CN: Mord (erwähnt), Vergewaltigung (erwähnt), körperlich Verletzungen (erwähnt), psychotischer Fanatismus (erwähnt), Trauma (impliziert)
Der nächste Tag kam für Cians Geschmack viel zu früh. Vielleicht, weil er die Nacht damit verbracht hatte, all die Verbindungen, die er und sein Team bisher hatten knüpfen können ans Whiteboard zu pinnen, feinsäuberlich zu dokumentieren, um eine Visualisierung zu ermöglichen. Eventuell, da er sich noch immer mit einem kohlrabenschwarzen Gewissen herumschlug, das ihm immer und immer wieder vor den Kopf knallte, schuld an Fabs Dilemma zu sein. Zu Recht. Definitiv, aufgrund des immensen Kaffeekonsums. Inzwischen floss mit Sicherheit Koffein durch seine Adern.
Ob sich dieser Aufwand gelohnt hatte, würde sich in den kommenden Stunden zeigen, der Zeiger der Uhr über der Tür zum Besprechungsraum des Reviers rückte in diesem verheißungsvollen Moment auf halb drei. Das Meeting begann.
Seufzend rieb sich der Kriminalpsychologe über das fahle Gesicht und wandte sich anschließend zu seinem Team herum. Jeder einzelne Mensch in diesem Raum sah ihn erwartungsvoll an. Ihn, und den Mann, der sich an der langen Fensterfront herumdrückte. Mit einem kurzen Wink, bat er Fab an seine Seite, der sich nur scheu näher traute.
"Ich denke, ihr habt die neuste Aufzeichnung zum Fall bereits alle gesehen und meinen Bericht gelesen. Fab hier wird sich wieder zu uns gesellen, aber nicht an den Profiling-Runden teilnehmen."
Es folgte ein Gewusel, in dem jeder den Analysten mit einem herzlichen Lächeln willkommen hieß. Vor Erleichterung war es beinahe, als schiene dem Kurzen die Sonne direkt aus dem Herzen, hatte Cian doch deutlich gespürt, wie schwer es Fab gefallen war, zurückzukehren. Vor allem vermutlich, aufgrund seiner Verwicklungen im Fall, aber auch, wegen seiner Aktion, in der er Cians und Eddys Beziehung verraten und gleichzeitig den Kriminalpsychologen geoutet hatte.
"Setz dich", raunte er dem Analysten zu, der sich schließlich unsicher neben Eddy niederließ, die mit freundlichen Augen einen Stuhl heranzog.
"Wie ihr sehen könnt", kam Cian dann auf den Ernst der Lage zu sprechen, "habe ich euch hier schon einmal unsere bisherigen Überlegungen aufgezeichnet und sie mit den entsprechenden Indizien anhand der Zeugen- und Verdächtigenaussagen sowie der Aktenlage abgesichert. Wir müssen jetzt - wie in einem Puzzle - das Gesamtbild zusammenfügen."
Eifriges Nicken bei allen Beteiligten.
"Schön", freute sich der Kriminalpsychologe auf ein Foto deutend, "beginnen wir bei meinem Vater."
Eddy erhob sich, schritt nach vorn, eine Akte in der Hand und die Stirn konzentriert gekräuselt. Cian kam nicht umhin festzustellen, wie niedlich die Doktorandin so hochprofessionell in ihre Arbeit vertieft aussah, riss sich aber zusammen, bevor er zu tief in ihrem Anblick hätte versinken können.
"Lt. Sean Finnigan", begann Eddy geschäftig, "der Ermittler der Mordkommission arbeitete mit dem damals noch Lt. Abraham Bates an einem auffälligen Doppelmord in Dublin. Hellhörig ist Finnigan geworden, als er zufällig erfahren hat, dass es im Geburtsort des einen Opfers ebenfalls eine Mordserie gab. Auffälligkeiten in den MOs gab es hier allerdings noch nicht. Nur die Wahl der Opfer war ähnlich. Junge, weibliche Studentinnen der musischen beziehungsweise geisteswissenschaftlichen Fächer. Im Verlauf konnte Finnigan eine Erkenntnis erlangen. In dieser Zeit wurden weitere junge Frauen getötet, diesmal in Schottland. Auffällig war allerdings eine Neuerung im Vorgehen des Täters."
Als wolle Eddy die Spannung steigern, schielte sie an dieser Stelle ihres Berichts von der Akte nach oben. Cian beobachtete, mit den Händen lässig in den Hosentaschen seiner verwaschenen Jeans vergraben, wie die Beamten Brannegan und Schwarz sich einen neugierigen Blick zu warfen und Freddy nervös an seinem Fingernagel kaute.
"Die da wäre?", hielt es Laudrey scheinbar nicht mehr aus, war der Geistliche auf seinem Stuhl doch bis zum Rand der Sitzfläche gerutscht.
"Die biblischen Worte", murmelte Fab der Tischplatte entgegen.
Überrascht zog Cian die Augenbrauen in die Höhe.
"Woher weißt du, dass die Worte aus der Bibel stammen?"
"Erster Korinther, Vers Dreizehn", gab der Analyst achselzuckend kund und begann zu rezitieren, nach kurzem erstauntem Zögern, stieg der Priester in ihrer Runde mit ein.
"... sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles ... Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen."
Schwer schluckte der Kriminalpsychologe, als die beiden Männer endeten, der eine die Hände bestürzt gefaltet, der andere beinahe andächtig die Mundwinkel im Schmerz verzogen.
Im Raum war es still, man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Doch Cian erkannte hinter dieser allumfassenden Abwesenheit von Lärm etwas Tiefgreifenderes. Eine Erkenntnis, die sich in ihnen allen festsetzte. Die Täter glaubten, die Opfer - diese Frauen - litten und sie erlösten sie von ihrem Leid. Aus einer verqueren Liebe, aus Passion und Begehren, falschem Fanatismus. Eben pathologischen Steigerungen des Glaubens, der Hoffnung und ... der Liebe.
Cians Blick wanderte zu Fab, teilte mit ihm offenkundig dessen Gedanken, so, wie ihre Blicke aufeinandertrafen. Es musste nicht unbedingt das Begehren zum Opfer selbst sein, richtig? Auch die Täter untereinander konnten füreinander empfinden. Eine ähnliche Obsession, einem Liebeswahn verfallen. Vielleicht nicht sie alle. Aber -
"Das hat mein Vater gemeint, als er geschrieben hat, zwei dominante sind einer zu viel, es braucht auch einen devoten", schoss es aus dem Kriminalpsychologen heraus.
Eddy starrte ihn entgeistert an. Nach der kollektiven Erkenntnis hatte die junge Doktorandin offenbar gehofft, mit ihrem Vortrag fortfahren zu können. Nun, manchmal kam es im Leben nicht, wie man es gern hätte, da musste man schlicht spontan den Plan umwerfen und flexibel reagieren.
Daher drehte sich Cian zum Whiteboard herum und pinnte O'Neals Konterfei in die Mitte, nachdem er die Fläche herumgedreht hatte. Tabula Rasa.
"Was wir wissen", begann er, "ist, dass mein Dad hinter einem Mörder her war, der in den 80er Jahren junge Studentinnen tötete, indem er sie vergiftete und schändete. Um ihre Leichen Beschwörungsformeln wie bei Teufelsaustreibungen. Zur selben Zeit in Deutschland, wurden auf der Insel Föhr drei Frauen ermordet. Der Täter erstach seine Opfer, machte sie mundtot und blendete sie. Junge Frauen, Musikerinnen. In ihre Körper waren die aus dem Bibelvers stammenden Worte Glaube, Liebe und Hoffnung geritzt."
Um das Ganze zu verdeutlichen, fand nun ein Foto eines damals noch recht jungen blonden Mannes seinen Weg an das Board neben O'Neal.
"Ebenfalls zu dieser Zeit", sagte Cian, kramte Magnet und ein weiteres Bild hervor, "wurde in Frankreich eine Leiche gefunden. Eine junge Frau, geschändet und verprügelt. Eine weitere junge Frau, ebenfalls Opfer des Täters wurde vergewaltigt und erlitt schwere körperliche wie seelische Verletzungen. Man hat sie bei der getöteten Frau gefunden. Sie ist im Anschluss nach Irland ausgewandert, um dort ihr Studium der Chemie fortzusetzen."
Nun verband der Kriminalpsychologe alles mit roten Strichen, bevor er das Bild seines Vaters über die drei Verdächtigen setzte.
"Mein Vater hat herausfinden können, dass sich eine Korrespondenz zwischen O'Neal und Olaf Munster entwickelt hat. In seinem ersten Brief schreibt der Professor, wie angetan er von dessen Arbeit wäre und ob er Tipps habe, um die seine zu verbessern. Kurz darauf, taucht in Frankreich die erste Leiche auf, die denselben MO aufweist, wie in Deutschland. Dann in Schottland. Vergleicht man die Monate der Morde mit O'Neals Tätigkeiten als Gastdozent am St. Andrews College und dem College International de Cannes, dann finden sich dort Parallelen. Auffällig ist nur, dass auch Christine Dubois zu diesen kritischen Intervallen stets Stipendien an den entsprechenden Universitäten angenommen hat."
Aus dem Augenwinkel konnte Cian erkennen, wie Eddy sich mit der Ecke der Akte an die Unterlippe tippte.
"Was ist mit dem Deutschen?"
Verwirrt hob er die Schultern, doch Freddy schien zu verstehen, denn der Forensiker stieß einen Laut der Zustimmung aus.
"Hat der seinen MO auch angepasst?", präzisierte der ältere Mann Eddys Idee.
Verstehend nickte Cian und gab Fab ein Zeichen, der daraufhin auf seinem Tablet herumtippte. Einige Sekunden später erschien die digitalisierte Version eines eingescannten handschriftlichen Briefes an die Wand projiziert.
Hoch geschätzter Freund,
Du hattest Recht, seit ich dazu übergegangen bin, den armen Schönen meine Gnade zuteilwerden zu lassen, indem ich sie vorab auch von innen reinige, scheint es, als füge sich meine Arbeit vollständiger ineinander.
Was bin ich froh! Hatte ich doch die Befürchtung, meine Worte könnten nicht reichen, um ihre Seelen zu retten und uns zu schützen, so scheint sich nun alles an den rechten Platz zu setzen.
Mit Genuss habe ich von Deinem neusten Werk in der Zeitung gelesen. Ich gebe zu, es ist eine Wohltat, zu wissen, dass dort draußen noch jemand ist, der sich der Menschheit annimmt und so für sie kämpft, wie ich es tue.
Doch sei auf der Hut, mein Freund!
Ich habe durch Zufall von einem Bullen erfahren, der sich in deiner Nähe herumtreibt und seine lange Nase in Dinge steckt, dessen Horizont er niemals wird begreifen können. Auch an meinem Ort haben die Bullen lange Ohren bekommen, hat dieser Sean Finnigan sie aufgehetzt.
Gehab dich Wohl
O.M.
"Zwei Wochen später wurde Munster gefasst. Auf der Flucht wurde er leider erschossen, daher konnten die deutschen Kollegen ihn nicht mehr befragen und die meisten Beweise und Aufzeichnungen gerieten einfach in Vergessenheit. Eine Verbindung wurde nie hergestellt, weil die Briefe einfach wegsortiert wurden", meinte Cian betrübt.
Kopfschüttelnd verschränkte Brannegan die Arme, äußerte leise seinen Unmut über seine Kollegen, während die Frauen des Teams sich die anderen Briefe besahen.
"Wann wurde Dubois gefasst?", fragte Susana.
"Einen Monat später. Mein Dad hatte die Verbindung zu den Universitäten hergestellt, konnte aber die Freundschaft zwischen O'Neal und Dubois nicht eindeutig beweisen. Dann aber wurde der Mann getötet, der sie damals angegriffen und ihre Freundin getötet hatte."
"Auf dieselbe Art, wie die jungen Frauen in Deutschland und Schottland", mutmaßte Schwarz mit eng zusammengezogenen Augenbrauen.
Der Kriminalpsychologe bestätigte brummelnd.
"Sie wurde genschnappt, weil sie mit ihrem Auto auf der Flucht gegen einen Baum gefahren ist", erklärte Eddy dann die näheren Umstände, "das Verrückte war nur ... sie saß nicht am Steuer. Sie beging kurz darauf in U-Haft Suizid."
Beinahe musste Cian über das kollektive ungläubige Luftschnappen schmunzeln. Jep, das war auch für ihn ein Schocker gewesen, als er die alten Akten seines Vaters gesichtet hatte.
"Wer hat das Auto dann gefahren?", wollte Fab wissen.
Es freute den Kriminalpsychologen, endlich wieder ein wenig Leben in dem Analysten sprühen zu sehen. Mehr, als dieser gebrochene Blick, die gekrümmte Körperhaltung oder das abwesende Abschweifen an dunkle Orte in seinem Inneren, wann immer der Nerd glaubte, niemand würde es bemerken.
"Keine Ahnung", gab Eddy zu, "den Fahrer hat man nie gefunden."
"Allerdings wurde O'Neal einige Stunden später aufgrund eines Hüftschadens und mehrfach gebrochenen Beins in einem Krankenhaus in Grasse behandelt, weil er angeblich vor seinem Apartment von einem Auto angefahren worden sein soll, dessen Fahrer Fahrerflucht begangen hat. Natürlich -"
"Wurde dieser Wagen niemals aufgespürt", beendete Mary-Ann Cians Satz.
"Ganz genau. Es folgt eine Phase, in der es keine weiteren Morde gibt. Bis - na ja - also - nun - eben -"
Hilflos blickte Cian zu Eddy hinüber, die mitfühlend seinen Arm streichelte und seine Hand in die ihre nahm. Zärtlich drückten ihre Finger zu, schenkten Kraft und Zuwendung.
"Bis Pheobe O'Malley aufgefunden wurde. Die Botschaft dahinter ist vermutlich jedem von uns klar."
Oh ja, das war sie. Es war pure Rache an Sean Finnigan, ein Vergeltungsschlag. Sein Vater hatte O'Neal die für ihn wichtigsten Menschen in seinem Leben genommen. O'Neal würde nicht eher ruhen, bis er auch das Leben derer zerstört hatte, die Sean Finnigan zu seinen Lebzeiten geliebt hatte. Pheobe war bereits sein erstes Opfer gewesen, nun hatte er es auf Cian abgesehen. Doch so leicht ließ der Kriminalpsychologe sich nicht einschüchtern. Er würde den Professor zur Strecke bringen, was es ihn auch kosten mochte.