, doch Cian schüttelte gespielt betrübt den Kopf.
"Nein. Ich spreche von der Festnahme von Anderson Ripley gestern. Er hat gestanden, die jungen Frauen in Irland und Schottland getötet zu haben."
Ms Clarck, die bist dato still auf ihrem Stuhl gesessen hatte, stieß einen kleinen ungläubigen Laut aus. Offenbar bestürzt, schlug sie ihre Hände vor dem Mund zusammen und starrte ihren Doktorvater aus treudoofen Rehaugen an. Dieser aber zuckte mit keinem Muskel, verlagerte nicht einmal sein Gewicht von seinem schlimmen Bein, um es nach dem langen Stehen zu entlasten. Gerade diese Gelassenheit war es, die Cian aufmerksam werden ließ.
"Sie wirken nicht überrascht, Prof. Dr. O'Neal."
"Verwechseln Sie kalkulierte Beherrschung nicht mit fehlender Betroffenheit, Dr. Finnigan."
Oh, wie sehr ihn dieser Mann in Rage versetzte. Mühsam hielt Cian sich zurück und tat, als perle die aalglatte Art des Professors von ihm ab.
"Er hat nicht allein gearbeitet. Mr. Ripley hat vielmehr für jemanden diese Schandtaten begangen. Können Sie sich vorstellen, wer das sein könnte?"
"Ist dies ein offizielles Verhör? Sollten Sie mich dann nicht über meine Rechte aufklären? ich denke doch nicht, dass diese Fragen hier in diesem Rahmen so legal sind", tönte O'Neal.
"Wenn Sie es auf diese Weise wollen, Professor, dann lade ich Sie gern vor. Seien Sie doch so gütig, zu einer offiziellen Aussage auf dem Revier in der Mainstreet zu erscheinen."
O'Neal verzog seine Lippen zu einem freudlosen Grinsen und streckte Cian die Hand entgegen. Aus Reflex ergriff der Kriminalpsychologe die Dargebotene.
"Machen Sie doch einen Termin mit meiner Sekretärin", plusterte sich der ältere Mann noch weiter auf. Cian schnaubte widerwillig. Was ein eitler Gockel der Kerl doch war. Mit einem festen Ruck zog O'Neal Cian zu sich heran und hielt ihn mit der anderen Hand am Nacken gepackt.
"Sie sollten vorsichtig sein, in was sie Ihre Nase stecken, Finnigan", zischte er dem Kriminalpsychologen ins Ohr, "es wäre doch ausgesprochen schade, wenn es nach Ihrer wunderschönen kleinen Schwester, nun auch noch ihre bildhübsche Partnerin treffen würde."
Er wurde freigeben. Cians Atem ging schnell und keuchend. Mit geweiteten Pupillen sah er O'Neal an, der freundlich lächelnd begonnen hatte, sie hinaus zu komplimentieren.
Wie in Trance drehte Cian sich herum und begann den Weg aus dem Saal zu stolpern. Beinahe traumtänzerisch wankte er den Flur entlang bis hinaus auf den Campus der Universität. Eddys Stimme drang dumpf an seine Ohren.
Es war kein Zufall? Pheobe - sie war kein - zufälliges Opfer? Aber wieso?
Er war doch damals noch gar nicht an diesem Fall beteiligt gewesen. Wieso hatte O'Neal es bereits vor so vielen Jahren auf ihn abgesehen gehabt? Und wie konnte er verhindern, dass Eddy in die Schusslinie geriet? Mit verschleiertem Blick starrte er die Blondine an, die noch immer gestikulierend vor ihm auf und ab lief. Cian hörte nicht, was sie sagte. Er verstand nicht, was sie von ihm wollte. Er musste nachdenken. Seine Gedanken sortieren.
Vielleicht sollte er aufhören. So, wie der Professor es verlangt hatte. Um Eddy zu beschützen. Er könnte es nicht ertragen, wenn er noch jemanden verlöre, den er liebte.
"E-es tut mir leid", unterbrach Cian Eddy stotternd, "ich - kann nicht - ich- ich muss nach-denken."
Abrupt wandte er sich um und lief mit großen Schritten davon. Immer weiter, bis Eddys Stimme hinter ihm verhallte.
Er lief und lief. Wie ein Traumtänzer gefangen in einem Strudel aus wirren Gedankenfetzen und losen Bildern, die ihm die schlimmsten Horrorszenarien beschworen. Was bliebe ihm anderes übrig, als sich aus dem Fall zurückzuziehen?
Wie von selbst fanden seine Finger sein Smartphone und wählten einen Kontakt aus seinem Telefonbuch.
"Jo, was gibt's? Ich hoffe, es ist wichtig, C. Nichts gegen dich, aber ich pumpe gerade eine Ladung Naloxon in einen Notfall, da kommt dein Anruf etwas ungelegen."
"J-Jamie ..."
Mehr brachte Cian nicht über seine Lippen. Es raschelte am Ende der Leitung und er hörte, wie Jamie mit jemandem sprach. Dann wurde es etwas ruhiger.
"Suche dir eine ruhige Ecke und schicke mir deinen Standort. Ich komme zu dir", versprach sein Sponsor und Cian schloss erleichtert seine Augen.