Jeder Mensch sehnt sich nach dem Erbau und der Sicherheit einer Heimat. Diese ist der Ort, an dem er zurückkehrt, wo er Zuflucht und Frieden findet. Dringen Angst und Gefahr in seinen Zufluchtsort, so versucht der Mensch, seine Heimat wieder für sich allein zu gewinnen oder sich eine neue Heimat zu erbauen. Sie ist Antrieb und Motivator seines Handelns.
Aus: Doresat, Priesterin der Lorisath: Erkenntnisse über die das instinktive Handeln von Menschen, veröffentlicht im 2. Schattentag des Dez.
Der Zorn malte sich auf Mechans Gesicht, ließ sie erzittern und erbeben. Gleich den Flammen, die ihre Heimatstadt verschlangen, verzerrte er ihre Züge. Sie sah sich selbst rennen. Eine winzige Gestalt, umgeben von den hohen Gebäuden, zwischen denen sie aufgewachsen war. Das Wappen ihrer Vergangenheit in den Händen. Die goldenen Kränze auf blauem Grund waren ihr Hoffnungsanker, das einzige Beständige, während ihre Welt in Flammen zerfiel. Doch dann löste der Stoff sich auf, zerfiel zu dem Staub, der die Straßen bedeckte und mischte sich mit dem Ruß, der jegliches Gemäuer in die Farbe der Ungewissheit kleidete.
Sie betrachtete sich selbst. Sah wie Furcht sich nicht länger zurückhalten ließ, sondern auf ihrem Gesicht offenbar wurde. Die Furcht spiegelte sich in den Häusern, zeigte sich in grässlichen Fratzen, gemalt von Ruß und rostrotem Blut, auf den Mauern.
Vor einer Fratze blieb sie stehen, starrte die spitzen Zähne an und erschreckte sich vor den roten Augen.
„Geht am Besten zu Siares, auch wenn der Weg zu ihm weiter ist. Er ist einer der Wenigen, die einen nicht mit heiligen Dämpfen ersticken, sondern die Wunden behandeln.“
Verwirrt musterte sie das Gesicht, doch dann stellte sie fest, dass es sich in die Züge eines Soldaten mittleren Alters verwandelt hatte. Schließlich stand sie nicht länger in Asinat, sondern vor dem feindlichen Lager. Mit einem gutmütigen Lächeln wiederholte der Soldat seinen Rat und deutete zur Erklärung auf das Blut, das ihren Botenumhang bedeckte.
„Richtig. Vielen Dank.“ Verwirrt nickte sie und trieb ihr Pferd erneut an.
Überall feindliche Soldaten, die ihr hinterher blickten und doch erkennen mussten, dass sie nicht der war, der sie vorgab zu sein. Sie bildeten eine lange Reihe, durch die sie ritt. Doch egal, wie schnell sie den Rappen antrieb, sie endete nicht.
Immer schneller wurden sie. Rhythmisch klatschten die Männer zu dem Klappern der Hufe in die Hände und erschufen so eine rasante Musik, der sich selbst Mechans Herzschlag anpasste. Schweiß lief ihr über die Stirn, tränkte das Fell des Hengstes und verklebte ihre Wimpern, bis sie nicht länger sah. Blind ritt sie durch die Reihe, nur geleitet von dem beständig wachsenden Klatschen, das so an Bedrohlichkeit zunahm. Etwas würde geschehen. Etwas würde sich verändern. Sie spürte es, hörte es im Klatschen, schmeckte es in der veränderten Konsistenz der Luft.
Ein Reiter war hinter ihr. Etwas zischte durch die Luft. Dann umfasste jemand ihren rechten Arm. Lange Klauen, die blutige Muster in ihre Haut und den Stoff ihrer Kleidung ritzten. Aber dann Hoffnung. Die Stimme Shurehms, die alles andere übertönte und ihr zurief: „Reite, Jael. Reite und lebe die Wahrheit dessen, wer du bist. Reite!“
Langsam öffnete die Fürstentochter die Augen. Aber er ist tot, dachte sie verwirrt, Shurehm ist tot! Tränen nässten ihre Wangen und ruckartig wischte sie die Zeichen der Schwäche fort. Die Stimme ihres Vaters. Tränen seien keine Schande in der Trauer Zeiten. Ob er an sie dachte? Sie wusste ja noch nicht einmal, was aus ihm oder ihren beiden verbliebenen Brüdern geworden war. Doch vertrieb sie jenen Gedanken der Furcht, dass sie die Letzte ihrer Familie war.
Es war nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Tränen hatten das Recht während des Friedens zu fließen, aber nicht im Krieg. Ihr gefiel es nicht, dass sie keine Kontrolle darüber hatte, was sie während dieser Träume tat. Umso eher sie dieses Problem unter Kontrolle hatte, desto besser. Auf keinen Fall durfte jemand diese Tränen bemerken. Schwäche war das erste Zeichen der Niederlage, davon war sie überzeugt. Denn niemand folgte einem schwachen Leiter.
Aber um sie herum rührte sich nichts. Sie vernahm ein leises Schnarchen, in dem sie Karassub zu erkennen meinte und hörte ein Rascheln, als sie jemand im Schlaf umdrehte. Die beiden Wachposten saßen weiter vorne und hatten den Schlafenden den Rücken zugewandt. Dass sie ihre Tränen bemerkt hatten, war also unwahrscheinlich.
Für einen Moment versuchte Mechan noch liegenzubleiben. Obwohl sie wusste, dass sie Schlaf brauchte, hatte sie keine Lust, erneut diese albernen Albträume ertragen zu müssen und sich somit verletzlich zu machen. Lieber stand sie auf und gesellte sich zu den beiden Wachposten.
Als die Soldaten sie erblickten, sprangen sie auf und grüßten sie.
„Liub, Ferenub.“ Sie nickte ihnen zu. „Ist alles in Ordnung?“
„Uns ist nichts aufgefallen“, berichtete der Anführer ihrer Wache mit ruhiger Stimme.
„Ja, es ist alles ruhig geblieben“, bekräftigte der noch vergleichsweise junge Ferenub ihn.
Natürlich war es unwahrscheinlich, das jetzt, wo Viandavs tödliche Strahlen draußen regierten, sie jemand aufstöberte, doch nicht unmöglich. So erzählte man sich über die Priester des höchsten Gottes, dass sie seinem Licht widerstehen konnten. Auch über die Tiakar wurden solche Geschichten gemunkelt. Ob sie der Wahrheit entsprachen, wusste Mechan indes nicht.
Dennoch war Vorsicht eine Überlebensmaßnahme, die sie nicht als unwichtig vertun durften.
„Welchen Weg sollen wir nach Adlersicht einschlagen, Herrin?“ Sie verstand, dass Liub den Moment dieser Frage klug und bedacht gewählt hatte. Sicherlich war ihm ihre Unsicherheit bewusst und um ihr die Zeit zu geben, die sie benötigte, hatte er sie jetzt gestellt. Jetzt, wo sie fast alleine hier waren.
Und Mechan hatte darüber nachgedacht. Lange und ausführlich, bevor sie in einen düsteren und unruhigen Schlaf gedriftet war.
Gestern waren sie nach Osten geritten, aber nun galt es den spezifischen Weg zu entscheiden. Es war eine schwierige Entscheidung, denn bald würde es hier vor feindlichen Truppen nur so wimmeln.
„Wir müssen über Siarit“, meinte sie leise, „Die Trampelpfade durch das Gebirge kosten zu viel Zeit und sind zu unzuverlässig. Wir wissen nicht, welcher Weg in die Irre führt, welcher durch einen Steinschlag versperrt wurde und wo Räuber auf der Lauer liegen“
„Aber Siarit ist gut bewacht“, gab Ferenub zu bedenken. Als ob sie dies nicht wüsste! Liub schien ihren Ärger zu spüren und bedeutete dem Eunuchen mit einem kurzen Blick, dass er schweigen sollte.
„Und zugleich unsere einzige Möglichkeit“, entgegnete sie, zu zornig, um auf ihren Stand zu achten und zugleich wütend über sich selbst, weil sie ihren Zorn nicht beherrschen konnte „Wir müssen über den Pass, wenn wir Adlersicht erreichen wollen, bevor Anasahs Truppen mit der Belagerung begonnen haben. Alles andere würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen“
„Ich bezweifle, dass Graf Lareg ihren Truppen freiwillig die Tore öffnet. Das mag uns Zeit verschaffen“, unterstützte Liub sie, „Auch wenn es ohne jeden Zweifel riskant ist“
Als sie nur nickte, verstanden beide Eunuchen, dass ihre Entscheidung gefallen war.
Es war riskant, ohne jeden Zweifel, aber es war das, was Anasah nicht von ihr erwarten würde. Deshalb war es der Weg, den sie gehen musste. Sie hasste es, berechenbar zu sein.
Der Pass von Siarit befand sich östlich von Asinat und war für größere Gruppen die einzige Möglichkeit, das Gebirge sicher zu durchqueren. Händler, die den Seeweg für ihre Waren nutzen wollten, zogen über diesen Pass, ebenso solche, die den Landweg an der Küste nutzen wollten, anstatt durch die Wüste zu ziehen.
Der Zoll, den sie für ihre Sicherheit entrichteten, floss über den Grafen in die Kassen des Fürsten und war eine der größeren Einnahmequellen des Fürstentums. Aus diesem Grund hatte Fürst Dirasrehm den Pass in die Hände eines Mannes gelegt, dem er vertraute und der bisher keinen Anlass für Zweifel gegeben hatte. Lareg war schon mehrmals persönlich vom Fürsten in Asinat empfangen worden und war Mechan als solider und durchsetzungsfähiger Mann erschienen, der ihrem Vater treu ergeben war. Doch wer konnte schon sagen, wie er sich jetzt verhalten würde, wo der Tempel ihrem Vater den Krieg erklärt hatte? Mechan wusste es nicht und so hatte sie auch jetzt wieder die Identität einer Anderen gestohlen, um ihre eigene zu schützen.
Die Gewänder, die sie trug, waren die einer niederen Adeligen, deren Mann reich genug war, um eine Eunnuchenwache zu ihrem Schutz anzuheuern und dennoch zu unbedeutend war, um in die große Politik eingebunden werden zu können. Sie ritt auf einer Eselstute, die sie unterwegs gekauft hatten, damit ihre Tarnung auch überzeugend wirkte. Zwar hätte Mechan es vorgezogen, auf ihrem eigenen Pferd oder bei einem ihrer Eunuchen mit zu reiten, doch war ersteres unmöglich und zweites galt bis auf in unmittelbaren Gefahrensituationen als unschicklich.
Und so saß sie seitlich auf ihrer Eselstute in einem Kleid, das sie in ihrer Beweglichkeit stark einschränkte und starrte durch den dünnen Schleier, den höhergestellte Damen bei Reisen trugen, zu den Bergen hinauf.
Hoch ragten sie auf, grau und zerklüftet umgaben sie die Gruppe von Menschen, die auf den Pass zuströmte. Die Schwingen eines vereinzelten Schlangenadlers, der hoch über ihnen kreiste, glänzten golden in Eandelaths Licht und hoben sich gegen den dunklen Nachthimmel ab. Fast waren es die Farben jenes Wappen, das sie tief verborgen in ihrer Tasche und ihrem Herzen trug.
Der Vogel war über ihr frei, nur geleitet von den Bedürfnissen, die er zu erfüllen verlangte. Doch unabhängig von Begriffen wie Verantwortung und Pflicht, die sie banden an jene, die zu beschützen geschworen hatte.
Die Fürstentochter von Asinat sah dem Schlangenadler hinterher, bis er jenseits ihres Sichtfeldes verschwunden war, dass senkte sie ihren Blick wieder und sah nach vorne, auf jene Festung, die sie zu überwinden gedachte.
Eine hohe Mauer mit gewaltigen Toren war zwischen den Felswänden errichtet worden und Soldaten kontrollierten jeden Menschen, der hindurch wollte. Die eigentliche Festung erhob sich auf der linken Seite. In mühsamer Arbeit war sie halb in die Felswand, halb auf einem Plateau errichtet worden und war nur durch eine einzige in den Fels gehauene, steile Treppe zu erreichen. Ihre Zwillingsschwester auf der anderen Seite des Passes war nicht minder gut befestigt gewesen, doch über die Schattentage zerfallen, so dass nur noch Ruinen von einstiger Stärke zeugten. Ein einziger Wachturm war instand gesetzt worden, so dass auch von dort kleine Soldatentrupps Wache halten konnten und Bogenschützen dem Feind zu schaffen machen konnten.
Freilich waren die Soldaten wachsam, denn die Nachricht, dass Asinat belagert wurde und der westliche Teil des Fürstentums schon erobert worden war, hatte sich auch hier schon herumgesprochen. Doch nun versuchten die Soldaten nicht etwa Feinde abzuwehren, sondern der Menschenmassen Herr zu werden, die von Sicherheit jenseits des Passes träumten und aus diesem Grund durch die Tore Siarits wollten.
Mechan sah Boten, die ihre Pferde rücksichtslos durch die Menschen trieben und diejenigen, die nicht schnell genug auswichen, zur Seite drängten. Sie wurden relativ schnell durchgelassen. Sie sah auch andere Adelige. Einige kleinere Adelige aus dem Westen, die sich Anasah nicht unterworfen hatten und ihren verbliebenen Soldaten jetzt in den Osten führten, damit sie sich dem Widerstand dort anschließen konnten. Sie waren gezeichnet von den Strapazen andauernder Kämpfe und dem beschwerlichen Weg, sowie der beginnenden Erkenntnis, dass dies alles sinnlos sein mochte. Mechan sah es in ihren Augen, die Hoffnungslosigkeit, die sie begann zu ergreifen.
Auch ihre Eunnuchenwache suchte sich einen Weg durch die Menge und schirmte ihre Herrin zugleich gegen jede fremde Person ab.
Die Menge stockte, als auf einmal Schreie ertönten.
Rücksichtslos bahnten sich einige Soldaten ihren Weg durch die Menge, ungekümmert der Menschen, die sie dabei nieder ritten. Panik lag in den Gesichtern der Menschen, als Mütter ihre Kinder hoch zehrten und Männer ihre Frauen abschirmten. Auch Mechan und ihre Eunuchen wichen zurück, um eine freie Gasse zu schaffen. Es war sinnlos, wegen so etwas aufzufallen und einen Streit vom Zaum zu brechen.
Schon donnerte das erste Pferd an ihnen vorbei. Zu Mechans Überraschung trugen die Männer kein erkennbares Wappen, was sie beunruhigte.
Auf einmal ertönte ein schriller Schrei und sogleich erkannte Mechan auch den Grund. Ein kleiner Junge war den schützenden Armen seiner Mutter entwischt und in die freie Gasse gelaufen. Dort stand er und starrte wie paralysiert den rasch näher kommenden Reitern entgegen. Tjarub, einer ihrer Eunuchen, der am äußersten Rand der Gasse stand, reagierte blitzschnell. Ohne ihr auch nur einen Blick zuzuwerfen oder sich mit sonst jemandem abzusprechen, trieb er sein Pferd in den Freiraum. Im Ritt beugte er sich mit einer Hand herab und bekam das Kind an der Kleidung zu fassen. Staub wurde aufgewirbelt, als die nächsten Reiter heran nahten. Doch im letzten Moment trieb Tjarub sein Tier an den Rand und die Reiter ritten über die Stelle, wo zuvor noch das Kind gestanden hatte. Kurz vor dem Tor hielten die Männer an, sagten etwas zu den Wachen und verschwanden dann aus ihrem Blickfeld.
In dieser geringen Zeitspanne hatte sich die Menschenmenge schon wieder ausgebreitet, auch wenn sie Mechans Gruppe mied. Anscheinend hatten die Pferde Respekt eingejagt. Nur eine Familie trat auf die Reiter zu. Ein Mann, dessen Frau sich hinter ihm versteckte und an deren Rockschößen zwei Kinder klammerten.
Aus sicherer Entfernung beobachtete Mechan, wie Tjarub das Kind von seinem Pferd herunterließ und leise zu dem Mann sprach, während die Frau im Hintergrund blieb. Der Mann neigte den Kopf, dann kam er zu ihrem Erstaunen in ihre Richtung und warf sich neben ihrem Pferd nieder.
„Danke für das Leben meines Sohnes, Shasari“ Er sah sie nicht an, als er sie mit dem Titel einer vornehmen Frau ansprach. Vermutlich nahm er sie noch nicht einmal wahr, sondern sah in ihr nur jene Person, die er mit dem Begriff „Shasari“ verband: Eine reiche, edle und adelige Frau, die er normalerweise nur aus der Ferne sah. Sie selbst als Individuum sah er nicht und vermutlich war es in seinen Augen auch unwichtig. Relevant war einzig jenes Bild, das sie verkörperte.
Doch das war in Ordnung, denn tat sie bei ihm nichts Anderes. Er war ein Mitglied der unteren Schichten mit Staub unter den Fingernägeln und einem von der Arbeit krummen Rücken. Sein Name, seine Geschichte war irrelevant für die Rolle, die er in der Geschichte des Lebens spielte.
Mechan senkte den Kopf zum Zeichen, dass sie seine Worte gehört und akzeptiert hatte und gab ihm zugleich das Zeichen sich zu erheben.
Mit einer demütigen Verbeugung wandte er sich ab, nahm Frau und Kinder und verschwand mit ihnen wieder in der Menge. Sie erhaschte einen letzten Blick auf den Jungen, den Tjarub vor den Hufen der Pferde gerettet hatte, dann war er verschwunden.
Sie bemerkte den Blick des jungen Eunuchen und winkte ihn zu sich. Unaufmerksamkeit konnte man ihm sicherlich nicht vorwerfen, denn er bemerkte, obwohl sie einen Schleier trug, der ihr Gesicht und damit die Mimik verdeckte, dass seine Aktion nicht ihren Gefallen gefunden hatte.
„Es tut mir leid, Herrin, doch konnte ich das Kind nicht sterben lassen“, erklärte er, „Auch wenn ich weiß, dass wir uns möglichst unauffällig verhalten sollen.“
Sie schwieg nur.
Tjarub hob den Arm und deutete auf die Menge, aus der immer wieder Menschen auf sie zeigten und leise tuschelten.
„Seht nur, sie bewundern Euch und werden Euch diese Rettung vergelten.“
„Ja.“ Mechan riss ihr Pferd hart herum, damit sie ihn direkt ansehen konnte, auch wenn diese eine für sie eher ungewöhnliche Handlung war. „Aber es sind keine Bauern, die Land einnehmen und Kriege führen, sondern die Adeligen.“
„Es sind die Bauern, die einfachen Menschen, die für diese Kriege sterben“, meinte er leise und sie erkannte, dass er diese Worte eigentlich nicht hatte sagen wollen.
„Das mag sein“, entgegnete sie ungeduldig, während sie sich zugleich fragte, warum sie sich auf diese sinnlose Diskussion überhaupt einließ. „Doch es sind die Adeligen, deren Bewunderung und Anerkennung ich brauche. Während Bauern als Individuen im Gefüge der Macht…“
„…bedeutungslos sind“, führte er ihren Satz zu Ende. „Doch manchmal soll es vorkommen, dass auch Menschen einfacher Herkunft Macht erhalten und auf oberster Ebene mitspielen“ Sie schürzte die Lippen, auch oder weil sie wusste, dass er es nicht sehen konnte. Es missfiel ihr, welche Gedanken er hegte und wie er zu ihr sprach. Jegliche Ehrerbietung und Gelassenheit, die er ihr eigentlich entgegenbringen sollte, fehlten. Sie nahm sich vor, deswegen mit Liub zu sprechen. Denn konnte sie unmöglich, Zweifel oder aufrührerische Gedanken zulassen, egal ob bei einem ihrer Eunuchen oder ihr selbst.
„Das mag vorkommen, doch ist es mehr als nur unwahrscheinlich. Und weil es die Adeligen sind, deren Anerkennung und damit Ressourcen ich benötige, war deine Aktion mehr als nur sinnlos“, führte sie dennoch aus.
„Hätte ich den Jungen einfach sterben lassen sollen?“, fragte er zornig.
„Nein, doch manchmal gibt es mehrere Faktoren, die beachtet werden sollen.“ Bevor er etwas entgegnen konnte, fügte sie hinzu: „Und jetzt schweig“
Sie waren kurz vor dem Tor angelangt und konnten die Gesichter der Soldaten erkennen, die das Tor bewachten.
Da sie jeden einzelnen Menschen, der durch das Tor wollte, kurz befragten, war die eng gedrängte Menschenmasse, die sich vor ihnen drängte, kaum verwunderlich.
Ein Soldat, der trotz seines schneeweißen Bartes und Haupthaares, gerade wie ein gut gearbeiteter Speer stand, winkte eine Familie durch und wandte sich ihnen zu. Obwohl viele Menschen warteten, nahm er sich die Zeit, sie gründlich zu mustern und fragte dann an Liub gewandt: „Woher kommt ihr?“
Der Anführer ihrer Wache warf ihr einen fragenden Blick zu und als sie nickte, meinte er: „Aus Asinat“ Als Mechan in die Gestalt einer niederen Adeligen geschlüpft war, hatten sie sich entschieden, zumindest teilweise die Wahrheit zu sagen, damit sie keine falschen Informationen weitergaben und so Misstrauen erweckten.
„Wann habt ihr die Stadt verlassen?“
Erneut bat Liub sie stillschweigend um ihre Meinung, bevor er erklärte: „Kurz bevor die Belagerung begonnen hat. Zunächst hat meine Herrin Zuflucht auf den Ländereien ihres Gatten nordöstlich der Stadt gesucht. Als die Ausschreitungen immer schlimmer wurden, hat sie sich auf den Weg gemacht, um Zuflucht bei ihrem Bruder zu suchen, der Land in einem kleinen Tal besitzt“
Mechan beobachtete das Gesicht des Mannes genau. Er wirkte aufmerksam, aber nicht misstrauisch und hoffte eher auf Nachrichten der belagerten Stadt, als auf dunkle Geheimnisse.
Doch zu ihrem Schrecken war er zu eifrig, denn als soeben ein Mann durch das Tor schreiten wollte, in dem sie den Grafen erkannte, rief er: „Herr! Hier ist eine edle Dame, die Nachrichten aus Asinat bringt!“
Lareg war ein staatlicher Mann und überragte Mechan auf ihrem Esel. Haar und Bart waren über die Schattentage ergraut, doch trug er sie immer noch sorgfältig geschnitten und gestutzt. Schon immer hatte der Graf sich seines Standes angemessen gekleidet und verhalten, wenn auch nicht zu sehr mit Gold und Silber überladen, wie es einige seines Standes zu tun pflegten. Gekleidet war er in ein Lederwams, auf dem kleine, sich überlappende, Metallplättchen befestigt worden waren, einer Hose aus dünnem, geschmeidigen Leder und festen Stiefeln, die ihm bis zu den Knien reichten. Sie beide waren älter geworden, seitdem sie sich zuletzt begegnet waren, in den Hallen Asinats. Mechan wollte nicht sagen, dass sie damals, vor drei Schattentagen, ein Kind gewesen war, doch hatte sie vieles noch nicht verstanden und gewusst. Wissen, dass nun ein Teil von ihr geworden war.
Dennoch war es unwahrscheinlich, dass er sie erkannte. Ihre Begegnungen waren immer flüchtig gewesen, außerdem trug sie einen Schleier und er erwartete nicht, dass Mechan von Asinat durch seine Tore schritt.
Lareg musterte sie zunächst, dann begrüßte er sie mit einigen höflichen, aber knappen Worten, die er jedoch zu Liub sprach.
Mechan winkte Karassub, ihren Ehrenmund, zu sich, der den Gruß mit sorgfältig formulierten Worten zurückgab.
„Ihr kommt also aus Asinat“, stellte er fest.
Sie deutete ein Nicken an.
„Würdet Ihr mich auf die Mauer begleiten?“ Er zeigte mit einer ausladenden Bewegung auf die Menschenschlange, die sich hinter ihnen angestaut hatte. „Dann können mehr Menschen die sicheren Gefilden jenseits Siarits erreichen.“
Als er ihr Zögern bemerkte, fügte er hinzu: „Selbstverständlich begleiten Eure Männer uns, wenn Ihr das wünscht“
Ihr Herz pochte wie wild, aber sie sah keine Möglichkeit seine Bitte abzulehnen. Er entschied, ob sie den Pass überquerte und sie durfte nicht sein Misstrauen erwecken.
„Karassub, Liub, Ferenub, ihr begleitet mich, der Rest wartet.“
Sie ließ sich vom Rücken ihrer Eselstute gleiten, reichte die Zügel einem ihrer Eunuchen und legte ihre Hand auf Laregs ausgestreckten Arm. Ihre schmale Hand auf seinen behandschuhten, breiten und langen Fingern.
„Wie ist Euer Name?“, fragte er, während sie durch das Tor schritten.
„Jasef“, erwiderte sie über Karassub, der neben ihnen ging.
„Und wie alt seid ihr, Jasef?“
Er führte sie an der Mauer entlang und deutete auf eine Treppe, die auf den Wehrgang führte: „Hier hinauf“
„Siebzehn.“
„So jung“, murmelte er, mehr zu sich als zu ihr, „und doch schon auf der Flucht und ohne Heimat“
Schweigend schritten sie die Stufen hinauf. Weil der Weg so schmal war, musste Karassub hinter sie weichen. Doch sie erreichten den Wehrgang, ohne einem Hindernis zu begegnen und standen über dem Land.
Der Graf führte sie zu der östlichen Seite und sie sahen auf Fernes, vom Krieg verschontes Land. Sie sah das Gebirge, das sich zu beiden Seiten um sie erstreckte und in der Ferne erhaschte sie einen Schimmer von offenem Land – Takafs Ebene. Und dahinter kam das unendliche Meer. Aber vielleicht täuschte sie sich auch und jener Schimmer war nicht mehr als eine Einbildung, in die Wirklichkeit gemalten Träume und Hoffnungen.
Nur wenn man sich hinabbeugte und an den Fuß der Mauer sah, erkannte man auch hier die Zeichen des Leides. Menschen schleppten sich über Pfade und die Hauptstraße nach Osten, wo ihnen Frieden verheißen wurde. Die Meisten von ihnen gingen zu Fuß, nur wenige hatten Pferde und wenn einen Karren oder einen Esel.
„Es ist mein Land“, erklärte der Graf. Er ließ ihre Hand los und stützte sich auf die Mauer. „Und mein Volk, das dort geht, allein geleitet durch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Eine Hoffnung, die bald in Verzweiflung münden wird, wenn sie erkennen, dass es diese bessere Zukunft nicht gibt.“
Sie beugte sich zu Karassub hinüber, der ihre Antwort weitergab: „Glaubt Ihr nicht daran? An eine bessere Zukunft?“
„Für das einfache Volk? Nein. Sie werden immer ein Werkzeug bleiben in der Hand der Mächtigen. Hin und her getragen wie ein Sandkorn im tosendem Sturm.“ Seine Stimme wurde leiser und er sah sie an. „Vielleicht hätte ich eine Möglichkeit, ihr Schicksal zu verändern, es zu bessern, aber ich frage mich, ob der Preis, den ich dafür zahlen müsste, nicht zu hoch ist.“
Lareg war wahrlich alt geworden, dachte Mechan, früher hatte er sich nie mit solchen Fragen beschäftigt.
„Habe ich Euch erschreckt?“, fragte der Graf und runzelte die Stirn. „Das war nicht meine Absicht. Ich vergaß, wie jung ihr seid.“
„Für manche Dinge ist man nicht zu jung“, entgegnete sie, „Diese Kinder, die dort unten laufen, haben weitaus Schlimmeres erlebt als ich und vermutlich mehr von der Situation verstanden, als wir es ahnen können.“
„Wahrlich, da habt Ihr Recht.“ Erneut bot er ihr seinen Arm da und führte sie nun zur anderen Seite der Mauer. Jetzt sah sie nach Westen. Immer noch umgeben von Gebirge, doch dort hinter Felsen verborgen lag ihre Heimat. Sie konnte nicht anders, als sehnsüchtig dort hinzublicken und sich fragen, was aus ihrem Vater und ihren Brüdern, sowie all den anderen Menschen, die sie liebte, gewesen worden war.
„Ihr sehnt Euch nach zuhause, nicht wahr?“ Seine Stimme war sanft geworden und sie verstand, dass er sie zu trösten versuchte, auch wenn er es nicht wagte, sie in die Arme zu nehmen. Sie wusste nicht, ob er Töchter hatte, doch sah sie ihn in diesem Moment als Vater, der ähnlich wie ihr eigener Töchter nicht geringer als Söhne schätzte.
Sie nickte und vergaß für einen Moment, das sie eine Rolle spielte. Dieselbe Sehnsucht verband ihre wirkliche Identität mit jener, in die sie sich gekleidet hatte. Und vielleicht war es dies, was ihre erdachte Person glaubhaft werden ließ. Mehr als eine ausgedachte Geschichte mit Namen, Zahlen, Fakten, sondern Gefühle, die dahinter standen und Jasef Leben einflössten.
„Ich hoffe, dass Ihr auch jenseits der Heimat Glück findet, Jasef.“ Sein Wunsch war aufrichtig, das merkte sie.
„Ihr wollt mir keine weiteren Fragen mehr stellen?“, fragte sie überrascht, hatte sie doch angenommen, das dies der Grund war, aus dem er mit ihr hatte sprechen wollen.
„Nein“, entgegnete er und erschien ihr auf einmal verloren, wie er dastand, die Hände auf die Mauer gestemmt, den Blick weit in die Ferne gerichtet. Verloren an Dinge, die sie nicht benennen konnte. Verloren an die Last der Verantwortung, die der Graf für sein Land und sein Volk trug. „Was ich über die Geschehnisse in Asinat wissen wollte, werden deine Männer den meinen erzählt haben und was ich von dir wissen wollte, habe ich erfahren.“
„Was war es dann, dass Ihr von mir wissen wolltet?“ Der Wind bauschte ihr Kleid auf und ließ sie in der Kälte erzittern.
„Wahrheit.“ Mehr sagte er nicht und mehr tat er nicht. Sie standen nur da, schauten in Richtung Asinat, eine Stadt, die schon verloren war, auch wenn keiner von ihnen es aussprach. Verloren wie sie selbst, auch wenn sie es nicht sagten. Machtlos gegen die Mächte, die ihnen entgegen treten würden. Er als Graf, der eine Festung hielt, die zwar einer Lichttagelangen Belagerung standhalten würde, jedoch dabei viele Männer verlieren würde und letztendlich unterginge. Und sie als ein Mädchen auf der Flucht, nur mit einer Handvoll Männer, die ihr nicht aufgrund ihrer Fähigkeiten folgten, sondern weil ihr Leben von ihrem Schicksal abhängig war. Es war kein großes Zeugnis.
Dann stürmte jemand heran und unterbrach den friedvollen Moment der Stille, der sich trotz der um sie herum herrschenden Geschäftigkeit, zwischen ihnen ausgebreitet hatte.
Ebenso wie Lareg wandte Mechan sich um und erblickte einen jungen Mann, der ebenfalls mit Waffen gegürtet war.
„Vater“, bat er, obwohl sein Ton nicht dem einer Bitte entsprach, „dürfte ich um einen Augenblick deiner Zeit bitten?“ Sie beachtete er nicht im Geringsten.
Natürlich konnte er es nicht sehen, doch Mechan hob hinter dem Schleier eine Augenbraue. In einer Kultur, wo ein Vater absoluten Gehorsam von seinem Sohn erwartete, war ein solcher Ton höchst ungewöhnlich und deutete auf ein tiefes Zerwürfnis zwischen Vater und Sohn hin.
„Später“, entgegnete der Graf. Seine Stimme war ruhig geblieben, doch Mechan sah sehr wohl, dass er sich anspannte.
„Vater“, seine Stimme war schneidend, „Dies ist eine Entscheidung, die du nicht leichtsinnig treffen solltest. Sie hat Einfluss auf uns alle. Bei Bareslavs Schwert, Vater. Das ist meine Zukunft, die du fortwirfst“
„Njualreg! Ich unterhalte mich momentan mit einer reizenden, jungen Dame und ich bitte dich nur zu warten, bis ich sie sicher durch das Tor geleitet habe. Ist das zuviel verlangt?“
Njualreg warf ihr einen raschen Blick zu, bevor er sich wieder seinem Vater zuwandte.
„Natürlich nicht, Vater.“ Er wollte sich schon abwenden, dann blieb er stehen und fragte: „Darf ich mich zurückziehen?“
„Ja.“ Lareg nickte knapp und Mechan fragte sich, ob er den Zynismus in der Stimme seines Sohnes bemerkt hatte.
Ohne ein weiteres Wort wandte der Grafensohn sich ab und ging mit federnden Schritten davon.
„Bitte verzeiht das ungebürtige Verhalten meines ältesten Sohnes.“ Erneut wandte sich der Graf der Mauer zu und blickte, beide Hände darauf gestützt, in die Ferne.
„Natürlich.“ Aus den Augenwinkeln warf sie ihm einen Blick zu. Er schien müde zu sein, vermutlich hatte er die letzten Tage nicht viel geschlafen. Der hoffnungsvolle Blick, den er bei ihren letzten Begegnungen gehabt hatte, war von Sorgen und der Last der Ungewissheit zerfressen.
Ein tiefer Seufzer entrang seiner Kehle und er drehte sich zu ihr.
„Ihr solltet Euch jetzt auf den Weg machen, Jasef.“
Mechan warf einen Blick zum Himmel.
„Ja“, stimmte sie zu.
Er reichte ihr seinen Arm und sie legte ihre Hand auf seine. Das Leder, mit dem er diese schützte, war kühl unter ihrer Haut und mit den Fingern konnte sie feine Stickereien erspüren.
Sie sprachen kein Wort, als sie die Treppe wieder hinab stiegen, gefolgt von Liub, Ferenub und Karassub.
Alles, was sie dann noch sagten, waren höfliche Segenswünsche und gut formulierte Abschiedsworte.
Erst, als Mechan auf ihrer Eselstute saß, meinte Mechan über Karassub: „Ich wünsche, dass Hicurath Euch leitet, auf dass Ihr die beste Entscheidung für Euer Volk treffen könnt“
Es hatte den Anschein, dass ihn das überrascht hatte, so wie er die Augenbrauen hochzog.
„Das hoffe ich auch“, entgegnete er schließlich und hob die Hand zum Abschiedsgruß.
Mechan erwiderte diesen, dann trieb sie ihr Tier an, damit sie die Reise fortsetzen konnten.
Reise war eine so viel schönere Beschreibung als Flucht.