Spreche anderen Menschen nicht das Recht ab, anders zu denken und zu handeln als du selbst. Auch ihre Intentionen mögen ihre Berechtigungen haben und dem Wohle aller dienen.
Aus: Die gesammelten Sprüche der wandelnden Weisen Retaref, Veröffentlichungsdatum unbekannt.
Dritter Jinuvstag des sechsten Lichttags des elften Schattentages des Eraz’, MAE
Kaum dass sie den Pass von Siarit hinter sich gelassen hatten, schickte Mechan einen ihrer Eunuchen – Vladjub – als Boten zu ihrem Oheim. Da er ein erfahrener Kämpfer und Fährtenleser und zudem mit diplomatischem Geschick gesegnet war, besaß er am Ehesten die benötigten Fähigkeiten.
Damit blieben fünf Männer ihrer Eunuchenwache, sowie Karassub. Sechs Männer und eine junge Frau gegen das Heer, das Anasah gegen sie entsenden würde.
Sie wunderte sich nicht, dass Liub sie darauf ansprach, kaum, dass sie sich wieder in Bewegung gesetzt hatte.
„Ihr hättet ihn nicht wegschicken sollen, Herrin. Wir brauchen jeden Mann, der fähig ist, eine Waffe zu führen.“ Sie war ihm dankbar für seine Offenheit.
„Ich weiß.“ Sie seufzte tief, während Jorsarub, hinter dem sie saß, Mehiru abbremste, da dieser immer wieder ungestüm nach vorne ausbrechen wollte. Der Hengst war bei der Verfolgungsjagd mit Antirehms Bastard nicht so schlimm verletzt worden, wie es zu Beginn ausgesehen hatte. Der Schlag war vom Sattelleder abgefangen worden und hatte Mehiru nur eine oberflächliche Wunde zugefügt, die ihn kaum behinderte.
„Ich mache mir Sorgen, Herrin. Dieses Gelände hier ist mir unbekannt und ich kenne die örtlichen Gegebenheiten kaum.“ Er zögerte kurz, aber dann fügte er hinzu: „Und ich traue dem Grafen nicht“
„Wieso?“, fragte sie, „Wenn er mich erkannt hat, hätte er jede Gelegenheit gehabt, mich festzuhalten. Er hat es nicht getan und hat über das Gelände, über das wir jetzt reiten, keine Verfügungsgewalt mehr.“ Für einen kurzen Moment wurden sie getrennt, als sie einem großen Felsen ausweichen mussten, der den Weg in zwei Hälften teilte, doch dann stießen sie wieder zueinander.
„Das mag sein, doch das Verhalten seines Sohnes hat mich misstrauisch gemacht. Wenn er sich mit seinem Vater vor den Augen eines Gastes streitet, scheint es um ein ernstes Thema zu gehen.“
„Das hat mich auch gewundert“, gab Mechan zu. „Doch ist nicht gesagt, dass es dabei um uns geht. Außerdem liebt der Mann sein Volk, das hat man ihm angesehen. Es liegt nicht in seinem Interesse, uns zu schaden“
Liub nickte anerkennend. „Das ist wahr. Dennoch wäre es mir lieber, wenn Vladjub bei uns wäre. Er ist der beste Späher und aufmerksamste Beobachter, den wir haben.“
„Mein Oheim wird sich mir in wenigen Tagen mit seinen Männern anschließen. Dann haben wir genug erfahrene Kämpfer, um uns gegen kleinere Truppen zu wehren. Vladjub wird sie zu uns führen.“
„Wir reiten nicht nach Adlerruf?“ Überrascht blickte der Anführer ihrer Wache sie an.
„Wieso sollten wir?“, gab sie zurück „Ich brauche seine Männer, nicht seine Festung. Meine Pläne sehen keine Belagerung vor und unter der werden wir zwangsläufig leiden, wenn wir uns nach Adlerruf zurückziehen. Anasah ist schlau genug, um Stammbäume zu studieren. Sie mag nicht als Erstes dort nach mir suchen, aber früher oder später wird sie dorthin kommen und je weiter ich dann weg bin, umso besser.“
„Was plant ihr?“ Zum ersten Mal hatte Mechan das Gefühl dass Liub ihre Autorität erkannte – und mit ihr die Richtung, die sie einschlagen würde. Eine andere, junge Frau auf der Flucht wäre zu ihrem Oheim geflüchtet und hätte sich dann seinen Plänen unterworfen und darauf vertraut, dass er die richtigen Entscheidungen träfe. Aber nicht sie.
„Das werde ich zum gegeben Zeitpunkt bekannt geben“, erklärte sie und deutete Jorsarub an, dass er Mehirus Vorwärtsdrang endlich nachgeben sollte.
Der Hengst genoss die plötzliche Freiheit und stürmte los. Erst als sie die Spitze der Gruppe erreicht hatten, bedeutete Mechan dem Eunuchen das Pferd zu zügeln.
Die Reiter brachen plötzlich hervor, dennoch reagierte Mechans Wache schnell. Jorsarub hob seinen Säbel und schirmte sie vor den feindlichen Reitern ab. Ferenub war an ihrer rechten Seite und Allkidub, Liub und Tjarub bildeten einen größeren Kreis. Mit grimmigen Gesichtern blickten sie den Feinden entgegen.
Es waren etwa zwanzig Reiter in Kettenhemden und mit Säbeln und Schilden bewaffnet. Elegant aufeinander abgestimmt schlossen sie einen Kreis um die kleine Gruppe. Sie machten keine Anstalten, die Waffen gegen sie zu erheben, doch ließen sie auch keinen Zweifel daran, dass sie keinen von ihnen einfach entkommen lassen würden.
Mechan warf einen Blick zu Liub, der zwar die Waffen erhoben hatte, sie jedoch nicht einsetzen würde. Es waren zu viele, darin stimmte sie mit ihm überein.
Seltsamerweise verspürte sie weder Panik noch Furcht.
Erst als Lareg sein Tier in eine Lücke trieb, spürte sie den Zorn, der in ihr entwuchs.
„Sagt Euren Männern, dass sie die Waffen niederlegen sollen, dann wird niemanden etwas geschehen“, erklärte der Graf. Sie verabscheute den Sanftmut, mit dem er diese Worte sprach, so als wäre sie ein Kind, das man beruhigen müsste. Sie verabscheute die Art, wie er sie ansah, die Spur von Mitleid, die sich in seinem Blick mischte.
Ohne etwas zu entgegnen, wandte sie sich zu Liub, der nickte, obwohl sie den Zorn in seinen Augen sah. Den Zorn darüber versagt zu haben.
Mit einem Nicken befahl sie ihren Männern die Waffen niederzulegen. Jorsarub war der Erste, der gehorchte. Ohne irgendein Gefühl erkennen zu lassen, reichte er Säbel, Dolch und Schild dem Angreifer, der ihm am nächsten war. Sein Bruder Allkidub folgte seinem Beispiel, auch wenn er ausspie, nachdem er die Waffen abgegeben hatte. Tjarub zeigte seine Verachtung noch deutlicher: Er ließ seine Waffen auf den Boden fallen, sodass einer von Laregs Soldaten gezwungen war, abzusteigen, um sie aufzuheben. Liub und Ferenub übergaben ihre Waffen friedlich und Mechan besaß nichts, was sie hätte abgeben müssen. Ihr Vater hatte zwar immer behauptet, dass auch Bücher eine Waffe waren, doch bezweifelte sie, dass Lareg diese gemeint hatte.
Mit einem Nicken bedeutete Lareg seinen Soldaten, sie auf Waffen zu durchsuchen. Doch gingen sie oberflächig vor und ließen Mechan aus, anscheinend lag ihrem Herrn etwas daran, sich ihren Wohlwollen zu erhalten.
„Vielen Dank für Euer Entgegenkommen, Hoheit.“ Seine Höflichkeit verärgerte sie noch mehr als seinen Sanftmut. Er hatte die Ehre ihrer Familie und ihres Landes beschmutzt, als er sich gegen die Tochter seines rechtmäßigen Fürsten gewandt hatte und beachtete dennoch Dinge wie eine korrekte Ansprache.
Jedoch lag ihr nichts mehr fern, als ihm ihren Zorn zu zeigen.
„Was gedenkt Ihr, nun zu tun?“, ließ sie durch Karassub fragen.
„Vorerst werden wir nach Siarit zurückkehren. Dann werde ich Kontakt zu seiner höchsten Demütigkeit aufnehmen und wir werden sehen, was er für Pläne hat.“
„Euch ist bewusst, dass Ihr die Tochter Eures Fürsten, dem Ihr zur Treue verpflichtet seid, soeben angegriffen habt?“, fasste sie ihren Zorn in Worte.
Zum ersten Mal sah sie einen Ausdruck des Zornes über sein Gesicht ziehen. „In erster Linie bin ich meinem Volk verpflichtet“, entgegnete er hart und wandte sich dann an einen seiner Männer, der die Zeichen eines Anführers trug. „Wir brechen auf.“
Es hatte keinen Sinn, Widerstand zu leisten. Wenn es eines gab, was Mechan gelernt hatte, dann war es die Tatsache, keine sinnlosen Kämpfe auszufechten, wenn es noch Hoffnung auf eine andere Chance gab. Es war einfacher, Lareg in Sicherheit zu wiegen, als ihn jetzt misstrauisch und vorsichtig zu machen.
„Also gut“, meinte sie und hob den Kopf, um erwachsener zu wirken, „Ich werde mit Euch kommen, solange Ihr gewährleistet, dass meine Ehre unberührt bleibt und meinen Männern nichts geschieht. Ebenfalls werden wir nicht getrennt.“
Zwar schätzte sie Lareg nicht als einen Mann ein, der eine junge Frau ohne höheren Befehl dem Kriegsrecht unterwarf und sie vergewaltigte, doch konnte allein der Verdacht ihr die Möglichkeit einer Ehe nehmen – und damit die Möglichkeit mächtige Verbündete zu gewinnen.
Sie war nicht in der Lage, ihm Versprechen abzuringen und das wussten sie beide, dennoch sah er scheinbar keinen Grund, diese Wünsche abzulehnen. Er nickte.
Die Männer nahmen sie in ihre Mitte und sie machten sich auf den langen, gefährlichen Weg in eine unbekannte Zukunft.
„Wie habe ich mich verraten?“, fragte Mechan mit ruhiger Stimme. Mittlerweile saß sie wieder auf ihrer Eselstute, denn wollte sie, wenn sie in Siarit ankamen, wenigstens wie die Tochter eines Fürsten wirken.
Ein feines Lächeln zog sich über die Züge des Grafen. „Ihr habt Euch nicht verraten. Eure Verkleidung war gut gewählt und Euer Verhalten angemessen.“
Sie wollte ihre Ungeduld nicht durch schnell gesagte Worte verraten, weshalb sie schwieg.
„Ich hatte einen fantastischen Hengst“, erzählte Lareg, „Er war ein ausgebildetes Jagdpferd und sehr schnell. Leider starb er jung. Doch bevor er das tat, zeugte er sieben Fohlen, von denen ich weiß. Vier Stuten und drei Hengste, die alle fantastische Tiere sind und die mich immer wieder erfreuen. Einer der Hengste steht in meinem Stall und wird von meinem Sohn geritten. Die anderen beiden verkaufte ich vor einem Schattentag an Eure beiden Brüder, Prinz Ifurehm und Prinz Shurehm. Ich habe den Hengst sogleich wieder erkannt und mir dann den Rest der Geschehnisse zusammengereimt“
Mechan konnte nicht glauben, dass so etwas Banales wie ein Pferd sie verraten hatte. Doch sie erinnerte sich an den Tag, als ihre beiden Brüder stolz die neuen Hengste vorgeführt hatten. Wahrscheinlich war es wirklich die Wahrheit.
Welch bittere Ironie, war die letzte Handlung ihres Bruders Ifurehm, ihr sein Pferd zu überlassen, damit sie entkommen konnte, zum Grund ihrer Gefangennahme geworden.
Sie blickte zu Mehiru. Der Rapphengst wurde von Jorsarub geritten, der dessen ungestümes Wesen hervorragend zu lenken verstand.
Sein Bruder, Tikwar, hatte Shurehm auf seinem letzten Ritt in das feindliche Heerlager begleitet. Sie hatte noch nicht darüber nachgedacht, was mit dem Fuchs geschehen war, den sie auf ihrem Jagdausflug geritten hatte und der der Erste gewesen war, der die feindliche Gefahr bemerkt hatte. Vermutlich war er in Eraz’ Besitz übergegangen, dem man nachsagte, ein ausgesprochener Pferdeliebhaber zu sein.
Und nun war auch Mehiru in Gefangenschaft geraten.
„Wollt Ihr ihn wieder haben?“, fragte sie Lareg, „Ich bin sicher, dass mein Bruder keine Verwendung mehr für den Hengst hat.
Vermutlich spürte er den Schmerz, der in diesen Worten lag, denn erklärte er: „Um euretwillen tut es mir leid, Mechan. Ihr seid so jung und habt noch ein Leben vor Euch. Es war eine schwierige Wahl, aber ich musste diese Entscheidung treffen. Doch ich möchte Euch sagen, dass dies nicht an Eurer Person liegt, sondern allein an den Umständen und Situationen, denen wir beide entgegnen müssen“ Sie sah, dass er wirklich meinte, was er sagte. Und das machte es schwierig. Denn erkannte sie sehr wohl, dass er diese Entscheidung nicht aus Böswilligkeit oder Machtgier getroffen hatte, sondern in dem Glauben, das Richtige zu tun. Nur änderte seine Intention nicht an der Tatsache, dass er seinen rechtmäßigen Fürsten verraten hatte. Er würde sterben müssen und das bedauerte sie. Ihre Entscheidung war nicht aus Hass oder Wut geboren, sondern vielmehr aus der Erkenntnis, dass ihre Wege einander gekreuzt hatten und nur einer von ihnen weiterführen konnte. Es war nichts als Konsequenz.
„Jeder Mann, der Verrat ausgeübt hat, wird verachtet und jede Frau, die betrügt, wird bestraft“, zitierte sie ein altes Sprichwort.
„Die Götter richten jeden nach dem Maß, das er verdient“, entgegnete er gelassen.
„Ach kommt schon“, spottete sie, „Wollt Ihr wirklich behaupten, dass es Euch um die Götter geht?“
„Nein“ Seine Stimme blieb vollkommen ruhig. „Es sind die Menschen, denen ich mich verschrieben habe.“
„Und warum sollte es bei mir anders sein?“, erwiderte sie und hielt ihre Eselstute mitten auf dem Weg an. In diesem Moment war es ihr egal, das sie die hinteren Reiter behinderte und Lareg verärgerte. Sie starrte ihn nur an.
„Bei allen Ehren, Hoheit, aber ich glaube nicht, dass ihr die Konsequenzen für Euer Handeln vollends durchdacht habt.“ Seine Worte waren immer noch sorgfältig gewählt, aber sie sah den Zorn, der hinter seinem Gesicht lag und war froh, dass sie ihm eine Gefühlsregung hatte entlocken können.
„Nein?“, fragte sie. Jemand lenkte sein Pferd neben sie und sie wusste, dass es Liub war, doch ignorierte sie ihn.
„Habt Ihr darüber nachgedacht, was passiert, wenn ich Euch gehen lasse und Anasah davon erfährt?“ Er blickte sie an und in diesem Moment konnte sie sich nicht vorstellen, dass er jemals lachte. „Einer Eurer Männer hat einen Jungen gerettet. Er wird sterben, so wie alle anderen“
Ausdruckslos sah sie ihn an.
Er riss sein Pferd herum, so dass er an ihrer rechten Seite stand und auf sie hinuntersah.
„Anasah wird jeden Menschen dieser Grafschaft töten, aus Strafe, dass ich Euch habe ziehen lassen und sie wird den Menschen jedes Dorfes töten, durch das ihr zieht.“
„Sie hat meinen Bruder hingerichtet und meiner Familie und meinem Fürstentum die Souveränität geraubt“, entgegnete Mechan und verfluchte ihre zitternde Stimme.
„Ich verstehe Euren Schmerz und Euren Zorn. Auch ich stand einst vor der Entscheidung, ob ich den Pfad der Rache meines toten Bruders wegen einschlage oder mich unterwerfe und damit Teile meiner Prinzipien aufgebe.“ Er breitete die Arme aus und saß für einen Moment freihändig auf seinem Pferd, was ihn seltsamerweise für einen Moment wie den Jungen wirken ließ, der er schon lange nicht mehr war. „Seht mich an! Ich lebe und habe Söhne und Töchter, die mein Herz erfreuen und mein Erbe weiterführen werden.“
Mechan dachte an seinen Sohn Njualreg und fragte sich, ob dieser wohl die Zuneigung seines Vaters, die eben durchgeklungen war, schätzte. Sie glaubte nicht wirklich daran.
„Es ist ehrenwert, dass Euer Vater Euch in Sicherheit bringen will, doch glaubt mir, dass Ihr von Anasah nichts zu befürchten hat. Euer Vater wird vielleicht sein Fürstentum verlieren und vor das Hohe Gericht gestellt werden, doch Ihr werdet leben und es braucht kein weiteres Blut vergossen werden.“
Ob er wirklich daran glaubte? Glaubte er daran, dass Anasah sie einfach in Frieden lassen würde, wenn Ihr Vater erst einmal bestraft war? Auf verbotenen Bücherbesitz stand für gewöhnlich die Höchststrafe, doch es war sinnlos darüber zu diskutieren, das wusste sie.
Wortlos wandte sie sich ab und trieb ihre Eselstute an.
Den Rest der Nacht und auch den Tag über sprach sie kein Wort mehr.
Erst als sie in der Mitte der Nacht über sich den Schrei eines Flughuhns über sich hörte, sah sie auf – und lächelte.