Jede Emotion aber ist […] für einen bestimmten Zweck gedacht. Weil die Götter aber sahen, dass der Zorn die Menschen zu mächtig werden ließ, entschlossen sie sich, dass er seine Kraft nur in von ihnen gewollten Situationen behielt, während er in anderen zu großem Unglück führen kann.
Aus: Emerat, Priesterin der Lorisath, in: Eine Lehre über die Welt, veröffentlich im 1. Schattentag des Eraz’.
„Warum sind wir hier? Ich versteh’s nicht.“ Immer wieder blickte Melram sich um, während sie sich durch die Menge drängten. Es waren so viele Menschen hier. Nicht einmal zu Gerichtstagen entstanden solche Ansammlungen.
„Du verstehst vieles nicht, Melram“, knurrte Lubiam, während er zwei Jungspunden zunickte, die seiner massigen Gestalt Platz machten. Auch Melram nutzte die Lücke rasch aus.
Sein Begleiter hatte es sehr eilig, sodass Melram Mühe hatte, ihm zu folgen. Weshalb kam er denn überhaupt mit? Was wollte er hier auf dem Platz, wo sein Vater gestorben war und wo die Erinnerungen als dunkle Schatten lauerten? Vermutlich weil Lubiam wusste, was zu tun war. So war es immer, auch wenn Melram es nie hatte akzeptieren können „Wie soll uns das denn helfen, Hiratja zu befreien?“, fragte er, als er ihn endlich eingeholt hatte.
Lubiam drehte sich zu ihm um. „Melram! Hörst du einmal zu, was die Menschen um dich herum beschäftigt?“ Er breitete die Hände aus, vermutlich wollte er ihm die Anwesenheit der anderen Menschen begreiflich machen. Als ob Melram das nicht bereits zuvor gemerkt hätte. Lubiam schnaubte. „Du drehst dich nur im Kreis deiner eigenen Bedürfnisse. Du bist ein verdammter Egoist, das ist es.“
Melram zuckte nur mit den Schultern. Es war falsch, dass er ein Egoist war – er sorgte sich um seine Familie, Hiratja, seine Freunde. Um sie zu schützen, tat er alles. „Und? Was geht mich dieser Fürst an? Ich kenne ihn nicht. Gut, vielleicht bezahlt er fair, aber ansonsten?“ Ratlos blickte er zu dem Podest herauf, zu dem Lubiam hinsteuerte. Der Fürst sollte dort heute sprechen, hatte man ihm gesagt. Und Lubiam hatte natürlich hingehen müssen. Und natürlich machte er jetzt wieder ein Drama daraus.
Prompt verdrehte dieser die Augen und senkte die Stimme ein wenig, als er die Blicke der sie umgebenden Menschen bemerkte. „Verdammt Melram. Denk doch wenigstens einmal in deinem Leben nach. Das da bedeutet, dass der Hochtempel sich in Kantigarks innerste Angelegenheiten einmischt. Ich möchte wetten, dass er uns seine Abdankung verkündet.“
Das interessierte Melram nun doch. Seit er sich erinnern konnte, regierte Fürst Antirehm hier. Er kannte nichts anderes. „Woher weißt du das?“
„Im Gegensatz zu dir kann ich mehr kombinieren als eine Summe aus ‚Oh Hiratja ist gefangen und wir müssen sie befreien’.“ Lubiam zehrte Melram am Arm beiseite, als sich eine Truppe Soldaten rücksichtslos einen Weg durch die Menge bahnte und eine Gasse formte. „Von hier sehen wir nichts“, schimpfte er und wollte Melram weiterziehen, doch dieser befreite seinen Arm und folgte seinem älteren Freund lieber freiwillig. „Jetzt hör mir einmal zu“, zischte Lubiam leise, „mit Antirehms Rückkehr würde normalerweise das normale Rechtssystem weiterlaufen, auch die Verhandlungen von Tempelrecht würden wieder aufgenommen werden.“
Ungeduldig nickte Melram, auch wenn Lubiam, der vor ihm ging, das nicht sehen konnte. „Ja, so war es früher auch.“
Sie entfernten sich wieder von dem Podest, liefen auf den Rand des Platzes zu. Das Vorwärtskommen gestaltete sich als immer schwieriger. Von allen Seiten – außer dort, wo die Soldaten wachten – strömten Menschen herbei. Sie standen in den Vorgärten der Hausbesitzer, die zornig versuchten, sie davon zu jagen. Ganze Familien drängten sich auf den Dächern der umliegenden Gebäude, Frauen hielten ihre Säuglinge im Arm, Männer hoben ihre Söhne auf die Schultern. An den Rändern des Platzes bemerkte Melram die Jungen, die immer nahe der Ausgänge blieben und nur kurz in die Menge eintauchten. Münzen glänzten in ihren vor Schmutz starrenden Händen. Es war ein gefährliches Geschäft, das sie dort ausübten. An anderen Tagen hätte Melram vielleicht Mitleid empfunden und sich an seine eigene Kindheit erinnert, aber jetzt war ihm das gleichgültig. Endlich erreichten sie einen Platz, der Lubiam zu genügen schien. Eine Reihe von mit einer Kette verbundenen Pfeilern führte hier bis zu dem Gerichtsgebäude, wo auch Melrams Vater verurteilt worden war. Jetzt stand die Menschenmenge hier so dicht wie anderswo, aber Lubiam stellte sich einfach auf einen der Pfeiler, sodass er über sie hinwegsehen konnte. Da der eine Pfeiler zu klein für sie beide war und die anderen besetzt waren, musste Melram unter ihm stehen bleiben.
„Setze das Gestern nicht mit Morgen gleich“, meinte Lubiam, ohne ihn anzusehen. Auf der anderen Seite des Platzes tat sich etwas. Schreie, Rufe und immer wieder der Name Antirehm. Melram war kein sonderlich kleiner Mensch, aber selbst er vermochte es nicht, über die Köpfe vor sich hinweg zu blicken. Dass sich etwas auf der Tribüne tat, konnte er noch erkennen. „Ich glaube nicht, dass wir das Weibsstück da vorne so schnell loswerden“, zischte Lubiam. Er meinte wohl die Hohepriesterin. „Sie wird nicht wieder gehen, als wenn die ganze Stadt nach ihrem Willen restauriert ist. Und ich wette mit dir, dass das Tempelrecht nun wieder allein im Hochtempel verhandelt wird.“
„Aber das…“ Melram konnte sie nicht sehen, aber in diesem Moment begriff er, dass sich mit der Wiederkehr Antirehms alles ändern konnte und dass es ihn doch etwas anging, was außerhalb seiner Familie passierte. Nicht etwa weil ihn das interessierte, sondern weil die Mächtigen ihn mit ihren Spielen nicht in Frieden lassen und immer einen Einfluss auf ihn nehmen würde.
„Es bedeutet, dass Hiratja auf den Himmelsfels gebracht werden würde“, führte der Gesprächspartner den Gedanken zu Ende, „von Antirehms Gerichten mag man halten, was man will, aber das kannte ich immerhin. Auf dem Himmelsfels habe ich keinerlei Einfluss und kann ihr nicht helfen.“
„Wieso du?“, fragte er, auch wenn er nicht wusste warum. Die Worte kamen einfach aus ihm heraus, ohne dass er einen Einfluss darauf hätte nehmen können.
„Wann verstehst du endlich, dass ich dir zu helfen versuche? Deine Eifersucht ist ohne jeden Grund.“ Eifersucht? War es das? Nein. Er war doch gar nicht eifersüchtig auf Lubiam, den älteren Freund, der er als Junge so verehrt hatte. Die Herausforderung bestand vielmehr darin, dass er nicht fähig war, einem anderen in einer Sache zu vertrauen, die ihm so sehr am Herzen lag.
„Ich will alles richtig machen“, entgegnete er leise, selbst erstaunt über seine Offenheit.
Lubiam schnaubte auf, den Blick weiter auf die Geschehnisse auf dem Podest gerichtet, wo sich Menschen bewegten. „Deine Brüder sind vernünftiger als du, Melram. Hisiam einmal ausgenommen. Sie gestehen sich immerhin ein, was sie empfinden und rennen nicht ständig vor sich selbst davon.“
Empört sah Melram auf. „Das tue ich n…“
„Ich weiß noch, wie dein Vater starb und wie ein kleiner Junge die Hand seiner Mutter ergriff“, unterbrach der Ältere ihn, „nicht um Halt zu finden, nein, sondern um sie fortzuziehen von dem Ort, an dem ihm so viel geraubt worden war.
Seine Hände begannen zu zittern und das Blut rauschte in seinen Ohren. „Hör auf von meinem Vater zu reden“, verlangte er.
„Gut, wie du willst“, entgegnete Lubiam, „Aber beschwer dich später nicht, wenn ich Recht gehabt habe.“
Die Worte des Fürsten entbanden Melram von einer Antwort. Sie und sein Bruder Tivunam, der auf einmal neben ihm stand. Dass er sie gefunden hatte, glich einem Wunder.
„Was tust du denn hier?“, fuhr er seinen Bruder an.
„Zuhören wie alle anderen hier“, entgegnete Tivunam. Lag da ein leichter Tadel in seinen Worten? Melram beschloss, sie zu ignorieren. „Wo ist Sural?“ Noch immer trieb die Befürchtung ihn um, das der Händler, nach dessen Namen er noch immer forschte, eines Tages in ihrem Haus auftauchen würde, um sich seine Schwester einfach zu nehmen.
„Jirassam und Hisiam sind da“, entgegnete der Jüngere, auf den Melram sich in letzter Zeit immer mehr verlassen konnte. Nur die Episode im Hühnerstall schwebte noch immer ungeklärt zwischen ihnen. „Bei den vielen Soldaten, die durch die Stadt ziehen, wird der Händler es nicht wagen, sie sich zu holen“, beruhigte Tivunam ihn.
„Jetzt hört mal zu“, zischte Lubiam über ihnen. So viel also zu ‚Ich helfe dir Sural zu verstecken’
Melram schwieg und lauschte den Worten, ohne wirklich zuzuhören. Sehr wohl bemerkte er aber die Zeichen, die Lubiam mit den Händen formte. Euer Sohn ist geflohen. Wir sorgen für seine Sicherheit. Tiakarische Zeichensprache. Es wunderte ihn nicht, dass sein Freund sie beherrschte. Nur was hatte das zu bedeuten? Wieso nur hatte Melram zunehmend das Gefühl, dass Lubiam ein Fremder für ihn war? Diese Treffen mit seinen Brüdern, das Gemunkel von seinem Großvater Ankram, diese Nachricht jetzt. Etwas ging vor sich. Etwas, was Melram nicht greifen und nicht verstehen konnte und an dem er nicht beteiligt war.
„Lubiam.“ Der Name ging in einem Schmerzensschrei unter. Melram wirbelte herum. Instinktiv griff er nach dem Dolch. Lubiam sprang von dem Pfosten und stellte sich schützend vor Melram und Tivunam.
„Kommt.“ Er wollte sich einen Weg durch die Menge bahnen, aber da waren so viele Menschen um sie herum, die sich gegenseitig behinderten, dass kein Durchkommen war. Weitere Schmerzensschreie ertönten, Menschen schoben sich gegenseitig hin und her, versuchten irgendwo einen Weg zu finden, der nicht existierte. Neben ihm sank ein Mann zusammen, ein Stein war in seine Stirn eingedrungen. Weil die Menschen so drängelten, fiel er nicht, sondern stand mit grotesker Mimik inmitten der Masse, den Mund zu einem letzten Wahnschrei aufgerissen, das Gesicht vor Panik verzehrt. Blut malte die Zeichen seines Untergangs als letztes Mahnmal auf sein Gesicht, bis die Fratzen Melram anblickten. Er zuckte zusammen, schubste mit dem Ellenbogen einen Jungen von sich, der versuchte, sich zwischen ihm und seinem Bruder hindurchzudrängen und zu Boden fiel. Rücksichtslos trampelten die nachrückenden Menschen über ihm – selbst wenn sie hätten ausweichen wollen, wäre ihnen das nicht möglich gewesen
„Woher kommt das?“ In Tivunams Stimme vernahm Melram nur eine Spur von Panik.
„Unmöglich zu sagen“, entgegnete Lubiam, der sich aufmerksam umsah, sofern das so dicht gedrängt überhaupt möglich war.
„Ist das nicht völlig egal?“, knurrte Melram. Er spürte, wie Schweiß seinen Rücken hinablief. Mit beiden Armen umfasste er seinen Bruder, um zu verhindern, dass die Menge sie auseinander trieb. „Wir müssen hier raus.“
„Da sagst du etwas Wahres.“ Lubiam zerrte sie beide durch eine Lücke nach vorne. Sogleich drängelten sich Menschen in den neu gewonnenen Platz hinein. Das Gesicht eines alten Mannes, der sich an eben jenen Pfosten klammerte, auf dem Lubiam eben noch gestanden hatte, wurde von der Menge verschluckt. Irgendwo schrie ein kleines Mädchen, selbst aus der Ansammlung von Stimmen konnte Melram den langgestreckten schmerzerfüllten Schrei hören.
Auf einmal stöhnte sein Bruder auf.
„Tivunam!“ Mit beiden Händen hielt Melram den Jüngeren fest, spürte wie Blut seine Hände nässte, als er nach der Wunde tastete. Zischend sog Tivunam Luft ein.
„Es geht schon.“ Tapfer klammerte er sich an den großen Bruder, die Finger in seine Kleider gekrallt. Melram kam sich hilflos vor. Er hatte diese Situation nicht gesehen, hatte sich nicht vorbereiten können und das fand er schrecklich. Wie sollte er denn für seine Familie sorgen, wenn er so etwas nicht sehen konnte?
„Komm.“ Menschen griffen nach ihm, versuchten ihn in diese oder jene Richtung zu schieben, die ihnen in diesem Moment Sicherheit verhieß, bis seine Kleidung riss. Bald gab Melram nichts mehr auf die anderen Menschen. Rücksichtslos setzte er Ellenbogen und Füße ein, um sich und seinen Bruder zu schützen.
Und während all dieser Zeit schrieen Leute und brachen zusammen. Männer, Frauen, Kinder. Arm oder Reich. Es traf sie alle. Alle, die auf dem Platz versammelt gewesen waren, um die Abschiedsrede ihres Fürsten zu hören. Und die ganze Zeit über konnte Melram diejenigen nicht sehen, die das verursachten. Es gab keine Gegner. Nur panische Menschen, die in diesem Moment doch zu Gegnern wurden.
In diesen Augenblicken war er so dankbar für Lubiams Gegenwart. Seine massige Gestalt bahnte ihnen mehr einen Weg als es Melrams Ellenbogen je vermocht hätten. Zumindest bis sie getrennt wurden. Es geschah so schnell.
Als Melram von der Seite angerempelt wurde, konnte er seinen Bruder nicht mehr halten und fiel zur anderen Seite, wo er durch die Nähe zu andere Menschen gehalten wurde. Lubiam war sofort da und stützte Tivunam, aber andere Menschen schoben sich zwischen sie und schon bald war von seinen Begleitern nichts mehr zu sehen. Verzweifelt schrie Melram auf, streckte sich nach seinen Bruder, blickte Lubiam entgegen, der sich versuchte zu ihm zu drängen. Aber selbst er konnte sich nicht gegen all die Menschen ankommen. Selbst seine Worte wurden von der um sie herum herrschenden Panik verschluckt. Bald waren die beiden nicht mehr zu sehen und Melram blieb alleine zurück. Allein. Unter Menschen.
Götter, wie er die Enge hasste. Gesichter flirrten vor seinen Augen, verzogen sich zu Fratzen, die ihm die Augen auskratzten und gegen die er sich nicht wehren konnte. Es war ihm nicht einmal möglich, seinen Dolch aus seinem Stiefel zu ziehen, sonst hätte man ihm die Finger zerquetscht. Von allen Seiten stießen Leute gegen ihn, zerrten an seinen Kleidern und drängten ihn in diese oder jene Richtung. Wie er am Ende hinausgelangte, wusste er nicht. Die Menge trieb ihn in eine Gasse, die völlig verstopft war. Voller Panik schlugen Männer und Frauen die Türen der umliegenden Häuser ein, denn noch hier stürzten Männer getroffen von Steinen und vereinzelten Pfeilen. Da. Auf einem der Flachdächer bewegte sich eine dunkle Kapuzengestalt, auffällig hob sie sich gegen die Sonne ab. Melram blickte sich um. Götterschildler oder Stadtwachen waren keine zu sehen.
Auf den Spuren der Person drängte Melram sich durch die Menge. Trotz der Menschen schien es nur sie beide zu geben. Er war wieder auf einer der Jagden mit Hiratja, verfolgte die Gestalten der Dämmerung, deren Illusionen jeder andere mied. Die wenigsten Menschen blickten zu den Dächern hinauf, wo die Kapuzengestalt über ihre Köpfe hinweg sprang. Es war leichter sich dort zu bewegen als hier unten und mehrmals verlor er die Person aus den Augen. Mit der Zeit verlief sich die Menschenmenge. Melram konnte wieder frei atmen. Zögern tat er dennoch nicht. Das Leben pulsierte in seinen Adern, der Zorn über das Geschehene half ihm, sich lebendig zu fühlen. Endlich. Nach all der Zeit. Wie von selbst fischte er in einem kurzen Augenblick den Dolch aus seinem Stiefel, schloss die Finger um den polierten Griff und genoss die Schwere in seiner Hand. Endlich war er nicht mehr hilflos, endlich konnte er sich wehren. Und dort oben war eine der Personen, die seinem Bruder verletzt hatten. Seine Füße trommelten über den Boden und ließen ihn für den Moment fliegen. Melram flog. Er flog fort von der Verantwortung hin zur Rache.
Die Jagd war das Ziel, in dem er sich frei fühlte. Und wenn er –
Melram stockte. Soeben war er in eine Gasse gerannt, von der er glaubte, dass der Mörder über die Dächer in sie eingebogen war. Aber hier war niemand. Niemand bis auf der Priester, der soeben um die Ecke torkelte. Es war eben jener Jinuvs-Priester, der ihn zu Hiratja geführt und sich dabei so abfällig über sie geäußert hatte. Seinen Namen hatte Melram vergessen, aber dafür hatte er jedes verächtliche Wort in seinem Inneren bewahrt. Noch immer konnte er sie aufsagen. Hatte dieser Mann, dem eine Tiakar so unwichtig zu sein schien, auf Männer, Frauen und Kinder geschossen? Es dauerte nicht lange, bis sich diese Fragestellung als oberstes Handlungsmaxime, das es zu erfüllen galt, erwies. Das Fragezeichen, das logische Denken wurden nach einigen kurzen Gedankengängen verworfen. Für einen Moment harrte Melram in seiner Verwunderung inne, dann rannte er auf den jungen Mann zu. Seine Hände prallten gegen dessen Brust, schoben ihn nach hinten bis auf die Mauer zu, wo er ihn festhielt.
„Du warst das“, knurrte er sich an Lubiams Worte erinnernd, „Du und deine Priesterin. Damit werdet ihr wieder irgendwelche Maßnahmen rechtfertigen.“
Panisch verdrehte der Jinuv-Priester die Augen, als er der Klinge gewahr wurde, die Melram ihm an die Kehle hielt.
„So macht ihr es doch immer und im Zweifel heißt es, dass es irgendwelche Aufständischen waren.“
Tränen flossen Melram über die Wangen, so wie die vielen Worte seinem Mund entströmten. Sie verschleierten ihm die Sicht. Ärgerlich blinzelte er sie weg. Zu seiner Erleichterung schien der Jinuv-Priester nicht willig oder fähig die Situation auszunutzen. „Warum lasst ihr uns nicht einfach in Ruh?“, wisperte Melram, „ist doch unsere Stadt und mein Leben.“
Auch aus den Augen des Priesters rannen vereinzelt Tränen. Seine Augen waren von einem hellen strahlenden Blau, eine Farbe, die Leben bedeutete. Er versuchte etwas zu sagen, aber der Druck auf seiner Kehle ließ ihn verstummen. Es wäre gleichgültig. Hier in den dunklen verschlungenen Gassen nahe der Minen ging man Schreien nicht nach. Niemand tat das. Jeder schützte bloß seine eigenen Leute. Zu Beginn hatte Melram noch die Laute der sich in die Stadt ergießenden Menschenmenge vernommen, doch jetzt war es still. Nur ein Hund kläffte irgendwo in der Ferne. Sie waren alleine.
Melrams Hände zitterten, sodass er auch die zweite Hand an den Dolch legte. Tivunams Schmerzensschrei hallte in seinen Gedanken wieder. Es war die Priesterin. Ihretwegen war all das geschehen. Alles geschah den Tempeln wegen. Der Tod seines Vaters, die Gefangennahme Hiratjas und nun das! Hiratjas Gesicht vor Augen blickte er in das Gesicht des Priesters. Ein einzelner Blutstropfen rann seine Kehle hinab und der durchdringende Geruch nach Urin breitete sich aus. Verächtlich sah Melram auf ihn hinab. Durch die Gassen stolzierten die Priester als wären sie die Könige der Welt, aber in Wirklichkeit waren sie kleine Schisser, die hinter den Roben der Macht ihre eigene Angst verbargen. Dagegen die Worte von Lubiam…Sie waren nicht einfach nur falsch gewesen, sie hatten etwas ausgedrückt, was Melram nie gewesen war oder zumindest nicht mehr wahr: Ein Feigling, der sich vor dem Schrecken, der ihm widerfahren war, verstecken musste. Der Junge von einst hatte die Waffe in die Hand genommen, um sich gegenüber jenen zu wehren, die seiner Familie Gewalt antun wollten. Er hatte es in den Augen des Priesters gesehen, als sie im Gefängnis gewesen waren. Wie er Hiratja angeblickt hatte. Verachtung, in die sich Begehren mischte.
„Du bekommst sie nicht mehr“, flüsterte er, „Niemand tut das. Sie ist frei.“
Tränen tropften auf den glänzenden Stahl hinab. Ankram hatte ihm als Jungen einst erklärt, dass Töten schwer zu vollbringen und noch schwerer zu ertragen sei. Melram hatte gelacht und ihn gefragt, woher er das denn wisse. ‚Glaub mir, ich weiß es’, hatte der Mann gesagt, der schon damals alt gewesen war. Nun, es war eine Lüge gewesen.
Melram fiel das Töten sehr sehr leicht. Nur ein wenig Druck, eine rasche ziehende Bewegung und roter Lebenssaft spritzte über das Pflaster. Dann trat er zurück und beobachtete, wie der Priester, der ihm Hiratja stehlen und seinen Bruder hatte verletzen wollen, starb. Zitternd fasste der Mann, der nur wenig älter als er selbst war, nach der Wunde, versuchte das Blut zu halten, aber seine Hände rutschten ab, während er gurgelnd zu Boden sank. Keuchend versuchte er Luft zu holen, die Muskeln seines Gesichts verzerrten sich, die Augen blickten gen Himmel, während sein Körper noch zuckte und die Füße in einem grausamen Tanz über das Pflaster tanzten. Schließlich verstummte auch der letzte Hilfeschrei eines ertrinkenden Lebens. Stumm und still lag der Priester da. Melram beugte sich hinab, nahm dem Priester Geldkatze und den Salzbeutel ab, wobei er darauf achtete, das Tempelgold gar nicht erst mitzunehmen.
Dass der Priester keine Waffen bei sich trug, bemerkte Melram erst jetzt.
Silberne Münzen kullerten aus seiner Hand zu Boden, fielen zwischen die Steine und vereinzelte Grasbüschel. Eine Einzige hielt sich länger als die anderen. In schlitternden Wegen verfolgte sie einen Weg, den das Schicksal ihr aufgebürdet hatte, bis sie in einer Blutpfütze den Pfad verlor, sich ein letztes Mal drehte und leise klirrend zu liegen kam.
Melram taumelte fort.