Verliere dich niemals, mein Sohn. Sei wachsam, meine Tochter.
- Sprichwort -
Asarak flog. Die Hufe des Pferdes trieben ihn in Sphären hinauf, die ihn nichts anderes erreichen ließ. Er konnte spüren, wie die Muskeln des Tieres unter ihm arbeiteten, wie es sich anspannte und noch ein wenig Kraft aus sich herausholte. Staub wurde in einer diffusen Wolke um sie herum aufgewirbelt und ließ Asarak die Gesichter vergessen, die um ihn herum jubelten und weinten. Die Ohren von Asarovs Sturm tanzten aufmerksam vor ihm, das Fell unter seinen Händen war schweißnass. Das Sattelleder knarrte, als er sich noch ein Stück nach vorne beugte, um den Luftwiderstand zu verringern. Er flog – und niemand konnte ihm etwas anhaben. Die Verfolger blieben hinter ihm zurück, ihre Körper verschwammen im Staub, den er verursachte.
„Asarov.“ Er lockerte die Zügel noch ein wenig, spürte wie mit dem steigenden Takt der Hufe auch die Musik seines Herzens schneller wurde. Ein Lied der Freiheit entstieg seinem Inneren, das keine Reihenfolge, keine Ordnung besaß, sondern sich in einer Tonmasse entlud, in der alle seine Gefühle zugleich Platz fanden: Zorn, Verwirrung, Selbsthass, Stolz, Liebe. In diesem Moment war Asarak nur noch. Es gab keine Verantwortung, keine Pflichten. Nur ein Pferd, das er unter sich leben spüren und hören konnte.
Aber natürlich war es nur für den Moment. Er konnte nicht davonfliegen. Mit einem großen Satz erreichte Asarovs Sturm die Ziellinie und schweren Herzens parierte Asarak ihn durch. Und auch wenn er selbst langsamer wurde, beschleunigte sich für ihn die Welt. Verschwommene Schatten wurden zu Gesichtern und mit ihnen eroberten Gefühle und Erinnerung das Feld seiner Seele zurück. Und die Freiheit kapitulierte.
Als das Pferd sich ausgelaufen hatte, strich Asarak über das schweißnasse Fell des Rappen. Hinter ihm ritten seine Gegner ins Ziel.
„Das hast du gut gemacht“, flüsterte er in die Ohren seines Tieres. Der Hengst schnaubte. In der Menge entdeckte er Tujani, seinen obersten Pferdepfleger und winkte ihn zu sich. Mit einem strahlenden Lächeln drängte sich der junge Mann, mit dem Asarak allzu oft über die besten Pferdezuchten diskutierte, durch die Menge.
Asarak schwang sich aus dem Sattel, nahm ein Tuch von einem Pferdepfleger entgegen, um sein Tier trocken zu reiben.
„Er ist gut gelaufen heute“, bemerkte Tujani, der ihn soeben erreichte.
„Oh ja.“ Stolz tätschelte er Asarovs Sturm. „Er ist allen davongelaufen. Auch wenn die Gegner…“
Er brach ab, hatte Angst, dass ihn jemand hören könnte.
„Es waren viele edle Herren darunter“, nahm Tujani den Gesprächsfaden auf.
Asarak schnaubte, denn die Frustration suchte sich ihren Weg. „Nur edle Herren. Ich hatte gehofft, den Schmach vom letzten Rennen ausmerzen zu können“, gestand er. Aber seine wirkliche Gegnerin, die weiße Stute Aevra, die ihn so beeindruckt hatte, war nicht aufgetaucht. Es hatten nur Adelige teilnehmen dürfen, was Aevra und viele weitere vom Rennen ausgeschlossen hatte. Es hatte Asarak erschreckt, wie viele von den Adeligen glaubten, reiten zu können. Dieser Sieg war schön gewesen, aber er bedeutete ihm nicht viel, dafür war es zu einfach.
„Es wird andere Gelegenheiten geben“, meinte Tujani, während er die Zügel entgegennahm.
„Ja.“ Asarak schüttelte den Kopf, tätschelte den Hengst, der schließlich nichts für die schlechte Laune seines Herrn konnte und sein Bestes gegeben hatte.
„Ich hatte das Gefühl, dass sein Tritt zum Ende hin unregelmäßig geworden ist. Wohlmöglich macht der Huf wieder Probleme.“
„Ich werde mir das ansehen“, versprach sein Pferdetrainer, „Aber jetzt hat er sich erst einmal seine Ruhe verdient.“
Vertrauensvoll schoberte der Hengst, als Asarak ihm über die Blesse strich.
„Das hat er.“
„Ich muss Euch gratulieren, Asarak!“
Er zuckte zusammen und wandte sich zu Anasah um, die er zuvor nicht bemerkt hatte. „Es ist wahr, dass Ihr ein fantastischer Reiter seid.“ Umgeben von ihren Wachen stand sie da, während die Zuschauer des Rennens, die nun ehrfurchtsvoll auf die Bahn stürmten, um einen genaueren Blick auf die Reiter zu erhaschen, sie und ihre Präsenz mieden. Es war merkwürdig, sie hier zu sehen, auf der Rennstrecke, wo er vor weniger als einem Lichttag sein letztes Rennen geritten war, kurz bevor das Heer aufgebrochen war. So vieles hatte sich seitdem verändert und bis heute wusste Asarak nicht, wie er die Geschehnisse einordnen sollte.
„Ich danke dir“, meinte er, auch wenn es kein Dank war, den er empfand. Allein aus Höflichkeit und Respekt neigte er den Kopf und bedeutete Tujani, dass er sein Pferd in den Stall führen sollte. Er selbst hatte für den Rückweg ein Ersatzpferd dabei.
„Begleitet mich ein Stück“, forderte die Hohepriesterin.
„Gewiss.“
Menschen starrten ihn an, als er so vertraut neben der Hohepriesterin lief. Hastig wandten sie sich wieder ab, um nicht respektlos zu erscheinen, aber Asarak konnte ihre Blicke spüren. Schweigend gingen sie immer weiter, bis der Lärm der Rennstrecke hinter ihnen immer leiser und selbst die Stadt hinter ihnen immer kleiner wurde. Asarak wusste nicht, wie lange sie dem Verlauf der Straße folgten, bis Anasah auf einen Hügel deutete. Vor den sich auftürmenden Bergen wirkt er klein, aber bis sie oben sind, dauert es eine Weile. Unten schlängelte sich die Hochstraße entlang, auf der einige Bauern und Soldatenpatrouillen gen Kantigark zogen. Dunkel zeichnet sich die Stadt vor dem Gebirge ab, seine Heimat. Bauern arbeiteten auf den kargen Feldern, die der Schutz der Berge zuließ und die dennoch nur in den Schattentagen so reiche Ernte trugen, dass sie Familien bis zum nächsten Schattentag ernähren konnten. In der Ferne erblickte er die Rennstrecke, die von hier klein und unbedeutend wirkte. Asarak hatte das Gefühl, die Stille durchbrechen zu müssen, also begann er.
„Die Hochstraße wurde von einem meiner Vorfahren erbaut, Nisirehm I“, berichtete er, „Ursprünglich war geplant, sie über Klingholz und Hisiop zu führen, aber das Gebirge ließ diese Strecke nicht zu. Also führt sie erst nach Norden, bis sie über den Pass von Lari erreicht und dann nach Süden gen Asinat weist.“ Verwirrt hielt Asarak inne. Erzählte er gerade wirklich der Hohepriesterin der Göttin Oandath über Straßenbau?
Sie musterte ihn. „Ihr selbst wollt auch Dinge verbinden, nicht wahr?“, fragte sie. Ein schmales Lächeln zierte ihren Mund. „Warum habt ihr das Pferd, das ich Euch schenkte, nicht geritten?“
Erleichtert gab Asarak auf die zweite Frage eine Antwort. Damit konnte er umgehen, darauf die richtigen Worte finden.
„Genauso wie ein Mensch muss auch ein Pferd Lernerfolge erziehen“, begann er, „bevor es größeren Erfolgen entgegentreten kann. Er war noch nicht bereit, um dieses Rennen zu bestreiten. Dazu fehlte ihm die Erfahrung.“
„Aber eines Tages wird er die benötigten Erfahrungen erwerben“, erkannte Anasah und sprach auf eine nachdenkliche Art und Weise, sodass Asarak das Gefühl hatte, dass sie nicht über das Pferd sondern über etwas – jemanden – ganz anderen redeten.
„Bestimmt“, antwortete er.
Sie wandte sich ihm zu. Erst jetzt bemerkte er, dass die Wachen sich am Rande des Hügels aufgestellt hatten, sodass eine Illusion von Zweisamkeit entstand.
„Und wie ist das mit Euch, Asarak? Wie lernt Ihr zu wachsen?“ Soeben hatte er das Gefühl gehabt, auf einer Ebene kommunizieren zu können, jetzt schwand die Vertrautheit und Anasah war und blieb die Hohepriesterin.
„Jeder wächst an seinen Herausforderungen“, entgegnete er, nicht genau wissend, worauf sie hinauswollte.
Ihr Gesicht kam dem seinen noch etwas sicher. Er glaube, ein freudiges Funkeln in ihren Augen zu sehen, war sich jedoch nicht sicher. Pferde waren soviel einfacher zu verstehen als Menschen.
„Und seid Ihr bereit für eine Herausforderung, Asarak?“ Er zuckte zusammen und spürte die Schlinge, die sich um ihn schloss. Er konnte nicht Nein sagen, nicht nach seiner vorigen Aussage.
„Das bin ich“, erwiderte er mit fester Stimme.
Für einen Moment herrschte Schweigen und er spürte ihren Blick auf sich. Nach einer Weile trat sie zurück, als hätte sie gefunden, was sie gesucht hatte.
„Asarak, Antirehms Sohn, hiermit ernenne ich Euch zum Truchseß in der Regierung des Fürsten Lisarehm, dem Ersten seines Namens.“
Er sank zu Boden, seine Hände bohrten sich in den Boden. Kühle Erde rann durch seine Finger.
„Ich bin ein Bastard, Demütigkeit. Diese Ehre verdiene ich nicht“, meinte er leise und der Schmach seiner Herkunft wurde zum Schild für seine Ängste.
„Ihr seid Antirehms Sohn“, berichtigte sie ihn, „Und Antirehm war…er ist ein großer Mann. Warum solltet Ihr geringer sein? Sagt mir, Asarak. Gibt es in der Geschichte Eures Hauses nicht ebenfalls einen Bastard, den heute Wandmalereien ehren?“
Asarak konnte nicht verhindern, dass er bei dem Gedanken an ihre Worte zu dem Haus, das immer das seiner Halbgeschwister aber nie das seine gewesen war, Stolz empfand.
Er nickt. „Gijak, Demütige. Ihm wurde der Name eines Hochadeligen gewährt, als er den Thron bestieg.“
„War er nicht ebenfalls ein Regent für seinen minderjährigen Halbbruder?“
Asarak musste sich zurückerinnern an den Moment, als sein Vater ihm die Geschichte erzählt hatte. Es war einer der wenigen Momente der Zweisamkeit gewesen, in dem sich sein Vater nur Zeit für ihn genommen hatte. „Gijrehm hat vieles erreicht, mein Sohn, und heute rühmen wir ihn seiner Taten wegen. Aber vergesse niemals die Gründe, aus denen er handelte und wegen denen er den Thron nach dem Tod seines Halbbruders Joressrehm bestieg. Grabe tief, Asarak.“
War das die Chance, die er zuvor nie gehabt hatte? Aber wie konnte ihm, einen Bastard, eine solche Ehre vergönnt sein? Er dachte an Besiur, den bisherigen Truchseß. Es war ein fetter eitler Mann gewesen, der die Politik am Fürstenhof viele Jahre lang maßgeblich geprägt hatte. Das war ein Mann, den man im Rat des Fürsten erwartete, keinen Bastard.
Und doch hob er den Blick. Denn Asarak war nie ein Mann gewesen, der demütig gewesen wäre. Seine Worte hatten der Wahrheit entsprochen. Er liebte Herausforderungen.
„Ja“, entgegnete er, „Das war er.“
„Und sein Blut fließt heute in Euren Adern, Asarak.“
Stumm nickte er.
Sie sah auf ihn herab. „Wenn dem so ist, dann erhebt Euch Asarak, Truchseß und Ratsmitglied von Lisarehm I.“
Asarak tat wie ihm geheißen war und erhob sich.
Und zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich nicht als Bastard.
„Asarak!“ Der neue Truchseß stieg von seiner Stute ab und reichte die Zügel einem wartenden Pferdejungen „Reib sie trocken“, befahl er, „und lass sie auf die Weide bringen.“
Erst dann drehte er sich zu Hayiur um, der über den Hof auf ihn zugelaufen kam. Nach Anasahs Angebot hatte er noch einen kurzen Ausritt gemacht, um seine Gedanken zu sammeln. Erst jetzt war er zurück.
Schlechtes Gewissen machte sich in ihm breit. Seit seiner Ankunft hatte er noch keine Zeit mit seinem besten Freund verbracht, obwohl dieser mehrfach nach ihm gefragt hatte.
„Hayiur!“ Freundlich lächelte er.
Ihm gegenüber blieb der junge Händler stehen.
„Ich gratuliere dir zu deinem Sieg, Asarak.“ Er klang ungewöhnlich förmlich, hatte sich Asaraks neue Position etwa schon herumgesprochen? Anasah hatte gemeint, dass sie es erst noch bekannt gegen würde.
„Es war nicht sonderlich herausfordernd“, entgegnete er offen.
Lachend schlug Hayiur ihm auf die Schulter und die Vertrautheit schien wiederhergestellt zu sein.
„Du besiegst sie doch alle noch, Asarak.“
„Wie geht es, Hayiur?“ Gemeinsam schritten sie über den Hof in das Innere des Palastes. Die Soldaten öffneten ihnen das Eingangstor und neigten respektvoll die Köpfe.
„Oh sehr gut. Meine Geschäfte könnten besser nicht laufen.“ Freudig grinste er.
Skeptisch runzelte er die Stirn. „Trotz der Unterbrechung der Handelsroute nach Asinat?“
„Eben deswegen.“ Vergnügt legte Hayiur ihm den Arm über die Schulter. „Keine Konkurrenz mehr. Und die Tiakar sind auch fort, was bedeutet, dass ich der einzige Händler in Kantigark bin, der noch mit Asinatischer Schmiedekunst handelt. Ich kann die Preise bestimmen.“
„Aber es kommt doch auch kein Nachschub mehr“, wandte Asarak ein.
Hayiur lachte. „Habe immer einen Plan in der Hinterhand, mein Freund.“ Ganz so sicher schien er sich indes zu fühlen, denn er sah sich mehrfach um, ob auch wirklich niemand in dem Gang war, den sie soeben durchschritten. „Ich fertige natürlich eigene Waren an, die ich als Asinatische Kunst verkaufe.“
„Du bist durchtrieben“, murmelte Asarak anerkennend. Warum überraschte ihn das überhaupt?
„Weißt du, was ich dir erzählen will? Mein Vater…“
Sein Begleiter hob die Hand. „Warte! Zunächst habe ich eine Überraschung für dich.“
Sie erreichten Asaraks Gemächer. Zu seinem Erstaunen wachten zwei Götterschildler vor der Tür. Selbst sein Vater hatte nie Wachen für ihn aufgestellt.
„Weshalb seid ihr hier?“, fragte er die auf der linken Seite wachende Person, die ihn erst jetzt ansah.
„Ihre höchste Demütigkeit hat es so angeordnet“, erläuterte der Mann, „Zu Eurer Sicherheit.“
„Dann wacht“, entgegnete er.
Der Mann neigte den Kopf und sein Begleiter öffnete ihm die Tür.
Stolz schritt Asarak zwischen den beiden hindurch. E war tatsächlich so wichtig, dass Soldaten, die gewöhnlich dem Tempel allein dienten, nun auch für seinen Schutz eingesetzt wurden. Bedeutete das nicht, dass die Götter selbst ihn segneten?
„Du bist gewachsen, Asarak“, kommentierte Hayiur zusammenhangslos.
„Ja“, antwortete er, „Das bin ich.“
Tief in seinem Inneren schlummerte die Sorge. Die Sorge darüber, was mit seinen Geschwistern und seinem Vater war. Anasah hatte ihm berichtet, dass er und Nisirehm zum Hochtempel gebracht werden würden, um dort ein Urteil zu erhalten. Der Gedanke daran bereitete ihm Sorge. Aber jetzt…
Asarak erstarrte. Inmitten seiner Gemächer stand seine Frau, Hayiurs Schwester.
„Isanau.“ Er blickte zu Hayiur. Gewiss hatte dieser das veranlasst, denn er selbst hatte sie nicht zu sich rufen lassen. Es erstaunte ihn, dass die Wachen sie hineingelassen hatten. Wie es der Brauch war, hatte er ihr eigene Gemächer einrichten lassen.
„Ist das deine Überraschung?“, fragte er lächelnd.
Sein Freund grinste.
„Komm her, Schwester.“
Isanau erhob sich aus ihrem Knicks und ging zögernd zu ihnen hinüber. Ihre Wangen röteten sich, als sie zu ihrem Ehemann aufsah. Es wirkte, als ob sie in ihren weiten fließenden Gewändern ertrank. Das helle Grün ihrer Kleidung passte nicht zu ihr, fand er. Sie bräuchte leuchtende farbenfrohe Kleider, die sie strahlen ließen.
„Seid mir Willkommen, Weib“, begrüßte er sie.
„Mein Gemahl.“
Er konnte sehen, wie verunsichert sie sich durch die Nähe ihres Bruders fühlte, der schräg hinter Asarak stand und ungeduldig hin und her trat.
Zu seinem Erstaunen ergriff Isanau seine Hand. Die ihre war schmal und klein. Er konnte ihre Hitze zwischen seinen Fingern spüren. Sie legte sie auf ihren Bauch. Und Asarak verstand.
„Ist das wahr?“, fragte er.
Hayiur grinste, während seine Frau zusammenzuckte. „Aber ja, Asarak. Sie erwartet ein Kind. Du wirst Vater.“
Überwältigt blickte Asarak auf seine Frau. In drei Schattentagen der Ehe hatte sich nie das Zeichen einer Schwangerschaft gezeigt. Er hatte schon geglaubt, dass sie unfruchtbar wäre.
„Ich danke dir, Isanau.“
„Haben die Priesterheiler schon etwas gesagt?“, wollte er wissen.
Es war Isanau, die antwortete. Es erschien ihm, als ob die Mutterschaft ihr eine neue Art von Selbstbewusstsein geben würde. „Sie haben gesagt, dass alles in Ordnung wäre.“
Immer noch hatte er seine Hand auf ihrem Bauch ruhen. Dort wuchs tatsächlich sein Kind heran. Ein Sohn oder eine Tochter. In seinem Inneren breitete sich ein neues Gefühl aus, das ihm zuvor noch nicht bewusst gewesen war: Liebe. Er hatte Isanau als Frau nie geliebt, aber jetzt begann er sie dafür zu lieben, dass sie seinen Kindern eine Mutter war. Er nahm seine Hand fort, hob mit dieser sanft ihr Kinn an und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn.
„Es wird dem Kind gut gehen“, versprach er ihr so leise, dass Hayiur sie nicht hören konnte, „Es wird meinen Namen tragen und Anerkennung erlangen.“
Isanau lächelte. Durch das Kind, das in ihr heranwuchs, waren sie auf einmal miteinander verbunden.
Er trat von ihr zurück.
„Ich danke für die Benachrichtigung, Hayiur.“ Er erinnerte sich an etwas anderes, worauf Anasah ihn hingewiesen hatte. „Um diesen Tag gebührend zu feiern, möchte ich, dass du beim heutigen Bankett die Position einer Tänzerin einnimmst.“
Überrascht sah Isanau auf. „Ich soll tanzen?“, fragte sie verunsichert.
„Gewiss.“ Dass er dies nur vorschlug, weil Anasah es für ungebührend hielt, dass eine Bürgerliche neben ihm an der Hohen Tafel saß, sagte er indes nicht. Er wollte Hayiur, seinen einzigen Freund, nicht verlieren.
„Ich weiß doch, wie gerne du tanzt. Es ist eine einmalige Gelegenheit.“
„Du tust, was er sagt“, fauchte Hayiur auf das Zögern seiner Schwester, „Es ist eine große Ehre und wird unserer Familie Ruhm bringen.“
Sie sank in eine Verbeugung. „Ich werde tun, was du verlangst“, murmelte sie ergeben.
In Asaraks Innerem wirbelten die Gedanken. Er wurde Vater.
„Ihr dürft jetzt gehen“, bat er seine Ehefrau und seinen Freund, wandte sich aber dennoch noch einmal um. „Wenn du Hilfe brauchst, Isanau, lass sofort nach mir schicken.“
„Ich danke dir, Gemahl.“
Dann waren sie fort.
Asarak sank gegen die Wand, presste sich die Faust gegen den Mund und unterdrückte einen Freudenschrei. Er wurde Vater!
„Das ist Eure Frau, Asarak?“ Liirehm, neben dem Asarak saß, nickte zu den Tänzerinnen hinüber.
Stolz lächelte Asarak. Isanau tanzte wirklich wundervoll. Zwischen gewirbelten Tüchern und klingenden Glöckchen schien sie sich ähnlich frei zu fühlen, wie er es auf dem Rücken eines Pferdes tat.
„Das ist sie. Die Mutter meines Kindes.“
Der junge Mann prostete ihm zu. „Ich gratuliere.“
„Ich danke Euch.“ Asarak wandte sich von dem Anblick ab und konzentrierte sich auf seinen Teller, auf den ein Diener soeben erst auf seinen Wunsch einen Fisch in Salzkruste serviert hatte. Es war ein einfaches Gericht, das nicht zu den von Speisen berstenden Tafeln passen wollte. Für Asarak dagegen war es genau richtig. Geschickt brach er die Salzkruste mit einem Messer auf. Als er bemerkte, dass Liirehm ihn beobachtete, hielt er inne.
„Was ist das für ein Salz?“, fragte der Fürstensohn.
„Wir nennen es Dirau“, erläuterte Asarak, „Es kommt in genau einer Mine vor.“
„Es ist sehr grob, nicht wahr?“
„Richtig“, antwortete er, „Dafür zerbröselt es nicht so schnell, nur bei festem Druck.“
„Interessant“, murmelte Liirehm und konzentrierte sich wieder auf sein eigenes Mahl. Erst wenige Minuten war es her, dass der Hohepriester vor dem versammelten Hofstaat Lisarehm zum Fürsten von Kantigark erklärt hatte. Es war auch das erste Mal gewesen, dass Asarak seinen Halbbruder wieder gesehen hatte. Er hatte so klein und verloren zwischen Eraz und Anasah gewirkt. Ein Kind, das nicht wusste, wohin es sollte. Nun saß er auf der hohen Tafel zwischen Anasah und Eraz, sowie neben Osirehm, Beerehm und Kialrehm. Asarak dagegen befand sich an einer anderen Tafel, die für den Hohen Rat des Fürsten vorbehalten war, in den er nun offiziell berufen worden war. Neben ihm gehörten zu diesem noch Liirehm als Stallmeister, der Schatzmeister Hanieg, den Kanzler Tuvos, ein Priester, der bereits zuvor am Hof Antirehms gedient hatte und sich nun lachend mit dem Viandav-Priester Jarisos unterhielt, der Darijar-Si als Oberbefehlshaber des Heeres ersetzte. Auch die Ratgeber waren ausnahmslos Priester: Der unglaublich unsympathische Viaras, ein Viandav-Priester, Fialat, eine Mintasath-Priesterin und schlussendlich ein Suchender Priester namens Havina, dessen Ernennung für reichlich Protest unter den Fürsten und Priestern gesorgt hatte. Er war noch jünger als Asarak und hatte sich diesem freundlich vorgestellt.
Auch Asaraks Halbschwester war da. Isachan saß mit den edlen Damen am Frauentisch und erfüllte somit die Position einer Fürstin. Mit stolz erhobenem Kopf saß sie gleich einer Statue da, sprach nicht mit den sie umschnatternden Frauen, sondern aß schweigend. Schon immer hatte sie sich für etwas Besseres gehalten.
„Werdet Ihr Eure Heimat vermissen?“, wandte er sich wieder an Liirehm.
„Gewiss, aber ich liebe fremde Orte zu sehr, um zu lange zuhause zu sein.“ Er schmunzelte, wurde jedoch sogleich wieder ernst. „Es bedeutet eine große Ehre, in den Fürstenrat berufen zu sein. Auch hat mein Vater genug Söhne, um daheim die benötigte Unterstützung zu haben.“
„Wie viele Brüder habt Ihr?“
„Ich habe vier Brüder und zwei Schwestern.“
„Euer Vater hat großes Glück“, murmelte Asarak und dachte an sein ungeborenes Kind. Ob es auch einst so einflussreiche und machtvolle Positionen erreichen konnte? Oder hatte er es zu einem Schicksal der Schande verdammt? Als Kind eines Bastards würde es nie vollkommen in die Gesellschaft aufgenommen werden, auch wenn es selbst ehelich geboren war. Asaraks Makel würde auch seine Nachkommen beflecken. Und dennoch saß er heute hier. Ein Fürstenbastard auf einem Bankett zwischen Priestern und Adeligen, die ihn zuvor keines Blickes gewürdigt hatten. Alles dank einer Frau, die ihn gesehen hatte.
Liirehm musterte ihn. „Und Euer Vater hat großes Glück, dass er Euch einen Sohn nennen kann.“
Unwillig blickte Asarak auf sein Mahl. Er hatte den Fisch nicht einmal zur Hälfte verspeist. Um die Antwort zu verzögern, nahm er einen Schluck von seinem Blaustern. Dasselbe hatte er getrunken, kurz bevor er Anasah begegnet war. Großzügig war der Alkohol an den Tafeln verteilt worden, sodass die ersten Betrunkenen an den Tischen zusammensanken. Kialrehm brüllte laut nach irgendeinem Gericht, was Asarak nicht verstehen konnte. Doch Diener huschten davon und schoben kurz danach eine Feuerschale sowie einen Käfig heran. Ein weiterer trug eine Schale herbei, die er in die Feuerschale stellte.
„Näher, näher“, schrie Asaraks Schwager, der seinen Frust anscheinend im Alkohol ertränkt hatte.
Der Käfig wurde dicht an Asarak vorbeigetragen, sodass er die kleinen Tiere erkennen konnte, die in Gefangenschaft panisch quiekten: Aniam-Springer. Die Löcher, die sie in den Boden gruben, waren gefährlich für jedes Pferd. Vor zwei Schattentagen hatte sich eine seiner Stuten so ein Bein gebrochen und er hatte sie töten müssen. Es war seine Unvorsichtigkeit gewesen.
„Seht nicht hin“, riet Liirehm ihm. Erstaunt bemerkte Asarak die Verachtung in seiner Stimme.
Natürlich sah er dennoch hin. Direkt vor Kialrehms Platz hob ein Diener die Schale aus dem Feuer, während ein anderer den Käfig hineinstellte. Kohlen glommen rot in dem Dämmerlicht der Halle. Die Schreie der Nagetiere quiekten jämmerlich, als sie die Hitze unter den Gitterstäben spürten. Kialrehms trunkene Schreie verstummten, gebannt musterte er das Geschehen.
„Was ist in der Schale, Liirehm?“ Asarak deutete auf die zweite Schale, die zuvor im Feuer gestanden hatte und die der Diener nun über den Käfig hielt.
„Honig“, erwiderte Liirehm erstarrt, „Heißer Honig.“
Der Gestank von verbranntem Fell verbreitete sich in der Halle und die Schreie der Tiere konnten auch die Musiker nicht übertönen. Nur Kialrehm lachte. Man sagte, dass er Aniam-Springer über alles liebte. Aber lag das wirklich an dem wohlschmeckendem Fleisch oder an der Art, wie sie starben?
Angewidert sah Asarak zu Anasah, die neben Kialrehm saß. Ihr Gesicht glänzte golden im Licht der Fackeln. Ein schmales Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Sie würde nichts sagen, so wie auch Liirehm nichts sagte. Sie alle wussten es, aber sie alle taten nichts.
Zitternd vor Wut und Ekel schob Asarak seinen Teller von sich.
„Entschuldigt mich“, murmelte er Liirehm zu, schob seinen Stuhl zurück und taumelte durch Reihen von feiernden Menschen nach draußen. Götterschilder öffneten ihm die Tür.
Keuchend stützte Asarak sich gegen die Wand ab. Zwei Sklavinnen, die Kohlen herbeitrugen, starrten ihn verwundert an.
„Hinfort!“, brüllte er.
Eilig liefen sie an ihm vorbei in die Halle, wo weitere Tiere schrieen.
Übelkeit ließ Asarak würgen. Er erbrach seine Mahlzeit, die Schreie der Tiere noch immer im Ohr. Tränen der Wut rannen ihm über die Wangen. Asarak hatte nichts dagegen, Tiere ihres Fleisches wegen zu töten. Er selbst hatte nie ein großes Vergnügen an der Jagd gefunden, auch wenn es nichts Verwerfliches daran gab. Aber das hier…Das war unnötiges Leiden gewesen. Diese Tiere waren nur gestorben, weil Kialrehm Freude an ihrem Leiden hatte. Und Anasah…Zornig trommelte Asarak gegen die Wand. Sie hatte nichts dagegen gesagt. Und wenn sie schon bei Tieren nichts sagte, wer konnte ihm sagen, dass sie dann Menschen verteidigte? Sein Vater war der Einzige gewesen, der sich gegen den Feldzug ausgesprochen hatte, erkannte er.
Sein Vater…
Zitternd hielt Asarak inne, stützte sich gegen die Wand und blickte zum Himmel auf, wo Oandaths rotes Licht sich ergoss.
„Gijrehm hat vieles erreicht, mein Sohn, und heute rühmen wir ihn seiner Taten wegen. Aber vergesse niemals die Gründe, aus denen er handelte und wegen denen er den Thron nach dem Tod seines Halbbruders Joressrehm bestieg. Grabe tief, Asarak.“
Es war nie eine Geschichte gewesen, die seiner historischen Bildung diente. Antirehm hatte sie als Warnung benutzt. Weil er etwas erkannt hatte, das Asarak nicht hatte sehen können, nicht gewollt hatte. Nun war es zu spät.
Tränen rannen Asarak über die Wangen.
Er hatte seinen Vater verraten und seinen Sturz herbeigeführt.
Und er hatte seine Freiheit verloren.
Versagt.