CN: Sucht (erwähnt), Drogen (erwähnt)
Eddy hatte noch geschlagene zehn Minuten in der Kälte gestanden und Cian und seinem riesigen Hund hinterhergestarrt. Zitternd und mit tränenverschleiertem Blick, schlang sie ihre Arme um ihren Körper und unterdrückte ein Schluchzen. Sie wollte nicht weinen. Nein, ganz sicher nicht. Nicht hier in der Öffentlichkeit, wo jeder sie sehen und für ihre Schwäche verurteilen konnte und mit Sicherheit würde. Die junge Frau konnte nicht fassen, dass Cian es geschafft hatte, so schnell hinter ihre perfekte Maske zu blicken. Sie trug die Fassade der Arroganz wie eine Rüstung, spielte die Rolle der reichen Bitch perfekt. Sie tat es seit sechzehn Jahren und sie war verdammt gut darin. Ihre Mutter hatte ihr gezeigt, wie es ging. Ihr Stiefvater hatte mit seinen kleinen Stichelein hier und dort gekonnt jeden Makel an ihr hervorgehoben und so dafür gesorgt, dass sie sich stetig bewusst gewesen war, dass sie - ließ sie auch nur einen Moment ihre Mauern fallen - von allen anderen verurteilt und verachtet wurde. Sie war nicht perfekt. Nein, sie nicht.
Nun betrat Eddy ihr Penthouse mit Blick auf die Ha'Penny Bridge und den malerisch dahinfließenden Liffey. Die Wohnung zahlte ihr Stiefvater. Natürlich. So wie alles andere. Eddy hatte sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt und dafür nur eine schallede Ohrfeige von ihrer Mutter kassiert. Gemeinsam mit einem Du undankbare Missgeburt! Wie kannst du es wagen, die Großzügigkeit des Mannes zu verschmähen, der dich wie einen Vater aufgenommen und aufgezogen hat!
Da sie keine Kraft hatte, um eine weitere Diskussion dieser Art mit ihrer Mutter zu führen, die Richard Williams ehelichte, als Eddy neun Jahre alt war, hatte sie zugestimmt, ihn das Studium und später auch den Aufenthalt in Irland zahlen zu lassen.
Die Blondine griff nach ihrem Smartphone, als es in der Handtasche zu klingeln begann und verzog dann den Mund, als der Name ihrer Mutter darauf erschien. Wenn man vom Teufel spricht ...
"Hallo, Marielle", grüßte Eddy ihre Mutter höflich.
Marielle Williams hatte es sich immer verbeten, von ihren Töchtern Mutter oder - Gott bewahre - Mum genannt zu werden. Man hätte dadurch auf ihr Alter schließen können.
"Edith Victoria! Du hast dich nicht - wie abgesprochen - bei uns gemeldet. Du bist bereits seit Samstag in Irland und hast nicht angerufen. Das ist nicht das Benehmen einer jungen, wohlerzogenen Dame. Es schickt sich nicht, sich nicht an Abmachungen zu halten. Hältst du dies auf deiner - nun, nennen wir es Arbeit auch so?", Marielles stimme triefte vor Verachtung.
"Ich hoffe doch nicht. Wenn du schon dein Medizinstudium abgebrochen hast, um einen niveaulosen Beruf zu ergreifen - wie Politesse - dann möchte ich doch zumindest erwarten, dass du zeigst, was es bedeutet, wenn man eine Williams in seinen Reihen begrüßen darf. Selbst, wenn man nur den billigen Abklatsch bekommt."
War ja klar, dass ihre Mutter sich den Seitenhieb nicht vernkeifen konnte. Eddys kleine Schwester Sophie Magdalena war das Goldstück ihrer Eltern gewesen. Bis sie vor einem halben Jahr gestorben war.
Es ging noch einige Zeit so weiter, doch als sie sich endlich verabschiedeten, war Eddy mit den Nerven am Ende. Sie beschloss, sich abzulenken und setzte sich an ihren Laptop. Grübelnd öffnete sie die Suchmaschine im Internet und tippte: Kelten in Irland
Der Donnerstag kam schneller, als Eddy erwartet hatte und so parkte sie pünktlich zum Lunch vor dem Ol' Days. Das Pub wirkte von außen bereits in die Jahre gekommen, doch strahlte es eine gewisse Atmosphäre aus, die der Doktorandin den typischen irischen Charme vermittelte. Sie betrat den Schankraum und sah sich bestätigt. Alles sah schon sehr verlebt aus und hier und dort blätterte der Putz von den Wänden. Es war gut besucht, die Tische waren alle voll besetzt. Eddy hielt neugierig Ausschau und schweifte mit dem Blick über die Ladentheke. Besonders lustig und interessant fand die junge Britin die Innendekoration des Ladens. Alles war in einem kernigen irischen Grün gehalten. Die Tapeten und Vorhänge und sogar Wimpel und Dekoglückskleeblätter sprangen einem neongrün und leuchtend in die Augen. Selbst die Bartender trugen dunkelgrüne T-Shirts und der rothaarige, süße Kerl, der sich - wie sie jetzt sah - mit Cian an der Bar unterhielt und ihm ein Ginger Ale vor die Nase stellte, krönte das Ganze mit einem farblich passenden Zylinder.
Eddy schlängelte sich durch die Menge und tippte Cian leicht auf die Schulter. Der große Mann drehte sich herum und lächelte sie verhalten, aber nicht unfreundlich, an.
"Setz dich, Eddy. Schön, dass du es geschafft hast. Hier ist die Karte. Ich kann alles empfehlen, was drauf steht. Martha ist eine hammer Köchin." Eddy schmunzelte über diese offensichtliche Begeisterung. Sie bestellte ein Irish Stew und ein Lagerbier, Cian blieb bei seinem Ginger Ale und orderte ein Steak mit Ofenkartoffel. Als das Essen kam, stupste sie plötzlich eine feuchte Schnauze am Arm und Eddy zuckte erschrocken zurück. Dabei flog ein wenig von dem Eintopf auf ihre engen Jeans. Cian sah sie betreten an und schimpfte Partner aus. Dieser ließ die Ohren so bedröppelt hängen, dass Eddy einfach anfing zu lachen.
"Alles gut, Cian. Dafür gibt es Waschmaschinen. Aber ich muss schon sagen, wäre Partner ein Dackel, wäre es einfacher. Dann käme er gar nicht so weit an mich heran", zwinkerte Eddy.
"Stimmt. Allerdings würde ein Typ wie ich mit einem Dackel doch ein wenig albern aussehen", flachste Cian zurück. "Du kannst ihn übrigens gern mal streicheln. Partner ist ganz zahm. Er liebt es, wenn man ihn zwischen den Augen krauelt."
Vorsichtig streckte Eddy die Hand nach dem Irish Wolfhound aus und Partner schloss genussvoll die Augen, als sie mit ihrer Hand das struppige Fell an seinem großen Kopf rubbelte. Eddy lächelte strahlend. Sie unterhielten sich noch etwas und Cian erklärte ihr, dass Partner ihn vor einem Anfall warnte, indem er eine Veränderung in seiner Körperchemie und dem Puls oder Blutdruck wahrnahm und ihn durch Stupsen in die Armbeuge oder das Bein darauf aufmerksam machte. Drohte eine Synkope und ließ sie sich durch Medikamente nicht mehr verhindern, nahm der Hund auch das wahr und zog Cian am Ärmel, sodass er sich rechtzeitig hinlegen konnte und nicht wie ein gefällter Baum umfiel. Bei drohendem Herzversagen und Atemstillstand, begann Partner nach Hilfe zu bellen. Eddy war fasziniert.
Schließlich wandten sie sich dem Profil zu, dass sie angefertigt hatte. Im Nachhinein war es ihr ziemlich peinlich. Sie war so eifrig gewesen, dass sie bei der Erstellung alles in den Wind geschossen hatte, was sie im Studium gelernt hatte. Cian zeigte auf einen Abschnitt: "Es ist ja nicht alles Käse, was du kombiniert hast. Du hast schon recht, was den Kleidungsstil betrifft. Beide Frauen waren auffallend aufreizend angezogen. Meine Schwester trug ein Sommerkleid mit weitem Rückenausschnitt und hohe Stilettos, Ms Six einen Minirock und eine Bluse, die so tief ausgeschnitten war, dass ihre Brüste beinahe aus dem Ausschnitt quollen. Dass ihr Mantel offen Stand, obwohl es so kalt war an dem Abend, lässt ebenfalls Spielraum übrig. Dein Fehler bestand einfach darin, daraus zu schließen, dass es sich um Prostituierte hadelte. Du hast nur auf einen Aspekt geachtet und alles andere außenvor gelassen. Wie die Schauplätze."
"Du meinst die Tatsache, dass Mrs. O'Malley auf einem Friedhof und Ms Six in einer Gasse in der Nähe des Colleges ermordert wurde."
Cian brummte zustimmend und bedeutete ihr, weiter zu denken.
"Ich hätte mir überlegen können, dass dies nicht die üblichen Plätze sind, an denen sich Prostituierte herumtreiben, oder Schauplätze, die Freier mit ihren Eroberungen aufsuchen."
"Richtig. Was spricht noch gegen deine Theorie?"
"Ich dachte, dass der Täter sich die Damen ausgesucht hat, weil niemand sie vermisse. Aber hätte ich darauf geachtet, wer sie identifiziert hat, wäre mir aufgefallen, dass es sich dabei um ihren Bruder beziehungsweise ihren Vater handelte. Sie hatten also beide Familie. Und mir wäre aufgefallen, dass du Pheobe O'Malleys Bruder bist", Eddy sah Cian entschuldigend an, doch dieser winkte nur gutmütig ab.
Eddy wollte gerade zu einem neuen Thema ansetzen, als eine wunderschöne farbige Göttin in einem smaragdgrünen Minkleid und Korkenzieherlockenpracht neben Cian trat. Sie musste etwa Anfang zwanzig sein und hatte Modelmaße vom Feinsten.
"C! Ich hätte ich mir denken können, dass ich dich und Mitch hier finde."
"Oh mein Gott, Annabeth. Du bist wieder im Lande. Lass dich ansehen, Kleines. Dreh dich für mich", lachte Cian überschwänglich und die junge Frau kam der Bitte vergnügt nach.
"Mitch, sieh nur, Beth ist wieder da!"
Der rothaarige Bartender kam breit grinsend herbei und umarmte Beth über den Thresen hinweg.
"Was machst du hier, Beth? Genug vom Leben im Luxus als Model?", fragte Mitch zuckersüß.
"Nein, sicher nicht. Jeden Tag eine andere Stadt und immer genug Spaß mit sexy Männern", zwinkerte sie. Eddy errötete bei dem Thema leicht. Beth verabschiedete sich, als sie einige alte Bekannte entdeckte und Cian drehte sich zu Eddy herum.
"Eine Freundin von dir?"
"Eher eine Art kleine Schwester. Das ist Beth Bates, Captain Bates Tochter. Ihr großer Bruder Brian und meine Geschwister waren auf der High School unzertrennlich und Beth ist ihnen wie ein Welpe hinterhergelaufen. Es gab mal ein kurzes Techtelmächtel zwischen ihr und meinem kleinen Bruder Phelan, aber das hielt nicht lange."
Eddy nickte und sah der anderen Frau hinterher.
"Was ist mit dir? Hast du Geschwister?", fragte Cian, das Gespräch am Laufen haltend.
"Nicht mehr ... Ich hatte eine jüngere Schwester."
Sie schwieg einige Augenblicke. Nicht, weil sie glaubte, Cian nicht vertrauen zu können, sondern, weil sie wusste, dass ihre Mutter nicht wollte, dass die Geschichte um Sophie bekannt wurde. Doch sie gab sich einen Ruck, ihre Art der Rebellion. Ein kleiner süßer Sieg über Marielle.
"Sophie starb letztes Jahr im Dezember. Kurz nach Weihnachten fand ich sie bei uns im Garten. Es hatte in der Nacht zuvor geschneit. Sophie hatte seit Jahren Drogenprobleme, aber meine Eltern wollten es nicht wahrhaben. Für sie war meine Schwester stets der perfekte kleine Engel."
"Starb sie an einer Überdosis?", Cians Stimme war ganz samten und behutsam. Eddy schüttelte den Kopf.
"In dieser Nacht versuchte Sophie heimlich durch ihr Fenster zurück ins Schlafzimmer zu klettern. Ich war über die Ferien zu Besuch in meinem Elternhaus und schlief. Sie stürzte ab und fiel. Nicht tief, aber sie war so benebelt, dass sie einfach dort in den Rosenbüschen liegen blieb. Sie erfror zwischen dem Gestrüpp. Ich fand sie, als ich sie am nächsten Morgen suchen ging, weil sie nicht zum Frühstück auftauchte und sie nicht in ihrem Zimmer war."
"Wie alt -"
"Sie war siebzehn."
Cian zog Eddy in eine Umarmung. Nicht lang, aber es reichte, um ihr das Gefühl zu geben, nicht allein mit ihrem Kummer zu sein.