Furcht ist der beste Lehrer.
- Ein Sprichwort unbekannter Herkunft -
Sinijar hatte in seinem Leben bereits vielen Herren gedient – den wenigsten von ihnen freiwillig. Als er vor drei Schattentagen nach Kantigark gekommen war, hatte ihn Antirehm in seinen Dienst genommen. Zunächst nur als einen normalen Soldaten der Stadtwache, doch letztendlich als Hauptmann der Wache seines ältesten Sohnes und Erben. Es war eine große Ehre. Mehr als sich ein Bauernjunge jemals hätte erträumen können. Und dennoch wäre er jetzt lieber auf dem heimatlichen Hof, ein Junge, der noch nichts von der Grausamkeit der Welt verstand, anstatt jetzt durch die Gänge des fürstlichen Palastes zu hetzen. Die Welt war seitdem soviel komplizierter geworden. Der kleine Junge hatte nichts verstanden von Politik, dem Tempel und den Machtspielen der hohen Männer. Menschen waren geboren worden und andere gestorben. Und jetzt riskierte er sein Leben für einen Jungen, der nicht sein Sohn war. Weshalb? Du bist ein Narr, Sinijar. Die Dankbarkeit eines Adeligen verschwindet rasch. Das solltest du wirklich gelernt haben.
Dennoch blieb er nicht stehen. Stattdessen trat er durch die Halle der Grünlichter, die aufgrund der zu Vorhängen verwebten Steinblüter so genannt wurde, nach draußen und ging über den Hof zur Kaserne der Hohenwacht. Dies war der Name der Fürstenwache Kantigarks, die wiederum in verschiede Unterabteilungen gegliedert war. Wie die Prinzenwache Nisirehms, der Sinijar angehörte.
„Verzeihung?“ Ungeduldig wich der Soldat dem jungen Mann aus, der auf einmal in seinem Weg stand und richtete den Blick auf die Taverne vor ihm. Doch im Vorbeigehen griff der Unbekannte nach dem Ärmel von Sinijars Wams und ergriff es. Er hielt inne.
„Was soll das?“, fauchte er, während er die Hand des Mannes ohne jeden Widerstand abschüttelte. „Ich habe keine Zeit für solche…“
„Und ich ebenfalls nicht“, unterbrach ihn sein Gegenüber so wagemutig, dass Sinijar ihn zum ersten Mal wirklich ansah. Der junge Mann, dessen Nase mindestens einmal gebrochen und danach schief verheilt war, kam ihm bekannt vor. Seine Haltung war für einen Arbeiter erstaunlich gerade und selbstsicher. Sein Oberkörper war nicht besonders muskulös, stattdessen war er schlank und erschien wendig. Nur seine Beine schienen hart und gestählt, er ging komisch, so als ob er…
„Du bist der Gewinner des Rennens. Der Reiter der Schimmelstute.“
Sein Gesprächspartner ging nicht darauf ein. „Wer ich bin und was ich tue, ist irrelevant für die Wichtigkeit meiner Nachricht.“
„Was ist es?“, fragte er. Währenddessen überlegte er sich, ob es sich lohnte, den jungen Mann festzunehmen und zu verhören.
„Eine Warnung. Und ich möchte diese nicht wiederholen, weil ich auch eine Familie habe, die ich zu schützen verpflichtet bin.“ Seltsamerweise fühlte sich Sinijar zum Jungen und Unmündigen degradiert, obwohl er mindestens zehn, eher fünfzehn Schattentage älter war als der Reiter der Schimmelstute.
„Das Heer, das ausgezogen ist, kehrt zurück, jedoch größer und stärker. An ihrer Spitze reitet der Hohepriester persönlich, während Fürst Antirehm ein Gefangener im Tross ist. Also rate ich Euch, dass Ihr seine Kinder in Sicherheit bringt und das rasch.“
„Hast du Beweise?“
Der junge Mann, dessen Namen er nicht kannte, musterte ihn nur. Schließlich, als Sinijar schon dachte, er würde nichts mehr sagen, erwiderte er: „Schaut Euch in der Stadt um. Jene, die das Gesetz des Tempels und eine verschärfte Rechtsprechung befürchten, verlassen die Stadt.“
„Die Tiakar. Schmuggler. Visoniker“, vermutete er.
„Richtig. Alle, die einem anderen Volk, Religion oder sonstige Minderheiten fliehen.“
Sinijar war nie ein General gewesen, sondern immer ein Soldat. Und wenn man einem Soldaten sagte, dass er zu fliehen hatte, floh er. Es gab keine Alternative, vor allem wenn es um den Sohn eines Fürsten ging.
Er nickte dem Mann zu, wandte sich um und rannte, um den Prinzen zu holen.
Als er Nisirehm fand, befand sich dieser in dem Saal der vier Kronen. Hier fand die Zeremonie des Haareschneidens statt, mit welcher der Prinz in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen werden würde. Es herrschte Stille und nicht wenige wandten sich mit Empörung im Gesicht zu der hereinplatzenden Wache um. Ausschließlich Männer des Adels hatten sich hier versammelt. Einige waren schon vor Tagen angekommen, um an ihr teilzunehmen. Es war eine bedeutende Zuschaustellung fürstlicher Macht und auch wenn viele Adelige ihrem Fürsten in den Feldzug gefolgt hatte, war doch eine stattliche Anzahl zusammengekommen. Die drei Speere Hisiops hingen neben dem weißen Hund Nukastas und der goldenen Schrift auf grünem Grund, welche sich die Grafen von Intakjar zum Wappen gewählt hatten. Darunter folgten die Wappen von Freiherren, die ihren Grafen gefolgt waren. Nur die bedeutenden von ihnen durften die Wände mit ihren Farben schmücken. Von den Edlen und Gnisas, die sich an den Wänden drängten, fand sich kein Wappen, zu unbedeutend waren sie. Sinijar kannte sie alle. Viele Augen hatten ihm über die Vorlieben der einzigen Adeligen unterrichtet. Hisaheg, der vierte Sohn Graf Flojareg von Intakjar, trug ein Messer im Stiefel. Der Erbe von Hochstein, Hunnaeg, dagegen so starkes Parfüm, dass sowohl Frauen als auch Männer ihn mieden. Das Gemunkel, nach dem seine Frau aufgrund seines Gestanks tot umgefallen war, interessierte Sinijar dagegen weniger. Viel wichtiger waren die Geschenke, die Hunnaeg Isachan hatte senden lassen. Eigentlich wäre das nicht seine Aufgabe, doch verachtete er den Mann, der für den Schutz der Prinzessin verantwortlich war und auch so etwas bedenken sollte.
Der einzige Graf war Nureg, ein nur wenige Schattentage älterer Vetter des Prinzen. Die Banner der anderen Grafschaften - Avtey, Tuagar, Lantey, Mantorl und Tijosos - fehlten.
Es war ihm auch ganz recht so, waren doch bereits so zu viele Menschen versammelt. Zu viele Menschen und eine Zeremonie, die er unter keinen Umständen stören konnte, denn dann würde er erst recht Mistrauen erwecken. Die Aufstellung der Wachen gefiel ihm, sie trennten den Sohn Antirehms von der Menge. Nur die Männer, die die Zeremonie durchführten, durften bei ihm stehen. Hatars, der oberste Priester des Asarovtempels in Kantigark und zwei Priester seines Tempels begleiteten neben Nureg, dem ältesten männlichen Verwandten, den Prinzen.
Als Nuregs Hand mit der Klinge sich Nisirehms Schädel näherte, stand Sinijar ebenso bereit, wie die Armbrustschützen, die er hinter den Vorhängen verborgen hatte. Geschichten über Verwandte und Adelige, die sich so missliebiger Erben entledigt hatten, gab es viele. Doch es waren nur Haarlocken, die fielen, kein Kopf. Nisirehm war niedergekniet, während sein Vetter, die Haare, die nie zuvor geschnitten worden waren, zur Frisur des Erwachsenen schnitt. Es brachte Unglück, wenn die Strähnen zu Boden fielen. Deshalb fingen die beiden Priester jedes einzelne Haar mit einem Schleier auf, den sie unter seinen Kopf hielten. Dem Brauch nach wurde dieser Schleier aufbewahrt und seiner Frau an ihrem Hochzeitstag überreicht werden. Sie würde es genauso halten.
Nachdem die Haare bis auf die Länge der Schultern geschnitten worden waren, war es Hatars, der Nisirehm mit flinken Fingern einen Zopf flocht, der die vorderen Strähnen zurückhielt.
„Als Kind knietet Ihr nieder, nun erhebt Euch als ein Mann vor den Göttern und den Menschen“, rief der Diener Asarovs, dem Schützer der Jugend. Füße stampften und Hände klatschten, als der nun Volljährige sich erhob. Und der Fürst war nicht gekommen…Es konnte so viele mögliche Erklärungen geben, ein Unwetter, ein verzögerter Aufbruch oder der einfach länger dauernde Feldzug. Dennoch befürchtete Sinijar, dass der Junge Recht hatte. Männer waren in und vor die Stadt geschickt worden, um die Quartiere der Tiakar zu durchsuchen und ein nahendes Heer zu melden, falls es dieses gab.
Am Liebsten würde er den Prinzen nehmen und ihn fort bringen, bis die Befürchtungen be- oder widerlegt wurden, aber das konnte er nicht. Also schwieg Sinijar, wartete und dachte nach, während er beobachtete wie der Prinz sich mit einen Byeros kleiden ließ. Es gab viele Arten, einen Byeros zu tragen und für Nisirehm war eine der Unpraktischsten gewählt worden. Irgendjemand hatte es als eine wunderbare Idee empfunden, hauchdünne Stoffschichten aus verschiedenen Grüntönen, die mit Gold durchsetzt waren, lose zu verknoten und zu einem Byeros zu formen. Die langen Enden der Stoffbahnen wurden um Nisirehms Hüfte verknotet, die Arme, wie bei Hochadeligen üblich, komplett von Stoff verdeckt. Nach neuster Mode war das Kleidungsstück an den Seiten und am Ausschnitt geschlitzt und mit Süßwasserperlen verziert worden. Es mochte Reichtum und Stand Nisirehms anzeigen, aber zum Kämpfen war es absolut unpraktisch. Sinijar war froh, dass die Soldaten Kantigarks in Friedenzeiten nur einen Salrav, einen kleinen Byeros, über der Rüstung zu tragen hatten. Es ließ die Arme komplett frei und bedeckte ähnlich einem Latz nur Teile der Brust und des Rückens. Wie sollte Nisirehm in dieser Aufmachung nur aus der Stadt fliehen? Nachdenklich verfolgte er den Fortgang der Zeremonie.
So fand ihn der erste seiner Soldaten vor. „Du hast Recht“, erklärte er ohne jegliche Wertung in der Stimme, „Auf dem Markt findet sich kein einziger Tiakar und keiner weiß, wohin sie gegangen sind.“
Die Tiakar. Er hatte es gewusst, kaum, dass der Junge dieses Volk erwähnt hatte. Wenn es jemand verstand, Nachrichten durch die Wüste zu tragen und sie dieser zu entlocken, dann waren es die Tiakar. Und wenn sie flohen…
Beschütze ihn um jeden Preis, habt Ihr gesagt. Aber ist es Euch das wert, Fürst? Soll ich Eure Adeligen brüskieren, damit Euer Sohn vor etwas flieht, was vielleicht gar nicht existiert?
Sinijar war als Soldat erzogen worden und so obsiegte der Gehorsam über jegliche Bedenken. Ohne noch länger zu zögern, trat er an den von Gratulanten umringten Nisirehm heran. Er selbst war es, der den Soldaten zuerst bemerkte.
„Sinijar“, begrüßte der Junge ihn und wandte sich von einigen niederen Adeligen ab, die ihn umringen. Ein Mann, verbesserte Sinijar sich, Er ist nun ein Mann. Vergiss es nicht. Männer wurden schon für geringere Worte hingerichtet.
„Verehrter Prinz! Meine Gratulation zu dem Haar, das Euch nun fehlt.“ Er stockte. Welche Ausrede willst du ihnen geben, Sinijar? „Doch seid Ihr nun nicht nur verpflichtet, Euer Haar kurz zu halten, sondern auch Nanasath ihren Tribut zu erbringen. Die Umstehenden nahmen die Forderung sogleich auf. „Der Tribut! Tribut“, riefen sie, bis auch der letzte es bemerkte. Der Prinz dagegen war errötet und blickte Sinijar fast feinselig an. Ich rette dir dein Leben, Junge. Lerne dankbar zu sein. Nur wie sollte er die Männer loswerden, die sicherlich nicht zögern würden, ebenfalls den Tribut zu erbringen? Nanasath war eine freigiebige Göttin, doch ebenfalls eine hungrige. Wer kein gutes Geschenk brachte, konnte kaum hoffen, mit einer Priesterin durch die Vereinigung das Land zu segnen. Wenn ein Junge zum Mann wurde, waren sie dagegen häufig großzügig. Immerhin hatte er einen Vorteil: Der Nanasath-Tempel lag nahe dem Pferdetor, das zu dieser Zeit geöffnet war.
Es war Viaras, der zum ersten Mal in seinem Leben Sinijar half – wenn auch ungewollt. Während die Rufe immer lauter wurden, hatte er sich auf ein Podest gestellt und hob nun seine schallende Stimme.
„Es geht darum, dass der Prinz das Land segnet! Wie soll unterschieden werden, ob eine Leibesfrucht von ihm stammt und seine Herrschaft somit glücklich werden wird, wenn sich Dutzende von Männern mit den Priesterinnen vereinigt haben? Wir guten Herren werden bleiben und beten, dass aus der Verbindung ein Sohn entsteht, der dem Willen der Götter nach handelt und ihnen Ehre bringt, denn nur dies allein ist Zweck dieser Vereinigung!“ Es dauerte bis Sinijar dem Sinn dieser Bandwurmsätze verstanden hatte, doch als er es tat, lächelte er. Einem Priester würden sie nicht offen zu widersprechen wagen. Nur der nächste Satz störte.
„Als Zeichen dieser Ehre werden sieben Männer des Götterschildes den Prinzen zu dieser Verpflichtung begleiten, um teilzuhaben an der Freude dieses Tages! Mein Shalas wird die Gruppe anführen.“ Ein Problem, ohne jeden Zweifel. Ohne ein Wort zu sprechen, stellten sich die Männer der Götter um den Sohn des Fürsten auf. Sie wirkten unnatürlich, statisch, in ihren goldenen Rüstungen und den bunten Helmbüschen. Seine eigenen Männer wirkten klein und unwichtig im Vergleich zu ihnen. Die einfachen Hirnhauben mit dem Sporn konnten nicht gegen die farbenprächtigen, hoch aufstehenden Helmbüschen mithalten, von der goldenen Rüstung ganz zu schweigen. Ihr Anführer war ein großer, schlanker Mann, der ein paar Jahre jünger als er selbst war. Als Shalas war er ein enger Freund oder sogar Verwandter Viaras’. Es konnte auch als eine Ehre verstanden werden, aber für Sinijar war das ein Aufpasser. Er hatte noch nie gegen einen der Goldenen gekämpft. Er hoffte, dass sie schlechter kämpften, als sie aussahen. Ein tiefer Seufzer entrang seiner Kehle. Nicht unlösbar, nein. Aber schwierig.
Zu seinem Glück bestand Prinz Nisirehm darauf, dass seine Prinzenwache ihn begleitete und um das Gleichgewicht zu wahren, wählte Sinijar sechs seiner besten Männer aus. Sie alle waren Teil der Gruppe, die Antirehm dazu bestimmt hatte, seinen Sohn im Fall der Fälle in Sicherheit zu bringen. Fünfzehn Männer gehörten mit ihm diesem Trupp an. Es war eine zu große Zahl, als dass sie hätten befürchten müssen, von Räubern überfallen zu werden und zugleich klein genug, um genügend Verstecke vor Viandavs tödlichen Licht zu finden. Zu seiner Freude befand sich Hanujar, den Antirehm zu Sinijars Stellvertreter ernannt hatte, in der Halle.
Als er an ihm vorbeiging, legte Sinijar die linke Hand auf seine Brust, tat, als ob er das Kettenhemd zurecht rücken müsste und tippte mit dem Zeigefinger der rechten Hand dreimal darauf. Ein ausgeklügeltes System von wortlosen Zeichen und Codes war eines der ersten Dinge, die Sinijar eingeführt hatte, als er Befehlshaber von Nisirehms Wache geworden war.
Nun wusste der Soldat, dass die Zeit gekommen war, den Prinzen in Sicherheit zu bringen. Das leise Wort, das ihm daraufhin noch zugeflüstert wurde, verriet zugleich den Plan, den der Trupp versuchen würde, um Nisirehm aus der Stadt heraus zu bekommen.
Der ganze Austausch dauerte nur wenige Augenblicke, dann war Sinijar vorbei, um den Prinzen aus der Halle zu geleiten und Hanujar in der Menge untergetaucht, damit die Befehle ausgeführt wurden.
Das Freudenhaus war von außen nicht als solches erkennbar, was angesichts der strikten Regelungen auch verständlich war. Es wirkte wie ein ganz normales, größeres Haus, das sich in der Nähe des Pferdetores erhob. Doch wer sich auskannte oder jemanden kannte, wusste, dass sich hier eines der besseren Freudenhäuser befand. Rychsal, die Besitzerin, war eine freigelassene Sklavin, die ihrem Besitzer fünf Kinder geschenkt hatte und die der Händler so geliebt hatte, dass er sie in den Stand einer Nebenfrau erhoben hatte. Mit dem Geld, das er ihr hinterlassen hatte, war klug gewirtschaftet worden, so dass ihr Freudenhaus einen ausgesprochen guten Ruf hatte. Selbstverständlich waren alle Frauen Sklavinnen, damit der Tempel keinen Grund zur Kritik hatte. Dennoch - dass Sinijar ihr nun Soldaten des Götterschildes ins Haus brachte, würde Rychsal sicherlich nicht erfreuen. Aber die Ehre einen Fürstensohn zu begrüßen, glich das – so hoffte er - wieder aus. Sinijar war erleichtert, dass der erste Teil seines Plans funktionierte. Unter dem Vorwand, dass sich der Prinz nicht vor den Priesterinnen blamieren und erst einmal von einer Hure lernen sollte, hatte er die Gruppe überredet, dieses Freudenhaus aufzusuchen.
Der Soldat nickte Twujar, einem seiner besten Männer zu, der die Tür aufschob und dem die anderen rasch nachfolgten. Nisirehm in ihrer Mitte fühlte sich deutlich unwohl, auch wenn die erste Frau, die ihnen begegnete, den Sitten gemäß angekleidet war. Auch der Rest des Hauses, in den man Einblick hatte, wirkte normal. Von dem kleinen Empfangsraum gingen weitere durch Vorhänge und Wände abgetrennte Räume ab und über ihnen gab es ein weiteres Stockwerk. Einzig die Teppiche, die Männer und Frauen in unterschiedlichen Stadien der Lust abbildeten, verdeutlichten den Zweck des Hauses. Sinijar würdigte die Darstellungen keines Blickes. Deswegen war er heute nicht gekommen.
„Bringt Rychsal her!“, befahl er der jungen Frau, die er flüchtig kannte. Sie nickte, verschwand in ihren dünnen Schuhen, die nach einem Marsch blutdurchtränkt wären und brachte kurz danach die Herrin des Hauses her.
Rychsal trug ein weites Kleid in Blau und Grün, das mit einem geflochtenen Gürtel gerafft wurde, an welchem ein einzelnes silbernes Glöckchen bimmelte. Mit dem Zeichen ihrer einstigen Sklaverei schmückte sie sich ebenso wie mit dem Byeros, den sie als freie Frau tragen durfte. Was Sinijar an ihr gefiel, waren die praktischen, geschnürten Stiefel, die sie unter dem Kleid verbarg. Diese Frau war klug und weise genug, eben das nicht zu zeigen. Schnell erkannte sie die Situation, verneigte sich vor dem Prinzen und fragte dann forsch, was sie für ihn tun könne.
„Wir haben keine Jungfrauen, aber wenn Euch das, Hoheit, gefällt, kann eines meiner Mädchen sich so verhalten.“
Immerhin war sie ehrlich, was vermutlich eher an der Kenntnis der Konsequenzen bei Betrug eines Prinzen lag als an ihrem guten Herz.
Der Prinz sagte immer noch nichts, sondern versuchte eine tapfere Miene aufzusetzen. Vermutlich hatte er noch nie eine Frau gehabt. Obwohl Sinijar es für gewöhnlich allein als seine Aufgabe ansah, für den Schutz des Jungen zu sorgen, trat er jetzt vor Rychsal.
„Ein hübsches Mädchen mit Erfahrung sollte genügen. Kein Mann soll sich ihr in den letzten drei Monden genähert haben“, erklärte er und nickte der Freudenhausbesitzerin zu.
Ein kurzes Zwinkern der Augenlieder, mehr Anzeichen, dass sie ihn kannte, gab es nicht.
Erneut verneigte sich die Frau, dann deutete sie mit einer wagen Bewegung auf einen der Vorhänge.
„Wenn Eure Hoheit mir folgen möchte. Die Mädchen warten auf Euch.“ Mit einem Zeichen bedeutete Sinijar seinen Männern Twujar und Inufjar den Prinzen zu begleiten, während Zlokijar und Djavijar Aufstellung an der Tür nahmen und Tersojar und Etaljar die restlichen Räume durchsuchen würden, um alle anderen Gäste hinauszugeleiten. Sechs Männer…Er hatte schon unter weitaus schlechteren Bedingungen Kämpfe ausgefochten, dennoch schmeckte ihm die ganze Sache nicht. Das Haus war weit verwinkelt. Wenn alles gut ging, würden sie bald Verstärkung erhalten. Nur hatte Sinijar schon zu viel erlebt, um sich auf Eventualitäten zu verlassen.
Auch die Soldaten des Götterschildes verteilten sich. Kein Wort fiel zwischen ihrem Befehlshaber und Sinijar, was diesen aber nicht störte. Er hasste unnötige Worte und verspürte keine Lust, sich mit diesem angeberischen Bastard zu unterhalten, der sich eindeutig für etwas Besseres hielt.
Sinijar blieb mitten im Raum stehen und wartete, bis seine Männer alle Besucher hinausgetrieben hatten. Die meisten Männer grummelten leise, richteten ihre Kleider, wagten es jedoch nicht gegen einen fürstlichen Soldaten anzugehen. Drei beschwerten sich lauter, wurden jedoch still, als Sinijar die Hand an seinen Säbel legte. Einen, der selbst einen Dolch zog, beförderte er persönlich in die Gasse. Etaljar versicherte ihm, dass alle Besucher fort und alle Mädchen bei Nisirehm waren. Es gab keinen Hinterausgang, dennoch befahl Sinijar ihnen durch das Haus zu patrouillieren und zugleich die Soldaten des Götterschilds im Auge zu halten.
Schließlich kam Rychsal zu ihm und nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie alleine waren, bedeutete er ihr zu sprechen.
„Du planst doch etwas, Sinijar“, begann sie ohne Umschweife.
„Richtig“, erklärte er ohne weiteres, „Der Prinz muss erwachsen werden. Das lernt man am besten bei einer Frau. Und ich brauche das Zimmer oben mit Blick zum Bach. Falls weitere meiner Männer kommen, haltet sie nicht auf.“
Rychsal baute sich dicht vor ihm auf, so dass er von ihrer Parfümwolke eingehüllt wurde.
„Nicht bei mir, Sinijar“, erklärte sie, „Ich habe einen guten Ruf und…“
„Ein Leben für ein Leben“, entgegnete er ungeduldig, „Das ist nur fair.“ Vor einem Lichttag hatte er einer ihrer Huren das Leben gerettet, einem jungen Mädchen, das zwei Banditen in die Hände gefallen war.
„Eine Hure gegen einen Prinzen“, schnaubte sie, „Manch einer würde das für einen schlechten Tausch halten. Außerdem weißt du, was passieren wird, wenn hier Soldaten des Götterschildes sterben und ein Prinz verschwindet.“ Trotz dieser Worte schimmerte in ihren Augen nicht die geringste Spur von Angst. Erneut blickte er auf die Stiefel, die sie trug. Sie waren aus guten, festen Leder. Besser als alles, was sich eine Sklavin leisten konnte. Ohne jeden Zweifel hatte Rychsal etwas zu verlieren.
„Du weißt, wie man Geheimnisse verschleiert. Ich weiß es. Und wenn ich es nicht täte, wäre das schlecht für dein Geschäft.“
„Und wenn ich eines meiner Mädchen zur Stadtwache schicke? Wer würde dann kommen, damit der Prinz nicht flüchtet?“
Sinijar musterte sie mit harten, grauen Augen. Im selben Moment stellte er fest, dass er sie verachtete. Ohne zu wissen, worum es ging, glaubte sie, ein Spiel spielen zu können.
„Wir sind bewaffnet“, erinnerte er sie nur knapp.
„Verdammt!“ Sie verfluchte ihn mit dem Namen eines ihm unbekannten Gottes. „Also gut.“
Es hatte Sinijar noch nie etwas ausgemacht, Menschen zu bedrohen. Und Nisirehm war wichtiger als eine alte Hure und ihr Leben.
Gemeinsam gingen sie zu Nisirehm, der vor einer Reihe von Huren stand. Sie alle waren mindestens ansehnlich, einige sogar hübsch.
„Wir haben sie alle durchsucht“, erklärte Inufjar, der gegenüber des Vorhangs an der Wand lehnte und so eine gute Position hatte.
Sinijar nickte und trat zu Nisirehm, der zusammenzuckte, als er ihn bemerkte.
„Habt Ihr Euch entschieden, Hoheit?“, fragte der Soldat, auch wenn dem augenscheinlich nicht so war.
Zu seinem Überraschen nickte er und zeigte auf die Hure, die direkt vor ihm stand. Das Zittern, das Sinijar durchlief, als er sie sah, verbarg er rasch. Es gab Gründe, warum er selten bei Rychsal war, sie war einer davon. Zunächst war es nur ein Mädchen gewesen, das er aus einer Gefahr gerettet hatte. Dann, als er ihr ins Gesicht geblickt hatte, war es nicht sie, die er gesehen hatte. Sie schien seiner Vergangenheit entsprungen zu sein. Er hatte sie zurück begleitet und sie hatte sich so bei ihm bedankt, wie Huren es eben tun. Damals hatte ihn das Begehren gepackt und er hatte sie nicht eben freundlich behandelt. Sinijar war ein Soldat und hatte viele Dinge erlebt und getan, was andere als grausam erachten würden. Doch Vergewaltigungen konnte und hatte er nie akzeptieren wollen.
Für ihn – und vielleicht auch für sie – stand das ebenso zwischen ihnen wie der Name, den er im Augenblick der Lust geschrieen hatte.
„Gut.“ Er nickte und war froh, dass sie seinen Blick nicht erwiderte, sondern ihn zu Boden richtete.
Mit Worten, die von Ehre schwärmten, geleitete Rychsal Nisirehm, die Wachen und seine Auserwählte zu dem Raum, den Sinijar gewollt hatte.
Es war ein großer, prachtvoll ausgerichteter Raum. Aber viel wichtiger war die Leiter, die von hier aufs Dach führte und vom Dach kam man leicht zum Fluss.
Wortlos postierten sich drei Soldaten des Götterschildes im Raum und Sinijar hielt es mit zweien seiner Männer ebenso. Für einen Fürsten gab es keine Privatsphäre, je eher Nisirehm das lernte umso besser. Außerdem gedachte Sinijar nicht, es zu dieser Vereinigung kommen zu lassen.
Nisirehm hatte sich auf der Liege niedergelassen und saß steif dort. Das Mädchen befand sich hinter ihm, legte die linke Hand auf seinen Oberarm und begann sie wandern zu lassen. Sichtlich unwohl blickte er starr geradeaus, ließ die Hure jedoch machen. Sinijar sah zu dem Anführer der anderen Soldaten, der mit undurchschaubarer Miene das Geschehen beobachtete. Seinen Namen hatte er bereits vergessen. Wichtiger waren ihm der athletische, kräftige Körper und die Bewaffnung. Seine hohen Stiefel besaßen Eisenbeschläge und eine feste Sohle, die für langes Marschieren ausgelegt war.
„Nein!“ Sinijar wandte sich um und blickte zu Nisirehm, der den Arm der Hure gepackt hatte und nun von ihr wegrückte. „Nein“, wiederholte er, „Ich will das nicht.“
„Aber edler Herr, ich tue auch alles…“ Sie brach ab.
Verblüfft starrte Sinijar den Jungen an, der damit sicherlich ungewollt ein Problem erschuf.
In diesem Moment trat Viaras’ Günstling vor.
„Verehrter Prinz“, erklärte er mit einer Schärfe, die nicht zu der Anrede und Nisirehms Stellung passen wollte, „Es ist Eure Verpflichtung mit der Priesterin der Nanasath das Land zu segnen. Wenn Euch die Hure nicht passt und sie Eurem Stand nicht gemäß ist, können wir auch sogleich dort hingehen, sofern Ihr das wünscht.“
Trotzig sah Nisirehm ihn an.
„Ich will weder mit dem Mädchen noch mit der Priesterin das Land segnen“, erklärte er. Seine Verbissenheit ließ Sinijar ihm stillen Respekt zollen. Es mochte taktisch nicht sonderlich klug sein, aber der Junge stand zu seinen Prinzipien. Das war mehr als man von vielen anderen in seinem Alter behaupten konnte.
Der Götterschildler machte einen Schritt vorwärts und baute sich so dicht vor dem Prinzen auf, dass Sinijar zu seiner Waffe griff und einen Schritt vorwärts machte. Der Andere bemerkte das nicht, wohl aber Nisirehm. Besorgnis schlich sich in sein Gesicht und der Blick, den er mit Sinijar tauschte, ließ ihn erkennen, dass der Junge begann zu verstehen.
„Was meint Ihr denn, wie der Fürst seinen Bastard gezeugt hat?“, formulierte der Mann scharf.
Nisirehm zuckte zusammen. Diese Worte waren ungeheuerlich, das verstand selbst Sinijar. Er nahm sich vor, diesen Mann im Auge zu behalten.
Der Junge sah zu seinem Leibwächter. Es lag kein Flehen darin. Stattdessen eine Stärke, die Sinijar verwunderte. War er wirklich noch ein Junge? Oder viel mehr erwachsen, als er, sie alle, es geglaubt hatten? Mehr als sie selbst es waren? Konnte ein Mensch in einigen Dingen erwachsen und in anderen kindlich zugleich sein?
„Ich mag meines Vaters Sohn sein, aber ich bin nicht er“, entgegnete er standhaft.
In diesem Moment klopfte es an der Tür.
Sie alle zuckten zusammen, doch es war nur Twujar, der ein Tablett mit Speisen und Getränken herein trug. Mörder klopfen nicht an, du vergesslicher Narr. Die angespannte Atmosphäre ignorierte er.
„Für Euch, mein Prinz.“
Mit einer eleganten Handbewegung nahm Nisirehm einen Kelch mit Wein entgegen und reichte ihn an die Hure weiter, die sich an die andere Ecke der Liege zurückgezogen hatte und anscheinend eingesehen hatte, dass sie bei ihm auch weiterhin kein Glück haben würde. Dann nahm er sich selber einen und musterte für einen Moment gedankenverloren das stilisierte Silber, bevor er ihn hob.
„Augenblick“, meinte da der Götterschildler und Nisirehm ließ den Kelch wieder sinken.
„Zunächst muss er vorgekostet werden“, beharrte er.
„Werft Ihr meinen Männern etwa Unvorsichtigkeit und Versagen vor?“, fragte Sinijar mit scharfer Stimme.
Der Andere trat auf ihn zu. Bewusst wich Nisirehms Leibwächter noch einen weiteren Schritt zurück, so dass die Tür im Rücken des Götterdieners war.
„Wenn Ihr Eure Arbeit immer so gründlich macht, habt Ihr doch nicht dagegen, wenn wir mehrfach auf Gift prüfen? Schließlich wollen wir alle nicht, dass dem Prinzen etwas zustößt!“ Wie er diese arroganten Götterschildler hasste. Sie waren ja fast noch schlimmer als die Priester.
„Oh, ich bin mir sicher, dass deinem Tempel sehr viel am Wohl des Prinzen liegt“, bestätigte Sinijar sanft.
Sein Gegenüber runzelte die Stirn. „Ihr macht Euch über mich lustig“, erkannte er.
„Tue ich das? Vielleicht ein bisschen“, entgegnete er leichthin.
„Du verdammter, kleiner Narr“, zischte der Soldat des Götterschildes und trat so nah an den Älteren heran, dass dieser den strengen Schweißgeruch wahrnahm. „Antirehm wird nicht immer da sein, um dich zu schützen.“
„Wie du siehst“, entgegnete Sinijar gelassen, während seine rechte Hand hinter seinem Rücken den Dolch hervorholte, den er in der Armbeuge seiner Uniform verborgen hielt. „lebe ich noch und dabei ist Antirehm nicht da.“ Da Götterschildler ebenso wie die Priester Diener der Götter waren, wurden sie genauso geduzt. Die Wenigsten von ihnen verhielten sich aber dienend.
Der Diener der Götter schnaubte und schüttelte den Kopf. „Wie ich euch Emporkömmlinge hasse! Könnt ihr nicht einfach in den Schlamm zurückkehren, aus dem ihr gekrochen seid? Das würde so vieles vereinfachen.“
„Aber die Welt wäre auch so viel langweiliger.“ Mit einer blitzschnellen Bewegung hob er die Klinge und rammte sie in den Spalt zwischen Helm und Brustpanzer. Blut spritzte auf und Fassungslosigkeit spiegelte sich in dem Blick des Mannes.
„Du verdammter Bastard“, keuchte er noch, dann sank er zusammen. Die Kampfgeräusche, die nun um ihn herum ausbrachen, nahm er nicht mehr wahr. Zwei der Götterschildler lagen im Sterben oder waren schon tot, der letzte kämpfte noch, würde aber bald überwältigt werden. Um die Restlichen, die sich noch im Haus befanden, mussten sich seine Männer kümmern.
„Kommt, mein Prinz.“ Dieser saß immer noch auf der Liege, die Augen starr auf das Blut gerichtet, das in dem prachtvollen Teppich versickerte. Ohne ein Wort zu sprechen, wischte Sinijar seinen Dolch am Mantel des Götterschildlers ab, packte Nisirehm mit der anderen Hand am Arm und deutete auf die Leiter, die einer seiner Männer schon angebracht hatte und die aufs Dach führte.
„Ich gehe zuerst“, erklärte er. Er glaubte zwar nicht, dass dort jemand war, aber sicher war sicher.
Die Tür öffnete sich und Hanujar, Sinijars Stellvertreter stürzte herein. Also hatte er die Botschaft verstanden und die Restlichen von Sinijars Schutzbegleitung mitgebracht.
„Es ist alles unter Kontrolle“, berichtete er, „Die Götterschildler sind alle tot, Sohujar und Cujar bewachen die Huren.“.
„Gut gemacht“, meinte Sinijar.
„Sollten wir die Hure nicht doch lieber umbringen?“, fragte er, „Sie wird eines der Mädchen zur Stadtwache schicken, kaum, dass wir weg sind.“
„Nein“, entgegnete sein Hauptmann nach einem kurzen Moment des Zögerns. Das würde er Rychsal nicht antun. „Aber fesselt sie und ihre Mädchen und das schnell.“
Hanujar nickte, packte das Mädchen, das in einer Ecke gesessen hatte, verließ den Raum und zerrte sie die Treppe hinab. Sinijar winkte Twujar und Inufjar, damit sie ihm folgten und stieg dann die Leiter hinauf. Das Dach war leer. Aufgehängte Wäsche flatterte sanft im Wind und Stimmen hallten von den Straßen zu ihnen hinauf. Vorsichtig trat er an den Rand und blickte auf die Straße. Einige Kinder ließen Reifen über die Straße rollen und wichen zurück, als zwei Reiter herannahten. Die edlen Gewänder und die Frisur ließen keinen Zweifel an ihrem Stand, doch zu ihrem Glück war nicht Rychsals Etablissement ihr Ziel. Bald schon nahmen die Kinder wieder ihren Platz ein und Lachen ertönte unter ihnen. Dann, als der Soldat sich schon abwenden wollte, ertönte das Horn. Es drang durch die Straßen, ließ die Kinder in ihrem Spiel innehalten und Sinijar sich besorgt aufrichten.
„Schnell“, fauchte er. Ein zweites Mal hallte der Klang des Horns durch die Straßen, bald fielen weitere darin ein, bis aus allen Richtungen die Alarmhörner der Stadtmauern ertönten. Jemand kommt, sangen sie, Schließt die Tore, jemand kommt!“ Er hoffte so sehr, dass der Ruf auch erhört werden würde. Je länger die Ankömmlinge vor dem Tor warten würden, desto eher konnten sie entkommen. Endlich erschien der Kopf des Jungen. Sinijar reichte ihm die Hand und half ihm auf das Dach.
„Was ist mit meinen Geschwistern?“ Es war die erste Frage, die er stellte. Seltsamerweise erschien seine Stimme völlig ruhig zu sein.
„Später.“ Sinijar legte ihm die Hand auf die Schulter und schob ihn zur anderen Seite herüber. Die Schulter der Jungen war so schmal unter seinen starken Händen, er konnte die Knochen spüren. Unter ihnen öffneten sich die Türen und Menschen strömten in Panik hinaus. Schreie gellten durch die Gassen. Sie mussten sich beeilen.
Sinijar schob den Jungen zur anderen Seite, wo das Haus an den Schmalpfeil grenzte, ein Bach, der durch Kantigark floss. Hier war auch eine Leiter an das Haus gelehnt, die sie nun hinunter kletterten. Das Wasser des Bachs, das sich hier tief in die Landschaft gegraben hatte, war schmutzig. Es trug den Schmutz der Gerber- und Färbergasse, die weiter oberhalb lagen, mit sich. Nisirehm rümpfte die Nase. Immer noch hatte er nichts dazu gesagt, dass sie soeben Götterschildler getötet hatte. Sonst stellte er immer sehr eifrig Fragen, aber jetzt schwieg er. Auf dem Dach tauchten nun die restlichen seiner Männer auf, die ihnen eilig folgten.
Sinijar ging dem Lauf des Baches nach, der seichter und breiter wurde, bis sie zu einem großen Baum kamen, der hier wuchs. Alt und mächtig war er. Das Recht Holz zu fällen, oblag dem Fürsten, aber diesen hatten weder Antirehm noch seine Vorgänger zu fällen gewagt. Solche mächtigen Bäume waren selten und so blieben selbst seine Männer für einen Moment ehrfürchtig stehen.
Sinijar nickte ihnen zu, dann trat er zu dem Baum und legte die Hände hinauf. Die raue Rinde pulsierte leicht unter seiner Haut. Im Sonnenlicht würde er eine Schutzschicht bilden, doch jetzt sog er das Licht der Monde in sich auf. Die silbrigen Blätter glänzten und funkelten wie wunderbare Schätze. Seine Hände glitten weiter über die Rinde. Schließlich, als er die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte, fand er das Zeichen.
Die Worte, die er nun flüsterte, hatte er lange nicht ausgesprochen, aber er tat gut sie erneut zu hören, auch wenn die Sprache, aus der sie stammten, nicht die seine war. Auf einmal keuchte jemand hinter ihm auf. Sinijar drehte sich nicht um. Er wusste, was sie sahen.
„Kommt!“ Er deutete auf den Gang, der sich nun vor ihnen auftat. Nisirehm war der Erste, der in das Dunkel trat und das Zögern der Stille durchbrach. Sinijar zog hinter ihnen die Klappe zu, die den Geheimgang verborgen hatte, den vor vielen Schattentagen jemand in die Erde getrieben hatte.
„Es waren die Visoniker, nicht wahr?“, fragte Nisirehm.
Überrascht ruckte Sinijar mit dem Kopf. Er konnte Nisirehms Gesicht nur verschwommen im Licht der Fackeln sehen, die seine Männer entzündet hatten.
„In einer Geschichte über sie hieß es, dass niemand ihr Land einnehmen konnte, weil es von unterrirdischen Gängen durchzogen ist und sie so nicht zu fassen waren.“
„Ja“, gab der Soldat zu, „Dies war früher visonikisches Land und der Baum, der über diesen Gang wacht, ihnen heilig.“
„Das muss lange her sein“, staunte der Prinz. „Woher wusstet Ihr davon?“
„Aus Geschichten, mein Junge, aus Geschichten.“ Es war keine Lüge, nicht wirklich. Verzeih mir, mein Freund. Es liegt auch in deinem Interesse, wenn der Junge in Sicherheit ist.
„Ich bin nicht Euer Junge, ich bin Euer Prinz“, entgegnete Nisirehm scharf und klar formuliert. Sinijar rollte mit den Augen. Du verdankst mir dein Leben, Junge. Natürlich ließ er sich das nicht anmerken.
„Ich bitte um Vergebung, mein Prinz.“ Leere Worte, die ihn nicht würden schützen können. Es war sein Titel, der Nisirehm Segen und Verhängnis zugleich sein konnte.
Stumm hasteten sie durch die Dunkelheit. Er konnte die hastigen Atemzüge des Jungen neben sich hören. Das Klacken der Stiefelabsätze hallte durch die Gänge.
„Wohin willst du gehen?“, vernahm Sinijar Hanujars leise Stimme neben ihm. Sein Stellvertreter war ein zuverlässiger aber auch vorsichtiger Mann, der treu zu dem Fürsten stand.
Sinijar senkte seine Stimme. „Ich habe keine Ahnung, wie die Lage ist. Bevor ich weiß, bevor wir ihn bringen, müssen wir das herausfinden.“
„Du weißt nicht, was geschehen ist, oder?“, fragte er. Es lag ein Vorwurf darin, den der Anführer der Wache nicht ergründen kann. „Das ist eine ziemlich spontane und unvorbereitete Aktion.“
„Das Einzige, was zählt, ist, das der Junge in Sicherheit ist“, knurrte Sinijar.
„Und wenn er aus der Stadt ist? Er ist der zukünftige Fürst der reichsten Stadt Eletaks. Wenn deine Vermutungen stimmen sollten, werden alle ihn verfolgen.“
Sinijar blickte zu dem Jungen, der vor ihm schritt. Begriff er, was hier vor sich hing? Verstand er, dass er seine Heimat soeben verlassen hatte und dass die Hohepriesterin ihn zu fassen versuchen würde? Hatte er einen Blick dafür, dass sein Vater vermutlich große Probleme hatte? Unwahrscheinlich. Nisirehm war ein Kind, das nichts von dem verstand, was um ihn herum geschah. Nun galt es dieses Kind zu schützen und zurück zu seinem Vater zu bringen.
Und das war Sinijars Pflicht.