Es hatte ihn einiges an Überzeugungsarbeit gekostet, aber Bates hatte sich besänftigen lassen. Mit noch immer gefurchter Stirn und missmutig vor sich hin grummelnd, war der Captain wieder in seinem Büro verschwunden und hatte es Cian überlassen, Ruhe in das Desaster zu bringen.
Um sein Team musste er sich notgedrungen später kümmern, dazu fehlte ihm schlicht jetzt und hier die Zeit. Der Kriminalpsychologe konnte nur hoffen, dass Fabs Intrige nicht dazu geführt hatte, dass das Vertrauen der Kollegen in ihren Boss vollends erschüttert war. Ihre Arbeit und gemeinsames Wirken beruhte auf Ehrlichkeit und Transparenz. Cian hatte weder mit dem einen noch dem anderen sonderlich geglänzt. Allerdings hatte er auch nie mit seiner Sexualität hinter dem Berg gehalten. Es zugegeben auch nie ungefragt herausposaunt - warum auch, dazu gab es in diesem Umfeld schlicht keinen Grund. Und seine Beziehung zu Eddy war ethisch vielleicht nicht ganz korrekt, aber offiziell auch nicht verboten. Ja, er gab es zu, er griff hier gerade nach Strohhalmen. Wenn er so an die Gesichter seiner Leute dachte, dann waren zumindest die Frauen in seinem Team recht aufgeschlossen gewesen. Es waren die Herren der Runde, die verunsichert gewirkt hatten. Vor allem Pater O'Malleys beinahe schmerzlich verzogenes Gesicht hatte sich Cian ins Gehirn gebrannt und auch Freddy schien so seine Probleme mit seinem Lebenswandel gehabt zu haben. Seufzend massierte Cian sich die Nasenwurzel und rückte sich dann die Sonnenbrille wieder zurecht.
"Alles okay?", hörte er Eddys Stimme von der anderen Seite des Raumes.
Ein leichtes Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln und er blickte aus zusammengekniffenen Augen zu ihr hinüber. Da stand seine Chaosqueen und musterte seine hochgewachsene Gestalt mit verschränkten Armen. Vorsichtig nickte er, um zu verhindern, dass der Raum zu schwanken anfing.
"Danke fürs Verteidigen", sagte er leise.
"Nur, weil ich mir über unsere Beziehung klar werden muss, heißt das nicht, dass ich will, dass du vor allen anderen bloßgestellt wirst. Was Fab getan hat war mies."
"Dir gegenüber war er ebenfalls ziemlich harsch", setzte er an und Eddy zuckte zustimmend die Schultern.
"Stimmt."
"Er meint es nicht so", fuhr Cian dann fort, "heute Abend tut es ihm bereits wieder leid."
Schnaubend pustete sich die Doktorandin eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht.
"Du nimmst ihn auch noch in Schutz? Cian, er hat sich vollkommen daneben benommen!"
"Ich weiß. Ich werde mit ihm darüber sprechen, sobald er ein wenig zur Ruhe gekommen ist."
Ein Kopfschütteln andeutend, machte Eddy Anstalten, den Raum zu verlassen. Cian griff nach ihrem Handgelenk und hielt sie sanft davon ab. Über den Rand seiner dunklen Gläser sah er ihr in die grauen Augen. Stumm bat er sie noch einmal um Verzeihung und hoffte darauf, dass sie erkannte, wie ernst es ihm mit ihnen war.
Sie brach den Kontakt und löste sich aus seinem Griff. Mit einigem Abstand folgte er ihr hinüber zu Prof. Dr. Bracken O'Neal.
Der Professor erhob sich, indem er seinen Gehstock zur Hilfe nahm. Unter tief gesenkten Augenbrauen blitzten forschende braungraue Augen hervor. Wer der Meinung war, dass dunkle Augen Wärme ausstrahlten, der irrte gewaltig, denn O'Neals Blick hätte die Klimaerwärmung stoppen können. Aber auch Cian trug eine eher kühle Ausstrahlung zur Schau, anstatt seine ansonsten doch recht offene und warmherzige Haltung zu präsentieren. Dieser Mann brachte in dem Kriminalpsychologen etwas zum Klingen. Etwas, das ihm sagte, dass er dem Professor nicht eine Armlänge weit trauen sollte.
"Sie dürfen mir in den Vernehmungsraum folgen", wandte Cian sich an O'Neal, ohne ihn lange zu begrüßen.
"Wie direkt, Dr. Finnigan. Wenn Sie so mit all Ihren Zeugen umgehen, wundert es mich nicht, dass Sie noch keine nennenswerten Fortschritte in diesem prekären Fall verzeichnen konnten. Mit dieser rüden Art, erzählt Ihnen wohl kaum jemand etwas. Das schafft kein Vertrauen."
Oh, wie gern er dem alten Mann einfach zeigen würde, wie gut ihm ein drittes Gebiss stünde. Aber Cian atmete lediglich einmal tief durch und machte dann eine Geste, um O'Neal zum Verhörraum zu lotsen. Humpelnd stolzierte der Professor mit hoch erhobenem Haupt an ihm vorbei und nickte Eddy dann kurz zu. Das war das erste Anzeichen, dass dieser die Doktorandin überhaupt wahrgenommen hatte. Sie beide folgten und Eddy schloss leise die Tür hinter ihnen.
"Leg dich hin", befahl Cian Partner und ließ ihn dann in der hinteren Ecke des Raumes zurück. Der Irish Wolfhound bettete den großen Kopf auf seinen Vorderpfoten und schloss entspannt die Augen. Sein Herrchen hingegen war alles andere als ruhig. Angespannt ließ er sich gegenüber des Professors auf den Stuhl neben Eddy gleiten.
"Prof. Dr. O'Neal", begann er dann, "Sie sind hier, weil -"
"Es ist doch recht unhöflich, die Sonnenbrille auf der Nase zu belassen, finden Sie nicht? Ich würde gern während des Gesprächs in Ihre Augen sehen können, Dr. Finnigan."
Cian schluckte seinen Ärger hinunter und zog sich den Schutz vor dem grellen Licht vom Gesicht. Sofort wurden das Pochen hinter seinem linken Auge und der Druck in seinem Schädel intensiver. Die Medikamente hatte er für heute ausgereizt und seit er wieder verantwortungsbewusst damit umging, war eine erneute Dosis auch keine Option mehr. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als durch den Schmerz hindurch zu atmen. Die latente Übelkeit in seinem Magen ignorierend, straffte sich der Kriminalpsychologe und richtete die brennenden Augen auf O'Neal, der ihn wissend anlächelte.
"Sie sind hier, weil wir Ihnen einige Fragen bezüglich Ihren Beziehungen zu Ms Six und Mr. Ripley stellen möchten", beendete Cian nun den Satz, den er vorhin begonnen hatte.
"Beziehung ist nun wirklich etwas weit gegriffen. Ich war ihr Doktorvater."
"Warum haben Sie sich für diese beiden entschieden?"
"Kann ich einen Kaffee bekommen?"
Neben ihm schnaubte Eddy offensichtlich empört, doch Cian blieb äußerlich gelassen. Viele seiner Befragungen liefen auf diese Weise, wenn er es mit dissozialen Persönlichkeiten zu tun hatte. Die Gegenübertragung, die er empfand, hatte ihm den ersten Hinweis geliefert: Die Antipathie, den Groll, den er sofort gegen den Professor hegte und das Bedürfnis, sich nicht zu lange in dessen Gegenwart aufhalten zu wollen.
Dass O'Neal auch in der Lage war, diese Seite umzuwandeln und hinter einer Maske aus Sympathie und Gutmütigkeit zu verstecken, zeigte Cian nur, wie hochfunktional und manipulativ der Mann ihm gegenüber sein Spiel spielte.
"Natürlich, Eddy wird Ihnen eine Tasse besorgen."
Dafür erntete der Kriminalpsychologe einen verdatterten Blick der Doktorandin. Doch sie schien ihm genug zu vertrauen, um nicht zu widersprechen, sondern einfach ohne ein Wort den Raum zu verlassen.
"Dann können Sie jetzt meine Frage beantworten, während wir auf Ihren Kaffee warten", setzte er O'Neal fest.
"Sie haben sich beide auf die ausgeschriebenen Stellen beworben. Ich habe Sie ausgewählt, sie haben angenommen."
"Was hat ausgerechnet Ms Six und Mr. Ripley von den anderen Bewerbenden abgehoben? Etwas muss Sie überzeugt haben, ausgerechnet diesen beiden die begehrten Stellen zuzusichern."
"Ihre Themenwahl."
Cian hob interessiert die Augenbrauen. Er erinnerte sich noch gut an seine Doktorandenstelle und damals war es vor allem darum gegangen, über welche Erfahrungen man bereits im wissenschaftlichen Arbeiten vorzuweisen hatte und wie gut man darin gewesen war, sich selbst zu verkaufen.
"Die da lauten?", hakte Cian daher nach.
"Ms Six untersuchte die Entwicklung des Fanatismus in der Right Wing extremistischen Bewegung seit dem erheblichen Flüchtlingszuwachs in Irland. Mr. Ripley forscht - nun man muss bedauerlicherweise wohl sagen - forschte bezüglich der noch heute bestehenden Stigmatisierung der keltischen Glaubensgemeinschaft in Irland hervorgerufen durch die Vertreibung ebendieser durch den Heiligen St. Patrick und den damit einhergehenden wachsenden Einfluss der katholischen Kirche."
Zumindest zu Anderson Ripley gab ihm diese Antwort keine unbedingt neuen Informationen über den jungen Doktoranden. Viel mehr war es aber von Bedeutung, dass er ausgewählt worden war, weil er eine Thematik untersuchte, die sich um die Wahnidee der Ritualmörder drehte. Ms Six hingegen nicht. Cian machte sich einige Notizen.
O'Neal räusperte sich kurz, hatte er scheinbar nicht damit gerechnet, dass der Kriminalpsychologe mit den Informationen etwas Nennenswertes anfangen könnte.
"Haben Sie sich um all Ihre Doktoranden gleich intensiv gekümmert?"
"Die Betreuung ist an den jeweiligen Bedürfnissen meiner Schützlinge orientiert."
"Also nein?", präzisierte Cian.
"Nein, Dr. Finnigan."
"Wer brauchte mehr Zuwendung?"
"Nun, Mr. Ripley kam stets zu mir, wenn er unsicher war und fragte mich häufig nach meiner Meinung. Schließlich bin ich eine Koryphäe auf diesem Gebiet."
"Natürlich."
"Ms Six hingegen hat es vorgezogen, ihre Recherchen und Analysen größtenteils selbstständig und unabhängig durchzuführen. Ich habe das akzeptiert."
Nickend vermerkte Cian auch das auf seinem Klemmbrett.
Eddy kam wieder hinzu und stellte dem Professor mit etwas mehr Kraft als nötig eine Tasse und ein Kännchen Milch vor die Nase.
"Zucker, Kleines?", fragte O'Neal.
"Für Sie immer noch Ms Williams", mahnte Cian streng, "Zucker gibt es bei uns nicht. Das Budget wurde gekürzt."
Schnaubend rührte O'Neal in seiner Tasse und trank einen Schluck, nur, um dann Cian mit großmütiger Geste zu bedeuten, dass er fortfahren durfte.
"Hatten Sie je das Gefühl oder den Verdacht, dass mit Mr. Ripley etwas nicht stimmen könnte?"
"Nein. Er verhielt sich stets ganz normal. Allerhöchstens war er sogar etwas schüchtern und zurückhaltend. Natürlich - wenn man seinen Ordnungs- und Reinlichkeitszwang als Warnsignal ansehen möchte, dann vielleicht. Aber ich habe nie angenommen, dass er aggressiv oder gar ein Mörder sein könnte", sagte der Professor und schüttelte offenbar betrübt mit dem Kopf. Dabei nahm er einen weiteren Schluck seines Kaffees.
"Hatte er Kontakt zu Personen außerhalb des Campus, von denen Sie wissen?", wollte Cian dann wissen.
"Nein. Soweit mir bekannt ist, verbrachte er nur Zeit mit der Gruppe des Doktorandenprogramms. Sein engster Bezug ist wohl Ms Clarck."
"Was hat Ms Six am Abend ihrer Ermordung mit Ihnen besprochen?
"Wie bitte?"
Na sowas? War der Professor etwa nervös?
Cian hatte seine Schmerzen vollkommen vergessen, als er den alten Mann nun aufmerksam musterte.
"Sie haben mich schon verstanden, Prof. Dr. O'Neal."
"Nun", begann der Professor langsam, "sie machte schwere Anschuldigungen gegen Mr. Ripley geltend. Es ging um Plagiate - angeblich habe er große Teile seiner Dissertation nicht eigenständig verfasst. Sie wissen, was das bedeutet. Ich sagte ihr, dass ich dem nachgehen würde."
"Und haben Mr. Ripley im Anschluss darüber informiert."
"Natürlich. Ich konnte ja nicht ahnen, dass er losmarschiert und sie umbringt."
"Oder haben Sie genau das gefordert?"
Die Tasse wurde laut klappernd abgesetzt und O'Neal schob ruckartig seinen Stuhl zurück.
"Diese Unterstellung verbitte ich mir, Dr. Finnigan! Ich bin ein angesehener Mann und muss mir das nicht anhören!"
Damit erhob der Professor sich und humpelte zur Tür. Cian nahm es scheinbar gelassen hin. Erst, als O'Neal bereits die Tür aufzog und dabei war, zu verschwinden, erhob der Kriminalpsychologe noch einmal seine Stimme.
"Ihre Sekretärin soll doch bitte einen Termin in den kommenden Tagen frei halten. Wir sind noch nicht fertig, Prof. Dr. O'Neal. Ich habe unsere kleine Szene im Hörsaal nicht vergessen."
Der Professor hielt kurz inne, drehte sich jedoch nicht herum, als er antwortete.
"Ich weiß nicht, was Sie meinen, Dr. Finnigan."
Erschöpft lehnte sich Cian zurück und schloss die Augen. Was gäbe er jetzt für ein wenig Ruhe.