In den Schatten, nördlich von Asinat, 2. Tebilavstag des sechsten Lichttages des 11. Schattentages des Eraz’, MAE
Und die Fürsten versammelten unter ihren Bannern die Krieger, um dem Ruf der Götter zu folgen, so wie es ihr Schwur gebietet.
Aus „Die Chronik seiner höchsten Demütigkeit Etiraz zur Aufzeichnung seiner glorreichen Taten“, niedergeschrieben von Nahasas
Trommeln begleiteten ihren Weg. Der dumpfe Ton hallte durch die Täler und mischte sich mit dem Trommeln der Pferdehufe und den Rufen der Männer.
Das Banner Kantigarks knatterte über ihnen im Wind und die Trommler trugen von ihren Beobachtungsplätzen die Nachricht von der Ankunft Antirehms bis zum wartenden Heer.
Antirehm selbst ritt hoch aufgerichtet an der Spitze seiner Männer. Sein Mantel blähte sich hinter ihm auf und schlug immer wieder auf die Kruppe des Fuchses, während das Kettenhemd Eandelaths Licht reflektierte.
Sie hätten gestern schon ankommen können, doch hatte der Fürst es vorgezogen, zu Beginn der Nacht und nicht am Ende sein Ziel zu erreichen.
Noch war es Eandelaths Licht, das hinter den Berggipfeln verborgen schien, während die Schlucht, durch die sie ritten, in den Schatten verborgen blieb.
Hoch über ihren kreischten zwei Schlangenadler und im atemberaubenden Sturzflug näherte sich einer der Erde, um wenig später mit einer sich in den Krallen windenden Schlange wieder aufzusteigen. Es war ein fantastisches und beeindruckendes Schauspiel, denn selten hatte man das Glück einen der großen, hellen Adler zu erblicken. Antirehm entschloss sich, es als gutes Zeichen anzusehen.
Nach einer Weile verbreitete sich die Schlucht, das Land wurde trockener und der Boden steiniger. Das wenige Grün, das man jetzt noch erblicken konnte, bildeten Kakteen und Rankengewächse. Denn im Gegensatz zu Kantigark, das sich inmitten des Gebirges erhob, war die Nachtbarstadt Asinat am Rande der Wüste errichtet worden.
Dann erstreckte sie sich vor ihnen. Eine von Felsen übersäte, steinige Wüste, die nur wenige gerne betraten und die doch den größten Teil Eletaks bedeckte. Die Asinater hatten gelernt, in ihrem Schatten zu leben und vielleicht hatte das sie zu einer so stolzen Stadt werden lassen, dass der Hochtempel nun den Krieg gegen sie ausgerufen hatte.
Der Fürst von Kantigark seufzte leise und blickte Darijar-Si an, der neben ihm ritt und aufmunternd nickte. Der Oberbefehlshaber seiner Männer war am längsten sein Weggefährte und schon als sie Seite an Seite den Mädchen hinterher gestarrt hatten, hatten sie sich Freunde genannt.
Antirehm blickte zum Lager, das sich in den Höhlen des Felsgesteines ausbreitete und hatte auf einmal das Gefühl, das er alt geworden war. Wieso nur war er des Kampfes auf einmal müde, dachte nicht an die Gebietsgewinne, die er bei diesem Feldzug gewinnen konnte, sondern hoffte nur noch darauf die Heimreise anzutreten?
Dennoch ritt er weiter, denn es war seine Pflicht und die Pflicht hatte keine Wahl. Soldaten verschiedener Fürsten kamen ihnen entgegen und grüßten höflich. Versorgungskarren wurden entladen und sie ritten an einer Brunnenbohrung vorüber.
Antirehm erblickte die Wappen Limisars, Nisorats, Hasuhars und zu seiner großen Freude auch den Schlangenadler Lizarats, sowie unbedeutende Freiherren im Gefolge der Hochadeligen, die hofften, sich einen Namen machen zu können und Gebiet zu erhalten, sowie jede Menge Gsinas.
Damit waren nun fünf der neun Fürstenstädte versammelt und dem Ruf des Hochtempels gefolgt. Selbstverständlich fehlte das Wappen Asinats, gegen das sie gezogen waren, auch wenn sich die Wappen einzelner Freiherren, die eigentlich Dirasrehm dienten, nun im Heerlager fanden.
Das Fürstentum Yiirehms von Evansar erstreckte sich zu weit im Nordwesten, als dass es ihm in der kurzen Zeit möglich gewesen wäre, dass Heerlager im Osten zu erreichen. Auch für Csurehm von Minosem, der jüngst seine vierte Frau geehelicht hatte, war der Weg von den Ufern des südwestlichen Meeres zu weit, vor allem da eine Gebirgskette sein Reich von den restlichen trennte.
Etwas anderes war das mit dem Fürstentum Kinora. Es mochte weit für den gerade erst erwachsen gewordenen Fürsten sein, aber mit erfahrenen Wegführern durchaus machbar. Vielleicht würden die Truppen des Viulrehm aus dem Haus Sariee noch auftauchen, wenn er denn der – wie man munkelte – übermäßigen Fürsorge seiner Mutter und seines Oheims entkam, die wohl in Wirklichkeit die Geschicke des Grenzfürstentums lenkten.
Doch über alldem flatterten die Fahnen, die sie gerufen hatten und denen sie gefolgt waren: Das einfache gelbe Feld des Viandav-Hochtempels neben dem roten Feld des Oandath-Hochtempels.
Es überraschte Antirehm das gelbe Feld zu sehen, denn bedeutete es, dass Hohepriester Eraz ebenfalls anwesend war und somit nicht Anasah allein die Führung des Feldzuges oblag.
„Fürst Antirehm!“
Unter den Bannern Hasuhars ritt Fürst Kialrehm aus dem Haus Hinavit mit einigen Begleitern heran.
Der Gerufene führte die Hand zur Stirn, um seinen Schwiegersohn zu grüßen, während er ihn zugleich musterte.
Kialrehm war schon immer ein schöner Mann gewesen und Antirehm erinnerte sich noch allzu gut an die Stimme seiner Tochter, die ihm von der Schönheit ihres Zukünftigen vorschwärmte. In den vergangenen drei Schattentagen, seitdem er Akalachans Hand, die des Fürsten übergeben hatte, war dieser noch selbstbewusster geworden.
Der Wüstenwolf heulte von dem glänzenden Brustpanzer des jungen Mannes, die Augen winzige Rubine.
Das halboffene silberne Haar reichte Kialrehm bis zur Schulter und der geflochtene Zopf des Hochadels wurde von einer goldenen Spange in Gestalt seines Wappentieres gehalten. Doch es war die helle, fast durchsichtige Haut, die am meisten offenbarte, wie sehr Apisarith, die Herrin der Schönheit, ihn bei seiner Geburt gesegnet hatte. Weder war ein Makel an ihr, noch an seinem Gesicht zu finden. Feine lange Wimpern rahmten strahlend blaue Augen ein, die über hohen Wangenknochen in einem schmalen Gesicht lagen.
Dennoch gefiel Antirehm der Gesichtsausdruck seines Schwiegersohnes nicht, obwohl dieser
freundlich lächelte, als er meinte: „Dafür, dass ihr den kürzesten Weg habt, seid Ihr reichlich spät angekommen.“
„Dafür reiten die Boten zu uns am Längsten“, entgegnete Antirehm. „Verzeiht die Sehnsucht eines Vaters, die diese Frage nicht zurückhalten kann: Hat meine Tochter Euch begleitet?“
Ein leichter Schatten zog über das Gesicht des jungen Mannes, doch verschwand dieser schnell.
„Fürstin Akalachan ist mit unserem Sohn in Hasuhar verblieben. Ein Schlachtfeld ist kein Ort für eine Frau, besonders nicht, wenn sie schwanger ist.“
„Ich gratuliere“, meinte Antirehm, „Möge sie Euch einen weiteren Sohn schenken!“
„Dies wünsche ich ebenfalls.“
„Und wie geht es Fiolrehm?“
Aufrichtige Freude zeigte sich auf Kialrehms Gesicht. „Er ist ein gesunder und lebhafter Junge, der mir viel Freude bereitet. Ich bin sicher, dass er meinem Haus Ehre bereiten wird.“
Er blickte zum Himmel.
„Ich fürchte, Ihr müsst meine Anwesenheit entbehren. Ihre höchste Demütigkeit Anasah hat mich zu sich befohlen und ich denke, dass es sich nicht schickt, eine Hohepriesterin warten zu lassen.“
Es widersprach allen gängigen Höflichkeitsregeln, dass Kialrehm als jüngerer und damit Rangniederer das Ende des Gesprächs bestimmte, doch entschloss sich Antirehm, diese Beleidigung dennoch zu ignorieren. Noch kannte er die Situation im Heerlager nicht.
„Nein, wahrlich Ihr solltet sie nicht warten lassen“, entgegnete er folglich.
Er verabschiedete sich von dem Mann seiner ältesten Tochter und blickte dem jungen Mann besorgt nach. Ihm gefiel die Arroganz und den fehlenden Respekt des Fürsten nicht, den er dem Älteren eigentlich hätte erweisen müssen.
Antirehm blickte sich seinem oberstem Befehlshaber um. Die Freunde brauchten normalerweise keine Worte, um sich zu verständigen.
Dennoch zögerte der Soldat einen Moment, dann beugte er sich zu seinem Herrn.
„Was ist mit Asarak? Soll er Euch begleiten?“
„Nein“, entgegnete er, auch wenn ihm die Antwort nur schwer über die Lippen kam, „Je eher er seinen Platz versteht und akzeptiert, desto besser wird es ihm ergehen.“
So Leid es ihm auch tat, sein Sohn musste verstehen, dass er als unehelich geboren, nicht an seiner Seite reiten konnte. Er hatte Asarak mitgenommen, damit er sein Wissen erweiterte und nicht nur das über Kriegskunst, sondern auch seine eigene Identität und seinen Stand verstand. Dies war nicht der heimatliche Hof des vertrauten Kantigarks, es war das Heerlager des Hohenpriesters. Es konnte kaum einen gefährlicheren Ort geben.
Bevor Antirehm mit einer Leibwache in das Höhlenlabyrinth ritt, rief er seinen obersten Verwalter Folioni-Si zu sich und beauftragte ihn mit der Errichtung ihres Lagers und anderer Aufgaben.
Das Lager war geschickt angelegt. Das Höhlensystem durchzog das gesamte Gebirge und der Tatsache, dass es so viele Verstecke bot, verdankte der Gebirgskette auch seinen Namen: die Schatten.
Doch an dieser Stelle waren die Höhlen besonders groß und boten genug Platz für die vielen Männer, die es brauchte, um Asinat zu belagern.
Teile der Eingänge waren zugemauert worden, um Viandavs Licht vollkommen auszusperren und wie in jedem Haus Eletaks fanden sich auch hier große Vorhänge, die jetzt jedoch zur Seite gezogen waren.
Dennoch lagerten die Männer tief im Inneren der steinernen Hallen, um Viandavs Blick auch sicher zu entgehen und keine lebensbedrohlichen Verbrennungen erhalten zu müssen. Bei Viandav konnte man nie sicher genug sein.
Rege Geschäftigkeit herrschte. Soldaten eilten zu sich aufstellenden Einheiten, Diener erledigten Aufträge ihrer hochwohlgeborenen Herren, Wachwechsel fanden stand, Boten und Patrouillen trafen ein. Es war ein ständiges Kommen und Gehen, in dem Antirehm das ein oder andere bekannte Gesicht erblickte.
Er wechselte einige kurze Worte mit Generälen, die ihm schon von anderen Feldzügen bekannt waren und Wortfetzen wie: „Die Taktik von dem Sieg bei Azasit müssen wir wiederholen!“ „Nach den Seekönigen endlich wieder etwas zu gewinnen“ flogen ihm bald schon vom Weiten entgegen.
Wieso haben sie so schnell das Blut vergessen, welches das Wasser um die Seekönige rot färbte?, fragte er sich mit Erschrecken. An die Rückeroberung der Seekönige vor acht Schattentagen besaß er wahrlich keine guten Erinnerungen und der Schmerz über den Verlust seines jüngeren Bruders war noch lange nicht verloschen.
„Was für ein Wahnsinn“, meinte eine Stimme neben ihm.
Antirehm wandte sich um und erblickte Liirehm, den ältesten Sohn und Erben von Beerehm, den Fürsten von Lizarat.
Er stieg von seiner Stute, reichte die Zügel seinem Reitknecht und begrüßte den Prinzen.
Mit achtundzwanzig mochte er zwar nur vier Schattentage mehr als Kialrehm zählen, doch wirkte er sehr viel älter.
Sein Gesicht mochte längst nicht so hübsch sein, aber funkelten wache, aufmerksame Augen in den tiefen Höhlen und jeder, der Liirehm kannte, wusste, dass er absolut verlässlich war.
Als Antwort gab er nur ein Nicken ab und wartete, dass sein Gegenüber fortfuhr.
„Sie sehen nur noch den Krieg und haben vergessen, dass es auch noch Frieden gibt.“
„Wie meint Ihr das?“
Liirehm blickte sich vorsichtig um, dann beugte er sich zu ihm hinab.
„Bedingungslos folgen sie den Worten, die Anasah Hohepriester Eraz ins Ohr flüstert, und allein von ihm und den Gedanken an Reichtum werden die Fürsten angetrieben.“
„Dann hat Anasah also keine stichhaltigen Beweise vorgelegt, die Dirasrehms Schuld beweisen?“, schlussfolgerte er.
„Ich bezweifle, dass sie dieses Wort kennt“, erwiderte Liirehm und ein trauriges Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Als ich nur andeutete, dass es sich als sinnvoll erweisen könnte, wenn man versucht Gespräche mit Dirasrehm führt, schimpfte sie mich auf höfliche Art einen Landesverräter.“
„Es wurden keine Boten nach Asinat geschickt?“
„Nein. Kein Einziger.“
„Dann werde ich mich darum kümmern.“, knurrte Antirehm zornig. Auch im Krieg gab es Regeln, die selbst eine Hohepriesterin einzuhalten hatte und dazu gehörte, eine Verteidigungsmöglichkeit zu gewährleisten.
Einige Soldaten sahen so aufmerksam zu ihnen hinüber, so dass der Fürst sich entschloss, das Thema zu wechseln.
„Wie geht es Eurem Vater?“
„Ihm geht es so weit gut, auch wenn das Alter ihm zu schaffen macht und die schlechte Laune immer wiederkehren lässt. Seinen Geschmack für einen guten Trunk hat er allerdings nicht verloren. Die letzte Nachricht, die ich erhielt, besagte, dass er in wenigen Tagen das Lager erreichen wird.“
„Das freut mich zu hören. Ich habe die Streitgespräche mit Fürst Beerehm wahrlich vermissen gelernt.“
Liirehm lachte auf.
„Da werdet Ihr der Einzige sein, fürchte ich.“
Antirehm erwiderte das Lächeln unwillkürlich.
„Gute Konversation habe ich schon immer geschätzt.“
„Das bezweifle ich kaum.“
Einen Moment schwiegen sie, dann meinte der Jüngere: „Ich bin sicher, dass wir uns bald erneut begegnen werden. Mögen die Götter mit Euch sein.“
„Und mit Euch ebenso.“
Antirehm führte die linke Hand, die des Siegesringes, an die Stirn, dann wandte er sich, dem Recht des Höhergestellten folgend, als Erster ab und schwang sich erneut in den Sattel.
Eine Zeit lang ließ er sich noch durch das Lager treiben, führte Gespräche mit anderen Fürsten und Generälen. Er stieg auf einen Hügel, um Asinat zu erblicken und sich davon zu überzeugen, dass die Verteidigungsanlagen immer noch hervorragend in Stand waren. Über Karten gebeugt diskutierte er mit Priestern und einfachen Soldaten über mögliche Schwächen der Stadt. Einige durchreisende Händler erzählten ihm von dem Stadtkern und dem Fürstenhof im zweiten Mauerring.
Doch schließlich führte sein Weg ihn und seine Begleiter zu dem Lager, dass Darijar-Si hatte errichten lassen.
Das Schwert auf dunkelrotem Grund in einem Salzhaufen zeigte jedem an, dass dies das Lager der Kantigarker war.
Die Befehlshaber hatten das Entzünden von Feuern erlaubt und so saßen die Soldaten, wenn sie keine Aufgaben zu erfüllen hatten, nach dem tagelangen Marsch nahe der Wärme und genossen eine Mahlzeit.
Andere Männer hatten dieses Glück nicht, sondern halfen beim Aufbau und einige Offiziere hatten ihre Männer sich aufstellen lassen.
Doch egal, was die Männer taten, richteten sie sich auf, als sie ihren Fürsten erblickten, legten die rechte Hand auf den kurzgeschorenen Kopf und zogen mit der linken an der einzelnen geflochtetenen Strähne, die bis zum Ohr reichte. Seit vielen Schattentagen war dies der Gruß, den Soldaten, dem Mann entrichteten, dem sie Gefolgschaft geschworen hatten. Antirehm entgegnete den Gruß mit dem Ausstrecken der linken Handfläche, der den Segen eines Höhergestellten an die ihm Untergebenen anzeigte.
Nachdem diese Formalitäten getan waren, reichte der Fürst die Zügel seiner Stute erneut seinem Reitknecht und trat in das Zelt, das für ihn bereitet worden war.
Sogleich eilte ein Junge auf ihn zu, zog ihm die schweren Stiefel aus und tauchte die Füße in das vorbereitete Sandbad, um sie zu reinigen.
Erst danach trat Antirehm in den eigentlichen Wohnraum und Jagoni, sein oberster Diener, trat ihm entgegen.
„Wie darf ich Euch dienen, Hoheit?“, fragte er mit heiserer Stimme.
„Lasse nach Darijar-Si senden und schicke einen Boten zu ihren höchsten Demütigkeiten Eraz und Anasah mit der Bitte um eine Audienz.“
„So soll es geschehen, Euer fürstlichen Ehren.“
Er verneigte sich und meinte noch im Gehen. „Wenn Ihr Euch nach einer Mahlzeit sehnt, es ist angerichtet.“
„Ich danke dir, Jagoni.“
Antirehm ließ sich auf dem Teppich nieder und nickte zwei Dienern zu, die gemeinsam einen kleineren Teppich herantrugen, auf dem das Essen bereitstand.
Mit einer Verneigung ließen sie das steife Stück Stoff vor ihm nieder und entfernten sich nach einem Zeichen ihres Fürsten wieder.
Erst jetzt, wo die Düfte ihm in die Nase stiegen, bemerkte er wie hungrig er war. Also zog er Schüsseln und Schalen zu sich heran und begann zu essen.
Nach einer Weile trat Jagoni wieder ein, wartete bis sein Herr ihm die Erlaubnis zum Sprechen erteilte und meinte demütig: „Der Bitte zur Audienz wurde stattgegeben. Ihre höchsten Demütigkeiten werden Euch zu sich rufen. Darijar-Si ist ebenfalls eingetroffen.“
„Dann lasse ihn ein.“
Jagoni trat hinaus und als er wiederkam, war Darijar-Si bei ihm.
„Ich danke dir, Jagoni. Für den heutigen Tag benötige ich deine Dienste nicht mehr.“
Der alte Diener verneigte sich ein letztes Mal, dann zog er sich zurück.
Sein Freund ließ sich dagegen ihm gegenüber nieder.
„Habt Ihr schon gegessen?“
„Nicht wirklich, das was sich zwischen den Gesprächen ergab.“
„Dann sei Euch das Bedienen erlaubt.“
Darijar-Si zögerte nicht lange, sondern griff nach einem in Mondblütensaft gekochten Sonnenberger-Ei. Sie beide hatten zwischen all ihren Pflichten selten Zeit, die ausgezeichnete Küche ihres Fürstentums in Ruhe zu genießen, der man nachsagte, außerordentlich salzig zu sein und so aßen sie nun vorerst schweigend.
Der silberne Saft tropfte Darijar-Sis Finger hinab und hinterließ Flecken auf dem Teppich.
Schweigend aßen sie von Früchtebrot, einem gebratenen Flughuhn und anderen Köstlichkeiten, bis Antirehm die Teller von sich schob, den Dienern bedeutete, die Reste abzuräumen und sie danach alleine zu lassen.
„Also“, meinte er, „Was habt Ihr herausgefunden?“
„Einiges. Soldaten und Diener wissen meist viel mehr über ihre Herren, als diesen bewusst ist. Und die wenigsten von ihnen sind so ehrenhaft wie Jagoni.“
Einen Moment ließ er seinen Blick schweifen, dann fuhr er fort: „Ich habe viel Unwichtiges erfahren. Dass Kialrehm Aniam-Springer in Honig liebt, Liirehm an einer Verdauungsstörung leidet und Eraz hervorragend mit Pferden umgehen kann.“
„Überspringt den Altweiberklatsch und kommt zum Wesentlichen.“ Später mochte sich solches Wissen durchaus als sinnvoll erweisen, doch jetzt benötigte er vorerst einen Überblick über die Situation und die Machtkämpfe im Lager.
Sofort wurde Darijar-Sis Gesichtsausdruck ernst.
„Nun gut. Ich habe erfahren, dass Fürst Osirehm die vollkommene Vernichtung von Asinat fordert. Angeblich liegt das daran, dass Fürst Dirasrehm in der Vergangenheit allzu freundlich zu den Tiakar war. Er soll wenig erfreut über Eure Ankunft gewesen sein.“
„Das war zu erwarten“, entgegnete Antirehm ruhig. Die Feindschaft, die er und der Fürst von Limisar hegten, reichte noch zurück in die Zeiten, als sie beide um dieselbe Frau geworben hatten und sie schließlich an Antirehm gegeben worden war. Nach zwanzig Jahren mochte man meinen, dass Vergebung möglich war, doch war Osirehm ein sehr nachtragender Mann. Nun war ihr Streitgrund – Koratchan – seit sieben Jahren tot und Osirehm hatte acht Kinder von seiner Fürstin, dennoch hatte sich ihre Beziehung nicht sonderlich verbessert.
„Osirehms Position wird von Fürst Kialrehm weitgehend getragen, wobei er wohl eher nach Macht anstatt der Verteidigung des Glaubens strebt. Über Kialrehm lässt sich ebenfalls sagen, dass er mehr Audienzen bei Anasah erhalten hat, als alle anderen Fürsten zusammen.“
„Versuche herauszufinden, worüber sie reden“, befahl der Fürst, während seine Finger auf dem Teppich trommelten.
Kialrehms augenscheinliche Nähe zur Hohepriesterin behagte ihm nicht. Nicht nur, dass der Junge hochmütig und stolz geworden war, sich Worte von einer Priesterin ins Ohr flüstern zu lassen, war immer gefährlich.
„Was ist mit Hokrehm?“.
„Der Fürst von Nisorat tut das, was die Hohepriesterin will, um die Interessen seiner Stadt zu wahren. Er tut alles, damit er sein Fürstentum einst an seinen Sohn weitergeben kann, will sich mit keinem anlegen und es allen einigermaßen gut recht machen.“
„Genauso habe ich ihn in Erinnerung.“, murmelte Antirehm, „Weiter.“
„Fürst Beerehm ist noch nicht eingetroffen und wird momentan von seinem ältesten Sohn Liirehm vertreten. Er ist der Einzige, der sich kritisch äußert und dennoch immer höflich bleibt. Allein seinem Talent mit Worten scheint er es zu verdanken, dass Anasah ihn duldet. Ob er jedoch wirklich etwas ändern kann, bleibt zweifelhaft.“
„Was ist mit dem Konflikt zwischen Limisar und Hasuhar um diesen einen Wachturm, dessen Adeliger nun Kialrehm dient? Nach allem, was man hört, lag Osirehm viel daran, ihn zurückzuerhalten, weil der Turm seinen Handel nach Norden schützte.“
„Es scheint zumindest keinen offenen Konflikt hier im Lager zu geben. Kialrehm hat Osirehm bisher zweimal empfangen, was auf eine Versöhnung hindeutet. Vermutlich hat Anasah eine Entschädigung Limisars vorgeschlagen.“
„Lass genaueres darüber herausfinden. Vielleicht ist dies ein Punkt, wo wir ansetzen können. Ich mag Osirehm nicht mögen, doch kann ich ihm sicherlich Handelsangebote machen, die ihn besänftigen und mir gewogen machen.“
Darijar-Si nickte zur Bestätigung und so kam Antirehm nur zu folgender Schlussfolgerung: „
Ein der Hohepriesterin höriger Rat also. Damit ist Anasah diejenige, die diese ganze Unternehmung leitet, während Eraz ihre Marionette bleibt.“
„Ja.“, erklärte Darijar-Si, „Das fasst es gut zusammen. Weiter gibt es nichts zu berichten.“
Antirehm musterte seinen Freund.
„Und dennoch sehe ich die Worte, die Ihr teilen wollt und es doch nicht wagt. Was liegt Euch auf der Seele?“
„Darf ich Euch um unserer Freundschaft willen bitten, die folgenden Worte geheim zu halten?“, fragte er nun, fast schon verzweifelt.
„Selbstverständlich“, erwiderte Antirehm, der sich schon gefragt hatte, wann sein Freund mit dem herausrücken würde, was ihn schon den ganzen Ritt beschäftigt hatte.
„Ich habe meine Tochter beim Rennen gesehen“, erklärte Darijar-Si und offenbarte damit die Größe des Vertrauens, das er seinem Fürsten entgegenbrachte. Denn offiziell war seine Tochter tot. Frauen waren bei ihrem Volk nun einmal Besitz, erst Eigentum des Vaters und der Brüder, dann wurde sie an ihren Mann übergeben und falls sie ihren Mann überleben sollte, fiel sie unter die Obhut ihrer Söhne. Begrenzte Geschäftsfähigkeit und Freiheit konnte eine Frau nur erreichen, wenn sie ihren Sold an drei Söhnen, welche die Volljährigkeit erreicht hatten, abbezahlt hatte. Väter, die ihre Töchter liebten, obwohl jene diesen Zwängen entflohen, erklärten sie für tot.
„Wie ging es ihr?“, fragte er, nicht länger ein Fürst, sondern ein Freund.
„Sie sah gut aus. Ich unterhielt mich mit dem Reiter der Gewinnerstute und dann stand sie auf einmal neben ihm. Laref trug ihr Haar nicht länger nach Art des niederen Adels, sondern in den beiden Zöpfen der Arbeiterklasse. Ihre Kleidung war aus derber Wolle und dennoch sah sie glücklicher aus als je zuvor.“
Er schwieg und für einen Moment war der ganze Schmerz, den der Verlust seiner Tochter ausgelöst hatte, sichtbar.
„Habt Ihr mit ihr geredet?“
„Nein“, entgegnete Darijar-Si leise, „Ich hätte sie in Gefahr gebracht.“
Sie beide wussten, dass es nur eine ziemliche schlechte Ausrede war.
Antirehm schwieg, denn er wusste, dass sein Freund diese Gedanken nun selbst bewegen musste. Laref müsste nun sechzehn sein, zwei Schattentage jünger als seine älteste Tochter Akalachan. Drei Schattentage hatte er seine Tochter nun nicht mehr gesehen und der Schmerz war immer noch greifbar. Doch er hatte immer gewusst, dass es ihr an Kialrehms Seite gut ging, dass sie weder Hunger noch Gefahr erleiden musste. Darijar-Si hatte nun nach zwei Schattentagen die Gewissheit, dass seine Tochter lebte und nicht einfach nur verschwunden war. Er konnte nur vermuten wie dieser sich fühlte.
Ein eintretender Diener unterbrach ihn in seinen Gedanken und mit einem Nicken erteilte er dem jungen Mann die Erlaubnis zum Sprechen.
„Ein Besucher mit der Bitte um eine Audienz steht vor dem Zelt.“
„Wer ist es?“
„Weder Namen noch Gesicht sind mir bekannt, doch scheint sich unter seinem Umhang offenes Haar zu verbergen.“
„Lasst ihn ein“, befahl Antirehm sogleich, denn war es allein den Dienern der Götter erlaubt offenes Haar zu tragen.
Doch als der Diener den Fremden hereinführte und sie wieder verließ, verriet der geflochtene Zopf am Hinterkopf ihn als Mitglied des Hochadels.
Dennoch fiel es Antirehm zunächst schwer, den Adeligen zu identifizieren. Mochte es an seiner Sehschwäche oder an der Tatsache, dass die Fürsten und anderen Adeligen sich durch große Entfernungen nur allzu selten sahen, liegen, doch wurde ihm erst nach einer Zeit bewusst, dass Hokrehm, Fürst von Nisorat, sich an ihn gewandt hatte.
Der schlichte graue Mantel hatte den sonst in bunte und prächtige Kleider gehüllten Fürsten in einen unscheinbaren Mann von etwa vierzig Schattentagen verwandelt.
Hokrehm führte seine linke Hand zur Stirn, während Antirehm und Darijar-Si zur Begrüßung mit der Rechten kurz ihre Stirn berührten, denn war er älter und stand somit höher in der Rangordnung.
„Eure Hoheit, bitte setzt Euch. Wie kann ich Euch behilflich sein?“
Der Fürst von Nisorat ließ sich ihnen gegenüber nieder. Er war immer noch schlank wie in den Tagen, in denen noch Antirehms Schwester Tuochan als Fürstin über Nisorat regiert hatte, bevor sie im Kindbett gestorben war. Doch Sorge und schwere Krankheiten hatten sein Haar frühzeitig ergrauen und seine Haut einfallen und fleckig werden lassen und ließen ihn älter wirken, als er tatsächlich war. Er schien dankbar zu sein, dass sein Gegenüber auf die Formalitäten eines Gesprächs verzichtete und nicht zuerst nach seiner Familie fragte, denn fuhr er sogleich fort: „Zunächst mit einer Bitte“ Als Antirehm nickte, erklärte er weiter. „Wie Ihr wisst, liegt meine Stadt nahe von Wasinak.“
Antirehm nickte ernst. Um die Stadt Wasinak, von der heute nur noch Ruinen zeugten, war vor vielen Schattentagen ein langer Konflikt geführt worden, der zur letztendlichen Zerstörung von Wasinak durch den Hochtempel geführt hatte.
„In letzter Zeit siedeln sich in den Ruinen vermehrt Räuber- und Verbrecherbanden an, die Karawanen und kleinere Orte überfallen. Ich habe dem Hochtempel schon mehrmals Nachricht geschickt, dass etwas unternommen werden muss, aber sie scheint nie an die richtigen Stellen zu gelangen. Ich führte, dass wenn wir nicht bald gegen Wasinaks Verbrechen handeln, sie wieder so mächtig wie einst werden können.“
Er schwieg einen Moment, dann blickte er seinem Gegenüber direkt in die Augen.
„Man berichtete mir, dass Ihr guten Kontakt zur Hohepriesterin Mirvuh habt.“
Antirehm nickte.
„Ich bitte Euch einfach nur, dass Ihr meine Nachricht an Mirvuh weiterleitet, damit etwas dagegen unternommen werden kann.“
„Natürlich werde ich Eure Nachricht weiterleiten“, entgegnete der Fürst von Hasuhar. „Hohepriesterin Mirvuh wird von Euerem Gesuch so bald wie möglich erfahren.“
Ein Lächeln zog sich über das Gesicht des Mannes und Antirehm konnte förmlich sehen wie ein Teil seiner getragenen Last sich in Luft auflöste.
Doch dann wurde sein Gesichtsausdruck wieder ernst, als er meinte: „Ich bin gekommen, um Euch eine Nachricht von Eurer Tochter Akalachan zu überbringen.“
Damit hatte Antirehm wahrlich nicht gerechnet. Warum sollte seine Tochter ausgerechnet Hokrehm eine Nachricht mitgeben, anstatt sie ihm durch ihren Ehemann Kialrehm überbringen zu lassen? Es blieb nur die Möglichkeit, dass die Nachricht Kialrehm betreffen musste.
„Ich besuchte Kialrehm mit meiner Frau, die seine ältere Schwester ist, und da sie wusste, dass ich ebenfalls den Fahnen des Hohetempels folgen würde, gab sie mir diesen Brief mit.“
Mit diesen Worten überreichte er ihm das geschriebene Wort, festgehalten auf gutem Hanfpapier. Da die Fähigkeiten des Schreibens und Lesens dem Priestertum vorbehalten waren und der restlichen Bevölkerung unter Todesstrafe verboten waren, musste seine Tochter einen vertrauenswürdigen Priester gefunden haben.
Antirehm nickte ihm dankbar zu, dann steckte er den Brief, der das Siegel der Fürstin von Hasuhar trug, in seinen Byeros.
„Ich danke Euch“, erklärte Antirehm mit unbewegter Miene, „Ihr habt mir und meiner Tochter einen großen Dienst erwiesen.“
„Ich mag nur einen Sohn haben, doch weiß ich, wie es ist, von seinem Kind getrennt zu sein. Und ich glaube nicht, dass dies bei Töchtern anders sein sollte, auch wenn viele sie für wertlos halten.“
Der Fürst von Nisorat erhob sich wieder und erwies Antirehm dadurch, dass er sich zuerst verbeugte, ein Zeichen der Anerkennung.
Als er den Raum verließ, stieß er mit einem Diener zusammen, der sogleich nervös zusammenzuckte. Doch Hokrehm lächelte dem Jungen nur einmal kurz zu, bevor er endgültig verschwand.
„Was hast du zu sagen?“
„Ihre höchsten Demütigkeiten sind nun bereit, Euch zu empfangen“, verkündete er mit roten Wangen.
„Dann werde ich mich auf dem Weg zu ihnen begeben“, antwortete der Fürst und erhob sich.
Es war schon lange Zeit, dass jemand der Hohepriesterin einen Spiegel vorhielt, auch wenn das allzu gefährlich war.