Weil es die höchste Ehre bedeutet, den Göttern zu dienen, soll es nur den Edelsten und Besten gestattet sein, die Würde des Priestertums zu ergreifen. Somit soll es eine Prüfung geben, der jeder Suchende unterzogen werden soll.
Aus: Die offiziellen Gesetze und Doktrine des Priestertums. Eine Abhandlung. Autor unbekannt.
Schon als Kind hatte Shio das Loch in der Mitte des Tempeldaches als faszinierend empfunden. Damals war sie bis zu ihm hin gekrochen, hatte sich über es gebeugt, stundenlang in die Tiefe gesehen und gehorcht, welche Geschichten sie dort vernehmen mochte. Manchmal hatte sie sich auch vorgestellt, sich dort hinabzuhangeln und die verschiedenen Etagen – von den Gemächern der Hohepriesterin bis zum offenen Tempel – unbemerkt zu durchqueren und all das zu erblicken, was sonst vor ihr verborgen war. Natürlich hatte sie es nie getan.
Aber noch heute setzte sie sich gerne in die Mitte des Gartens neben dieses Loch, das in den Schattentagen das Regenwasser durch den gesamten Tempel leitete und genoss die Ruhe, die sie hier hatte. Niemand außer ihr kam hierher, denn setzten sich die anderen suchenden Priesterinnen lieber zwischen die Blumen und Gräser, anstatt neben ein tiefes Loch.
Immer wieder glitten ihre Augen zu der Dunkelheit, weg von der Lektüre in ihrem Schoß. Dies war jedoch durchaus verständlich, jeder ihrer Mitschüler hätte es ebenso gehalten, denn diese Abhandlung über einen Hohepriester, der nach noch nicht einmal einem Jahr Herrschaft ermordet worden wurde, war staubtrockene Lektüre. Da es von einer Hohepriesterin geschrieben war, deren größte Errungenschaft darin bestand, dass sie unter einem Berg Byeros, den dankbare Bürger auf sie geworfen hatten, erstickt war, konnte man ihre Hasstiraden noch nicht einmal ernst nehmen. Dennoch war es recht wahrscheinlich, dass dieser Text in der nächsten Zwischenprüfung abgefragt werden würde, also quälte sie sich dennoch durch den Stoff.
In diesem Moment ertönte tief unter ihr ein Glockenschlag. Shio sprang auf und schob das Buch in ihrer Umhängetasche. Sie verließ den Garten und damit die Schönheit, die er immer wieder für sie bereithielt und sprang die Treppe hinunter, die im Inneren des Tempels immer an der Außenwand entlang führte. Von den Stufen gingen Eingänge zu den einzelnen Räumen ab, aber Shio lief immer tiefer und wurde immer langsamer, je näher sie ihrem Ziel kam: Der Versammlungshalle der Priesterinnen.
Gemächlichen Schrittes trat sie ein und gesellte sich zu den Priesterinnen, die mit ihr die Hauptprüfung geschrieben hatten. Einige nickten ihr zu, andere blickten zu gebannt nach vorne, um ihre Umwelt zu beachten. Sie alle waren älter als Shio und nur mit einer von ihnen hatte sie so etwas wie eine Freundschaft aufbauen können, wenn sie auch die anderen größtenteils akzeptierten.
Shio atmete tief durch und strich ihr Kleid glatt, in das sich schon wieder einige Flecken geschlichen hatten. Unauffällig versuchte sie, den Schmutz mit etwas Spucke zu entfernen, doch nach einen missbilligen Schnalzer ihrer Nachbarin ließ sie es bleiben und blickte lieber nach vorne.
Im Hintergrund spielten einige Priesterinnen leise Lieder zu Ehren dieses Tages, kaum erkennbar hinter dem schwerem Rauch verbrannter Kräuter, der die Luft füllte. Der süßbittere Geruch mischte sich mit dem von Schweiß und Flammsteinen.
Ihr Blick schweifte über die hochrangigen Priesterinnen der Eandelath, die sich versammelt hatten, um die Erhebung der Suchenden zu vollwertigen Priesterinnen zu erleben. Alle ihre Lehrerinnen waren da, aber auch andere ranghohe Mitgliederinnen des Tempels, die sie nur vom Sehen kannte. Mirvuh war nicht erschienen – angeblich war sie krank -, aber Tarvet-Sul, ihre freundliche Ratgeberin, ersetzte sie.
Selbstverständlich hatten sich auch gewöhnliche Priesterinnen versammelt und einige der jüngeren Klassen standen an den Rändern, um sich den Ablauf für ihre eigene Zeremonie anzusehen.
Zwei letzte Frauen huschten durch den Eingang und gesellten sich tuschelnd zu Shio.
In diesem Moment trat Diarit, die oberste Ausbilderin, vor. Mit strengen Augen blickte sie auf ihre Schüler und meinte: „Ich werde euch einzeln nach vorne rufen und euch euer Abschneiden mitteilen.“.
Sie entrollte eine Schriftrolle, las etwas und rief: „Menara“
Eine suchende Priesterin löste sich auf der Menge und trat vor.
„Bestanden“, erklärte sie und drückte Menara ein Schriftstück in die Hand, „Du wirst von nun an zur Gruppe der Musikerinnen gehören und dein Name soll dem Brauch gemäß Menarat lauten.“
Die nun vollwertige Priesterin ging begleitet vom Aufstampfen der Versammelten durch eine Tür und verschwand.
Diarit rief die nächste Suchende auf und schickte sie mit einem „Nicht bestanden“ zurück in die unteren Klassen. Die nächste wurde dagegen zum Eandelath-Tempel in Limisar gesandt, die drei danach hatten nicht bestanden.
So ging es weiter. Etwa die Hälfte der Suchenden hatte nicht bestanden und würden sich in einigen Jahren erneut an der Prüfung versuchen müssen, die anderen wurden entweder auf andere Tempel aufgeteilt oder zu verschiedenen Tätigkeitsbereichen hier im Hochtempel herangezogen.
Shio war eine der letzten, die aufgerufen wurde und nachdem die Frau zuvor, zu ihren Wunschort Kantigark geschickt worden war, schritt sie unsicher und nervös nach vorne.
Diese Prüfung war wichtig, denn nur mit einem Bestehen konnte sie eine vollwertige Priesterin werden und eigene Aufgaben für die Göttin übernehmen. Es war ihr erster Versuch, deshalb wäre es nicht so schlimm, wenn sie durchgefallen wäre, aber nach dem dritten wurde man endgültig aus dem Tempel ausgeschlossen. Etwas, was Shio um jeden Preis vermeiden wollte.
„Shio“, erklärte Diarit und ein seltenes Lächeln schmückte ihre Mundwinkel. „Bestanden. Eine hervorragende Leistung.“ Erleichterung breitete sich in ihr aus und Übel als sie auf die Punktzahl sah, die sie erreicht hatte. Es war eine sehr hohe Zahl. Diarit wandte sich zu den Versammelten um.
„Seht diese Dienerin Eandelaths und nehmt sie als vollwertiges Mitglieds des Tempels unter dem Namen Shiot in eure Reihen auf!“
Die Priesterinnen und Schülerinnen stampften mit den Füßen, riefen: „Im Namen der Göttin! So soll es sein!“ und grüßten die neue Priesterin.
Halb hinter Schleiern nahm Shiot noch wahr wie die Lehrerin meinte, dass sie hier in Tempel in Mirvuhs Diensten verbleiben würde.
„Nein!“, rief sie und bemerkte erst in dem Moment, das sie laut gesprochen hatte, als nervöses Getuschel unter den Anwesenden ausbrach. „Ich hatte um Kantigark gebeten und mit meiner Punktzahl wird das wohl kaum ein Hindernis sein.“
„Verzeih. Aber Hohepriesterin Mirvuh hat ausdrücklich um dich gebeten“, erklärte Diarit und schob sie sanft in Richtung Ausgang.
Die Gedanken in Shiots Kopf wirbelten durcheinander. Mirvuh hatte doch um ihre Sehnsucht gewünscht, nach Kantigark versetzt zu werden und hatte sie dennoch in ihre Dienste genommen. Warum nur hatte sie ihre Sehnsucht zerstören müssen?
Mit Mühe gelang es Shiot, die Tränen vor den anderen zu verbergen und sie schritt mit eiligen Schritten zum Ausgang. In einer weiteren kleinen Halle hatten sich die Priesterinnen versammelt, welche die Hauptprüfung bestanden hatten und unterhielten sich nun leise.
Shiot ignorierte sie und lief hinaus, über die Treppe und dann dahin, wo sie immer hinging, wenn sie nachdenken wollte. Nicht in das Zimmer, das sie mit zwei anderen teilte, nicht in den offenen Tempel, wie es viele andere taten, sondern in den Garten auf das Tempeldach.
Erst als sie oben angelangt war, hielt sie in ihrem Lauf inne und versuchte ihren rasenden Atem zu beruhigen, während sie die Tränen fließen ließ. Dieses Mal ging sie nicht zur Mitte des Gartens, sondern setzte sich an den südlichen Rand des Daches.
Eandelath schien heute hell und ihr weißes Licht ermöglichte einen weiten Blick auf die Umgebung. Der Eandelath-Tempel war im Süden des Himmelsfelsen erbaut worden, während der Oandath-Tempel nordwestlich und der Mintasath-Tempel nordöstlich errichtet waren. In der Mitte des großen Felsen erhob sich dagegen der Tempel Viandavs, dem höchsten aller Götter.
Doch es waren nicht die Tempel, nach denen ihre Augen sich sehnten, sondern die fernen Länder, die sich unterhalb des Himmelsfelsen erstreckten. Am heutigen Tag war die Sicht so gut, dass sie sogar die Grenzen der Welt erkennen konnte, das gewaltige Gebirge, das den Westen Eletaks begrenzte. Ihre Heimat Kantigark im Südosten lag jedoch viel zu weit entfernt, hinter der Wüste, die sie eben so hinter dem gesegneten Land erblicken konnte. Irgendwo dort waren jetzt ihr Bruder, ihre Schwester und ihre Eltern und lebten ein Leben, das Shiot weder kannte noch selber leben konnte. Vielleicht sollte sie den Tempel verlassen, einfach weg gehen und versuchen, nach Kantigark zu gelangen. Aber was dann? Der Tempel war ihre Heimat, denn die andere war längst nicht mehr als ein verschwommener Traum und verworrene Erinnerung. Sie hatte nie etwas anderes gelernt, als eine Priesterin zu sein, kein Wissen von dem Leben, das vor den Türen des Tempels war.
In diesem Moment blies ein Windstoß über den Himmelsfels, bauschte ihr Kleid auf und fuhr durch die Blätter der Pflanzen hinter ihr. Für einen winzigen Augenblick meinte sie, in dem Wind ein Wort zu vernehmen. „Bleib!“ Noch einmal dieses Wort. War das Eandelath, die zu ihr sprach?
Zunächst fragte sie nur: „Warum?“, doch dann schrie sie es in den Wind hinaus.
„Shiot?“ Die Stimme direkt hinter ihr, ließ den Wind in sich zusammenfallen wie die Träume von ihrer Rückkehr nach Kantigark.
Sie wandte sich um und erkannte Tarvet-Sul. Ohne ein Wort sah sie die Priesterin an.
„Mirvuh wünscht dich zu sich.“
Immer noch erwiderte sie nichts und musterte die Priesterin. Sie erinnerte sich daran wie freundlich die Beraterin Mirvuhs zu ihr gewesen war, als sie ihr Gespräch mit der Hohepriesterin gehabt hatte.
„Es ist nicht ratsam, eine Hohepriesterin warten zu lassen“, erklärte Tarvet-Sul leise.
„Nein, das ist es nicht“, erwiderte Shiot und obwohl ihr Zorn nicht vergessen war, folgte sie der älteren Priesterin zu den Gemächern der obersten Priesterin des Tempels.
Aber sobald sie Mirvuh erblickte, verflog auch jener Rest an Zorn.
An der Seite Tarvet-Suls schritt sie durch den Vorraum, den Raum mit dem Wasserbecken und dann durch einen weiteren Raum, der durch einen Vorhang abgetrennt wurde.
Hier lag die Hohepriesterin in einem kunstvoll geschnitztem Holzbett, ihr dünner Körper unter den Decken nur erahnbar. Bei ihrem Eintreten legte sie ein Buch beiseite und blickte Shiot mit diesen strahlend blauen Augen an, die sie schon bei ihrem ersten Gespräch beeindruckt hatten.
„Willkommen, Shiot“, begrüßte sie die junge Priesterin mit brüchiger Stimme. „Tarvet-Sul lass uns alleine.“
Ihre getreue Dienerin nickte und zog sich zurück.
„Komm näher“, bat Mirvuh.
Shiot trat so nahe an Mirvuhs Bett, bis sie die Schweißtropfen auf der Stirn der Hohepriesterin erkennen und die Altersflecken in ihrem Gesicht zählen konnte.
Auf einmal umfasste die Kranke mit überraschender Kraft Shiots Hand.
„Dein Zorn ist verständlich, auch ich litt lange unter der Ungewissheit wie es meiner Familie erginge und blieb doch machtlos, als sie getötet wurden. Ich glaube, dass du in deinem Herzen immer wusstest, dass du nie zurückkehren würdest. Deine Familie ist für dich gestorben, als du deinen Fuß in den Tempel gesetzt hast.“
Sie fragte sich wie der Name lauten mochte, den Mirvuh vor ihrem Eintreten in den Tempel getragen hatte, den Namen, den ihr ihre Eltern gegeben hatten und den sie bei ihrem Eintritt in den Tempel verloren hatte. Mirvuh war so alt…Sie verströmte den Geruch der Geschichte aus allen Poren ihrer Haut, Erinnerungen umgaben sie wie ein ewiger Schatten und ihr umfangreiches Wissen sprach aus jedem ihrer Worte.
„Nicht freiwillig“, erwiderte sie nach langer Stille.
„Nein“, antwortete ihr Gegenüber, „Doch ist der Tempel deine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Du kannst dagegen kämpfen, wenn du möchtest, aber lass dir von mir sagen, dass Kämpfe hier nicht gern gesehen sind und wenig bewirken.“
„Mein ganzes Leben habe ich darauf hingearbeitet, nach der Prüfung in meine alte Heimat versetzt zu werden. Es war mein Traum und nun ist er zerstört.“
„Manchmal ist, das, was man für sein Volk und sein Land tun muss, wichtiger als eigene Ziele und Träume. Es sind Pflicht und Verantwortung, Shiot. Die Pflicht und Verantwortung sich selbst zu beherrschen. Es ist leicht, andere zu beherrschen, aber nur wahre Meister erlernen die Kunst, sich selber zu kontrollieren und zu beherrschen. Wer dies beherrscht, versteht auch, dass wir andere nicht beherrschen sollen, sondern ihnen mit Liebe und Verständnis begegnen müssen. Ich glaube, dass du viel mehr sein kannst, als eine Priesterin des Tempels in Kantigark, die nur aufgrund eigener Wünsche handelt.“
„Ja“, antwortete sie nach längerer Pause. „Du hast Recht. Mein Verstand mag diese Argumente verstehen, aber mein Herz fragt noch.“
„Natürlich“, meinte Mirvuh sanft, „Das ist dein gutes Recht. Nimm dir Zeit und überlege dir wie du auf meine Bitte antworten willst. Triff eine Entscheidung, hinter der du mit deiner ganzen Willenskraft stehen kannst und dann komm zu mir, um mir deine Antwort mitzuteilen.“
„Es ist eine Bitte?“, fragte sie verdutzt, „Ich dachte, es wäre eine Pflicht.“
„Nein. Ich habe gebeten, dass du mir dienst und mich unterstützt. Welch eine Zusammenarbeit wäre es, wenn ich dich zu etwas zwingen würde, was du dich nicht willst? Ich will eine Partnerin keine Sklavin.“
Einen Moment musterte Shiot sie nur. Mirvuh war anders, als jeder andere hier im Tempel. Es war lange her, dass jemand sie vor eine Wahl stellte und ihr die Möglichkeit einer so einflussreichen Entscheidung gab. Eigentlich konnte sie sich nicht daran erinnern, dass es jemals geschehen war.
Mirvuh schien ihre Gedanken zu erkennen, denn sie erklärte: „Eine der wichtigsten Eigenschaften eines guten Leiters ist die Fähigkeit, gute und weise Entscheidungen zu treffen. Dies jedoch ist der Fehler in der Ideologie des Tempels. Es ist unmöglich, gute Leiter durch reinen Gehorsam entstehen zu lassen. Wenn du ja sagst, werde ich dir genau das beibringen. Ich werde dich fördern und an meine Seite nehmen. Du wirst mir dienen, mich begleiten und beobachten, damit du die Stärke, die du so gut in deinem Inneren verbirgst, herausbrechen lassen kannst.“
„Warum ich?“
„Du kannst dich selbst reflektieren und bist bereit, aus deinen Fehlern zu lernen. Außerdem forscht du eigenständig und hinterfragst das, was andere dir erzählen, du besitzt ein unglaubliches Talent für Worte und du weißt, die richtigen Fragen zu stellen.“
„Und doch habe ich so wenig gewusst.“
Ein schmales Lächeln zog sich über Mirvuhs eingefallenes Gesicht.
„Du vergisst, dass ich viel länger Zeit hatte, um mir dieses Wissen anzusammeln, das ich nun besitze. Einst habe ich auch so begonnen wie du: Suchend und Forschend. Du vergisst auch, dass du nur ein Mensch bist. Es ist natürlich, dass du Fehler machst und nicht alles weißt. Was du jedoch lernen musst, ist innere Ruhe und das Eingeständnis, das du es niemals allen Recht machen kannst und auch nicht musst.“
„In Ordnung“, flüsterte sie.
„Überleg es dir und triff die Entscheidung, die für dich – und nur für dich – die richtige ist.“
„Ja.“
„Auf Wiedersehen, Shiot.“
Wie betäubt schritt sie aus dem Raum, als die Stimme der Priesterin sie zurück rief. Sie wandte sich um und sah zu Mirvuh, deren zerbrechlicher Körper in einem solchem Gegensatz zu ihrem wachen Geist stand.
„Vergess nicht“, erklärte die höchste Eandelath-Priesterin Eletaks leise, „Ich erwählte dich als einzige aus den vielen deiner Gruppe, die zu mir kamen, damit ich über sie urteilte.“
Mit einer Geste erlaubte sie Shiot, sich zu entfernen. Tarvet-Sul erwartete sie vor dem Vorhang und geleitete sie nach draußen. Ohne ein Wort zu sprechen, legte die Dienerin Mirvuhs ihr kurz die linke Hand auf die Schulter, bevor sie in die Gemächer der Hohepriesterin zurückkehrte.
Für einen Moment blieb die junge Priesterin einsam im Flur stehen, nur beobachtet von den vier Wachen des Götterschildes, die den Eingang bewachten. Schließlich setzte sie sich in Bewegung, weniger durch eine bewusste Entscheidung, als vielmehr durch den Instinkt der Notwendigkeit. Ihre Füße trugen ihren verwirrten und verunsicherten Geist zu ihrem Zimmer, das sie nun würde verlassen müssen. Eine andere Suchende, die als bereit für die nächste Prüfung erklärt worden war, würde auf ihrer Matte schlafen und auf dem Teppich Bücher lesen. Und sie selbst? Der Pfad ihres Lebens lag vor ihr verborgen und ihre zukünftigen Schritte versanken im Nebel.
Mit einem tiefen Seufzer trat sie in die Kammer. Eine in die Wand eingearbeitete Ablagefläche und ein gewaltiger, bunter Teppich, der den gesamten Boden ausfüllte und auf dem sich Bücherstapel türmten, war bis auf einige an der Decke befestigten Gebrauchsgegenständen alles. Ein kleiner Sack lag in einer Ecke des Raumes, er beinhaltete alles, was Shiot besaß. Es war nicht viel, denn der Großteil dessen, was sie nutzte, gehörte dem Tempel. Die Matten, die sie zum Schlafen auf dem Teppich ausrollten, ebenso wie der Großteil der Bücher. Die Gebrauchsgegenstände teilte sie sich mit den beiden anderen Frauen, die mit ihr das Zimmer teilten und auch in die Prüfung gegangen waren.
Nur eine von ihnen war im Moment anwesend. Bis eben hatte Loa noch ihre Sachen zusammengesucht und gepackt, doch jetzt wandte sie sich um und musterte Shiot. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht und mit blitzenden Augen meinte sie: „Herzlichen Glückwunsch. Man fragt sich auf den Fluren schon, mit was du es geschafft hast, die Prüfer zu bestechen, aber wenn ich mich an die vielen Stunden erinnere, die du länger als wir gelernt hast, kann ich nur sagen, dass deine Punktzahl verdient ist.“
„Danke“, erwiderte Shiot leise der Frau, die sie als einzige je so etwas wie eine Freundin genannt hatte. „Du bist eine Klasse herabgestuft worden?“ Loa hob den Kopf kurz zum Zeichen des Einverständnisses, dann führte sie aus: „Eigentlich bin ich ganz zufrieden damit. Durch meine lange Krankheit habe ich viel von den letzten Lerninhalten verpasst und konnte diese vor der Prüfung nur ungenügend nachholen. In Geschichte und Sprachkunde bin ich am Ende nicht mehr mitgekommen und kann jetzt mein Grundwissen noch einmal sichern.“
„Wenn du willst, kann ich dir helfen, den Stoff nachzuholen“, bot Shiot an und war für einen Moment selbst erstaunt über ihren Mut.
Auch Loa blickte sie für einen Moment überrascht, dann freudig an.
„Sehr gerne, Shiot.“
Für einen Moment standen sie sich stumm gegenüber, nicht genau wissend, was sie sagen sollten, dann unterbrach Loa die Stille: „Du wirst also Mirvuh dienen? Du musst sie wirklich sehr beeindruckt haben. Von den letzten vier Prüfungsklassen hat sie niemanden überhaupt in ihren Dienst genommen und du bist auch noch eine direkte Untergebene!“
„Wir alle wussten doch schon immer, dass die alte Mirvuh über ihren unmöglichen Studien verrückt geworden ist. Kein Wunder, dass sie dich, Shiot, aufgenommen hat.“
Die beiden Frauen drehten sich um und erblickten Hinaro, die das Zimmer mit ihnen teilte und zu Shiots Missfallen ebenfalls die Prüfung bestanden hatte.
„Jemand, der verrückt ist, hätte niemals so herausragende Schriften verfasst wie unsere Hohepriesterin“, entgegnete Loa laut.
„Früher mag das so gewesen sein, doch seit drei Schattentagen liest man nichts mehr von ihr. Noch nicht einmal einen Aufsatz oder einen Kommentar zu den Schriften anderer. Bis auf wenig öffentliche Veranstaltungen tritt sie nicht mehr offen in Erscheinung und verbleibt in ihren Gemächern.“ Hinaros Worte waren schon immer bissig gewesen, aber jetzt ging sie über die Grenze des kulturell Erlaubbaren.
„Du hast wie ich ebenfalls mit ihr gesprochen, Hinaro“, meinte Shiot gelassen, „Sag, hörten sich so die Worte einer Verrückten an?“
„Sie weiß zu viel, das ist das Problem“, fuhr die frisch ernannte Vollpriesterin fort, „Über all das Wissen kann sie ihre Gedanken nicht mehr ordnen.“
Auf einmal verspürte Shiot das unvermeidbare Bedürfnis, Mirvuh zu verteidigen und sie konnte nicht anders, als sich eingestehen, welche Größe die Hohepriesterin in ihrem ganzen Sein besaß. Zugleich erinnerte sie sich an die Worte, die Mirvuh ihr gegeben hatte. Und gemäß dieser erklärte sie: „Ich freue mich für dich, Hinaro. Als Zeremonienpriesterin ist dir eine ehrevolle Aufgabe übertragen worden“
Ihr Gegenüber musterte sie überrascht, dann rang sie sich ein Kopfheben und ein Schnauben ab, bevor sie den Raum wieder verließ.
Loa blickte ihrer Zimmerkameradin einen Moment hinterher, dann brach sie in Gelächter aus.
„Damit hat sie wahrlich nicht gerechnet“, gluckste sie.
„Nein“, entgegnete Shiot und rang sich ebenfalls ein Lächeln ab.
Loa bemerkte, dass ihr Gegenüber ihre Freude nicht teilen konnte und blickte sie nachdenklich an.
„Dir schweben viele Gedanken im Kopf herum, nicht wahr?“
„Ja“, erwiderte Shiot und ließ sich auf eines der im Raum liegenden Kissen nieder.
„Ich habe eine Entscheidung zu treffen, die mein ganzes zukünftiges Leben prägen wird.“ Die ältere Frau musterte sie.
„Weißt du“, erklärte sie schließlich. „Ich kann die Situation, in der du stehst, nicht teilen und nicht beurteilen. Aber ich kann dir einen allgemeinen Rat geben: Höre auf dein Herz. Nicht auf das, was andere dir sagen und von dir wollen. Es ist dein Leben und deine Entscheidung.“
„Danke“, flüsterte Shiot leise.
Denn auch wenn ihre Gedanken verwirrt und durcheinander waren, verstand sie, dass ihr Herz die Antwort schon die ganze Zeit gekannt hatte. Jetzt musste sie nur noch den Mut finden, diese Erkenntnis auszusprechen und zu ihrer Wahrheit und ihrem Leben zu machen.
Nichts war ihr jemals schwerer gefallen.