CN: Sucht (erwähnt), Alkohol (erwähnt)
Sich den dritten Kaffee am frühen Morgen eingießend, stand Cian in der kleinen Küche seiner Firma und wälzte Gedanken. Wie er es am gestrigen Abend getan hatte, nachdem er die Unterhaltung des Professors mit dem Unbekannten belauscht hatte. Wie er es während des doch zugebenermaßen recht ablenkenden Dinners mit Eddy im Pub hätte tun sollen. Für einige Zeit hatte er da zumindest ein wenig abschalten und den Moment mit dieser wundervollen Frau genießen können, die ihn endlich wieder angelächelt hatte. Ein Sieg in einer noch nicht gänzlich verlorenen Schlacht um die Hoffnung auf Vergebung.
Doch in der Nacht hatte er weiter gegrübelt. Es hatte den Kriminalpsychologen nicht losgelassen, was O'Neal gesagt hatte. Über die Jugend, die für die Sünden der Väter zu büßen hatte. Daher hatte er das Treffen seines Teams spontan zu seinem Firmensitz verlegen lassen. Denn er hielt sich an sein Wort, musste aber eine bestimmte Person um einen Gefallen bitten.
Cian trat hinaus in den offenen Wartebereich und hinüber zu den Büros. Die Mitarbeiter teilten sich Gemeinschaftsräume. Nur Sam und er selbst besaßen gegenüberliegende einzelne Eckbüros, die auch zu Befragungszwecken und Beratungen genutzt werden konnten. Ansonsten gab es zwei separate Behandlungsräume. Megan und Jorge waren da, doch von dem Gesuchten fehlte jede Spur.
"Dann sehen wir uns nächste Woche um dieselbe Zeit", hörte er Sam hinter sich. Cian drehte den Kopf und erblickte seine Geschäftspartnerin, wie sie sich von ihrem Acht-Uhr-Termin verabschiedete. Die pinken Strähnen im ansonsten schwarzen Haar, ließen die Haut der slawischen jungen Frau schimmern. Zora nickte lediglich, wollte bereits forschen Schrittes vorbei Richtung Ausgang davon marschieren, als Cian sie doch aufhielt.
"Zora!", erhob Cian seine Stimme, um sie zu stoppen, "ist Fab schon auf dem Weg hierher? Hast du ihn heute Morgen noch gesehen, oder war er schon los? Sein Arbeitsbeginn war vor über einer Stunde."
Aus katzengrünen Augen wurde er kritisch angesehen, als Zora die Luft seufzend durch ihre vollen Lippen stieß und den Kopf schüttelte.
"Er war schon seit vorgestern nicht mehr in der WG, C. Vigo hat ihm gesagt, er soll weg bleiben, nachdem er sich vollkommen bescheuert aufgeführt hat, weil der ihn auf irgendwelche Flecken angesprochen hat. Er darf gern wiederkommen, wenn er wieder er selbst ist."
Damit ließ sie den Kriminalpsychologen stehen. Cian sah der jungen Frau hinterher. Sorge und Unverständnis für seinen Freund rumorten in seinem Magen. Er versuchte es wiederholt auf dessen Smartphone, doch ohne Erfolg. Schließlich trollte Cian sich in sein Büro und begab sich zunächst selbst an sein Projekt. Bis sein Teammeeting angesetzt war, hatte er noch einige Stunden Zeit.
Gegen halb elf Uhr trudelte sein Freund schließlich ein. Mit Pauken und Trompeten schepperte der sonst stets akkurat hergerichtete Analyst ins Büro und trat einen ihm im Weg stehenden Mülleimer einfach zur Seite. Von dem Lärm aufgeschreckt, sah Cian von seinem Bildschirm auf und erhob sich neugierig von seinem Schreibtischstuhl. Vor sich hin fluchend stapfte Fab an ihm vorbei, die Blicke ihrer Klienten im Rücken, die Megan zu beschwichtigen versuchte.
Der Kriminalpsychologe hielt unwillkürlich die Luft an, als der Nerd an ihm vorbeirauschte. Verärgert trat er aus dem Türrahmen und setzte dem anderen nach. An dessen Schreibtisch holte er ihn ein und stützte sich mit verkniffener Miene auf der Tischplatte auf.
"Willst du irgendwas sagen?", fragte Cian provokant, erntete jedoch lediglich ein Schnauben von seinem Freund und Mitarbeiter, "in der Regel entschuldigt man sich, wenn man drei Stunden zu spät zur Arbeit erscheint. Vor allem, wenn man dann auch noch riecht, wie eine Schnapsbrennerei."
"Projeziere deine Probleme nicht auf mich, C", kam es schnippisch, "ich und Quin haben eine gute Zeit im Moment. Spar dir deine Pseudofürsorge. Ich brauche sie nicht."
Getroffen schnappte Cian nach Luft, nur, um im Anschluss die Kiefer aufeinander zu pressen. Schön, der Analyst wollte es auf die harte Tour. Dann konnte der Kriminalpsychologe ihm leider nicht anders helfen. Mit tief gefurchter Stirn richtete er sich auf und verschränkte die Arme vor der muskulösen Brust. Mit einem Räuspern zog er Fabs Aufmerksamkeit auf sich.
"Das ist deine zweite Abmahnung, Fab. Ich werde den Vermerk in deine Akte aufnehmen. Noch so eine Aktion und du fliegst achtkantig hier raus. Ich an deiner Stelle würde mir gut überlegen, ob all das es wert ist, meine Freundschaften zu kappen. Sieh zu, dass du wenigstens die Arbeit für heute fertig bekommst, du bist maßlos im Verzug."
Cian ließ Fab mit offenem Mund zurück. In seinem Bauch zog es schmerzhaft. Bittere Enttäuschung, Wut und Wehmut machten sich in dem Kriminalpsychologen breit. Niemals hätte er gedacht, dass irgendetwas die Freundschaft zu dem kleinen Nerd gefährden könnte.
Lustlos machte er sich anschließend in seinem Büro wieder an die Recherche. Wirklich weiter kam er damit nicht, wusste er doch nicht so geschickt mit den Suchmatrizen umzugehen, wie Fab es gekonnt hätte. Frustriert fuhr Cian sich über das müde Gesicht und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Noch eine knappe Stunde, bis sein Team nach und nach hier aufschlagen würde. Außer seiner Vermutung, aufbauend auf einem belauschten Gespräch des eigentlich so gut wie entlasteten Hauptverdächtigen, hatte er seinen Leuten nichts wirklich Brauchbares vorzuweisen. Leicht den Kopf schüttelnd, um die trübsinnigen Gedanken wieder zu vertreiben, wollte Cian sich gerade wieder an einen neuen Versuch wagen, als es an seiner Tür klopfte.
"Herein!", bat er und staunte nicht schlecht, als Fab mit verkniffener Miene auf der Schwelle erschien. Mit einer Hand winkte er den Analysten herein, deutete auf einen der Stühle vor seinem Schreibtisch. Nur zögerlich leistete der Nerd folge und hockte sich steif ganz vorn auf den Rand der Sitzfläche. Fab pfefferte eine braune Akte vor Cian auf den Tisch. Der Kriminalpsychologe zog irritiert die Augenbrauen in die Höhe, nahm sie aber auf und begann, darin zu blättern. Nach einigem Überfliegen, sah er mit großen Augen zu dem Analysten hinüber.
"Du hattest mich darum gebeten, deinem deutschen Freund zu helfen, was die Sache mit dieser Evelina Havelka angeht. Sie ist eine miese Frau mit fiesen Tricks, wie du siehst. Wenn er eines ihrer Opfer sein sollte, dann kannst du nur hoffen, dass er gute Anwälte hat, die den Schaden kitten können, wenn der so ein hohes Tier in seiner Branche ist."
Nickend stimmte Cian dem jungen Mann zu, während er beschloss, noch vor Feierabend Bates um einen großen Gefallen zu bitten und anschließend Christopher Farrenstein zu informieren. Was ihn allerdings umso mehr überraschte, war, dass Fab Wort gehalten hatte.
"Danke", sagte Cian ehrlich und lächelte Fab versöhnlich an.
Der Analyst zuckte die schmalen Schultern und erhob sich wieder, um seinen Vorgesetzten und - ja, waren sie noch Freunde? - allein zu lassen. Mit der Hand auf der Klinke verharrte Fab noch einmal und drehte sich halb zu Cian herum. Dieser fing den Blick aus den blauen Augen auf und hielt ihn fest.
"Bist du jetzt zufrieden? Nur noch Geschäftliches und das war's?", brachte der Analyst leise und doch mit deutlich heiserer Stimme hervor.
"Bist du es, Fab? Zufrieden, wie die Dinge sich entwickeln?"
Die Sekunden verstrichen, sein alter Freund brachte keine Antwort über seine Lippen.
Oder vielleicht war es genau das, was Cian genau die Informationen lieferte, die er brauchte. Fab hatte sich entschieden. Gegen ihn und für diesen Quin. Warum es überhaupt zu einem Ultimatum gekommen war, lag für Cian in vollkommenem Nebel. Es tat weh, als der kleine Nerd seinen Blick senkte und die Tür öffnete.
"Ich löse mich dann mal in Luft auf, bevor die anderen hier aufkreuzen", murmelte Fab mit einem Grinsen auf den Lippen, das für Cian einfach nur falsch wirkte, "ich habe bereits vorgearbeitet. Den Rest der Woche bin ich im Homeoffice - ist mit Sam abgesprochen."
Weg war er und Cian blieb mit einer inneren Kälte zurück, die er auch nicht abschütteln konnte, als Eddy mit einem Kaffeebecher aus ihrem Lieblingscafé und einem Scone seinen Arbeitsplatz betrat.
Als sich schließlich sein Team eingefunden hatte, berichtete Cian von dem Gespräch zwischen O'Neal und dem Unbekannten, sowie seiner Theorie. Freddy holte eilig ein Whiteboard aus dem Gemeinschaftsraum, um die nächste Runde Faktenhören und Bauchsagen starten zu können. Cian versuchte die leise Stimme in seinem Kopf zu ignorieren, die ihm zuflüsterte, dass demnächst etwas Schreckliches geschehen würde. Fab war vielleicht impulsiv und risikofreudig. Aber er hatte in Quin einen reifen Partner gefunden, der ihn schon bremsen würde. Hoffentlich, denn er selbst konnte diesen Part nun nicht mehr übernehmen.