»Ist alles in Ordnung bei dir? Du hast dich nach Samstag nicht mehr gemeldet.« Toby sah mich besorgt an, als wir an einer ruhigen Ecke stehenblieben. Nach dem Training hatte er mich gebeten, ob wir uns kurz unterhalten könnten, daher waren wir zusammen ein Stück die Straße runtergegangen.
»Ja, es ist alles gut. Ich brauchte einfach nur etwas Zeit, um über alles nachzudenken.« Ich lächelte ihn ehrlich an.
»Und, zu welchem Schluss bist du gekommen?« Seine Hand legte sich auf meine Wange und strich sanft darüber.
Ich zuckte mit den Schultern und ließ mich mit dem Rücken gegen die Wand fallen. »Ich bin nicht wirklich weitergekommen. Ich find das Ganze immer noch merkwürdig.«
»Du weißt also noch nicht, ob du wiederkommen möchtest?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich mag den Sex mit dir wirklich, aber die ganze Sache mit Roger ist für mich schwierig zu verstehen. Ich mag ihn, versteh das nicht falsch. Es ist nur: Du warst so anders, als er dabei war. Es hat mir etwas Angst gemacht.«
»Dein Problem ist also nicht Roger, sondern meine Dominanz? Das wundert mich etwas, es hat dich vorher doch auch nicht gestört.« Er machte einen Schritt auf mich zu. »Ich war nicht anders, weil er dabei war, sondern weil ich wissen wollte, ob es dir gefällt.«
»Warum warst du dann nicht vorher so?« Verdammt, er war so nah. Einerseits wollte ich, dass er noch näher kam, andererseits wollte ich zurückweichen, wurde aber von der Wand gehindert.
»Ich hab doch gesagt, dass ich dich beim ersten Mal nicht so hart rannehme.« Er grinste mich an, kam mir mit seinem Gesicht näher. »Außerdem hast du mir doch Freitag gesagt, dass es okay ist und du dich meldest, wenn es zu viel wird.«
»Das heißt, du bist jetzt immer so?« Ich sah ihn zweifelnd an. Konnte er das? War er nicht jetzt schon wieder anders?
»Nur beim Sex und nur, wenn du überhaupt noch willst. Aber ja, ich hatte nicht vor mich weiter zurückzunehmen. Ich bin nun einmal so und mir macht es mehr Spaß. Ich hatte bisher nicht den Eindruck, dass es dich wirklich stört. Schade, wenn ich mich geirrt hab.« Er trat von mir zurück.
»Ich ... Ich weiß nicht, ob es mich stört.« Ich senkte den Kopf. »Es verwirrt mich im Moment einfach sehr. Ich fand es in dem Moment geil, aber wenn ich darüber nachdenke, dann kommt es mir nicht richtig vor, dass es mich geil macht.«
Toby seufzte. »Findest du es nicht richtig, weil du es nicht willst oder weil man dir beigebracht hat, dass es nicht richtig ist?«
Ich starrte ihn mit großen Augen an. Wie sollte ich darauf bitte antworten?
»Wenn du eine Antwort darauf gefunden hast, dann kannst du dich gern melden. Meine Nummer hast du.« Er drehte sich von mir weg und ging ein paar Schritte weg. Dann drehte er sich nochmal in meine Richtung und lächelte mich zweideutig an. »Vielleicht hilft es dir ja, dich zu fragen, ob du wolltest, dass ich dich hier vor allen Menschen gegen die Wand drücke und mit dir rummache.«
Ich sah ihm hinterher und bemerkte dabei, dass uns tatsächlich ein paar Leute zugesehen hatten. Sie waren stehengeblieben und schauten interessiert oder angewidert oder tuschelten miteinander.
Irgendwo konnte ich sie verstehen. Auch wenn die meisten wohl zu weit weg waren, als dass sie unser Gespräch hören könnten, so war doch ziemlich deutlich, dass dieser große, muskulöse Typ in Trainingsklamotten und ich, der kleine, schmächtige Kerl in enger Hose, mit Kajal um die Augen und den langen Haaren, wohl so etwas wie ein Pärchen waren. Jetzt wo ich so darüber nachdachte, waren wir wohl das Klischeepärchen schlechthin. Zumindest, nach dem, was ich bisher über schwule Beziehungen gelesen hatte.
War das vielleicht der Grund, weswegen ich mich dagegen sträubte einfach zu akzeptieren, dass es mir gefiel, wenn Toby den Ton angab? Wollte ich nicht unmännlich wirken? Zumindest hatte ich diesen Eindruck häufig von einem der Charaktere gewonnen. Irgendeiner war immer klein, schüchtern, weinerlich und von dem Großen und Starken abhängig. Aber war ich wirklich wie sie?
Ich machte mich auf den Weg nach Hause. Die Leute standen immer noch da und starrten mich an. Sollten sie doch, ich konnte dazustehen mit diesem eigentlich tollen Mann zu schlafen.
Ende Juni, etwa eineinhalb Wochen nach dem Gespräch mit Toby, begannen die Sommerferien. Wie jedes Jahr um diese Zeit kamen Verwandte von Rose für ein Wochenende auf ihrem Weg nach Rhode Island bei uns vorbei. Wenn man mein Verhältnis zu meiner Stiefmutter bedachte, war es vielleicht merkwürdig, aber ich freute mich auf den Besuch. Der Grund war Marie, Roses Großnichte.
Sie und ihre Eltern kamen am Freitagabend an. Sobald sie aus dem Auto stieg, lächelte sie mich verschwörerisch in meine Richtung.
Ich erwiderte es. Ich freute mich auf den Abend.
Aber erst mal mussten wir das Abendessen über uns ergehenlassen. Das bestand aus Hähnchenbrust mit Kartoffel- und Erbsenpüree und sehr viel Smalltalk der Erwachsenen. Da es Dave schnell zu langweilig wurde, durfte er aufstehen und seinen Nachtisch im Wohnzimmer vor dem Fernseher essen. Marie und ich dagegen mussten sitzenbleiben, wir waren zu alt, um einfach aufstehen zu dürfen.
»Und, Marie Ann, hast du schon einen Freund?«, lenkte Rose das Gespräch plötzlich auf Marie.
»Also, Rosamond, was setzt du dem Kind denn für Flausen in den Kopf?!«, empörte sich ihre Mutter. »Marie Ann ist noch viel zu jung für einen Mann. Und ein Freund kommt gar nicht in Frage. Nachher kommt das Mädchen noch auf die Idee, mit einem anderen als ihrem zukünftigen Ehemann zu verkehren.«
Ich musste mir ein Grinsen verkneifen und sah aus den Augenwinkeln zu Marie, die meinen Blick bemerkte. Genervt verdrehte sie die Augen. Dasselbe oder ähnliche Gespräche kamen jedes Mal auf, wenn ihre Familie bei uns war.
»Maria, ich hab dir doch gesagt, wenn es einer wagen sollte unser Mädchen zu entjungfern, dann muss er auch dafür geradestehen und sie heiraten.«, mischte sich Maries Vater ein. Und das mit einem Ernst, dass mir fast der Löffel aus der Hand fiel. »Mir wäre es ja lieb gewesen, wenn euer Isaac sie geheiratet hätte, aber er hat sich in den letzten Jahren ja so verändert. Seid ihr euch wirklich sicher, dass er sich nicht von unsrem lieben Herrgott abgewandt hat?«
Mir fiel tatsächlich mein Löffel aus der Hand, als Bryan davon sprach, dass ich Marie hätte heiraten sollen.
»Natürlich nicht. Sowas gibt es in meinem Haus nicht!«, empörte sich Rose.
Ich war zu perplex, um zu reagieren. Sie glaubte das doch selbst! Aber natürlich konnte sie das vor ihrer streng christlichen Familie nicht zugeben.
»Warum lasst ihr den Jungen dann mit solchen Klamotten herumlaufen?« Maria rümpfte die Nase. »Und die Haare erst!«
In dem Moment wünschte ich mir, ich hätte mich nicht halbwegs moderat angezogen. Ich hatte das Zugeständnis gemacht und war in enge schwarze Jeans und Hemd gekleidet. Sogar die Schminke hatte ich weggelassen, weil ich mich zu sehr auf Marie gefreut hatte, um mich mit Dad und Rose darüber zu streiten. Das Einzige, was ich mir nicht hatte nehmenlassen, waren eine silberne Kette mit einem Lebensbaumanhänger, ein Lederarmband und die schwarz lackierten, zugespitzten Fingernägel. Wie hätten sie wohl reagiert, wenn ich tatsächlich eine meiner Bondagehosen und ein passendes T-Shirt angezogen hätte? Oder sogar die Kette mit dem umgedrehten Kreuz?
»Ihr wisst doch, wie Jungs in dem Alter sind. Sie müssen unbedingt rebellieren. Das wird sich schon wieder verwachsen«, versuchte mein Vater, die Situation zu beruhigen.
»Ja, und dann auch noch diese schreckliche Sache mit seiner Mutter. Du hast ja recht, Rene, man kann dem Jungen keinen Vorwurf machen.«
Ich warf Maria einen bösen Blick zu. Das war doch nicht ihr Ernst?! Was hatte jetzt meine Mutter damit zu tun? Das war zu viel!
»Darf ich bitte aufstehen? Dave braucht sicher etwas Hilfe beim Baden und ich hab noch ein paar Hausaufgaben zu erledigen.« Ich wandte mich explizit meinem Vater zu, dessen Gesichtszüge vor Fassungslosigkeit komplett entglitten waren.
Schnell fing er sich wieder. »Natürlich, klar. Vergiss nicht, dass er Haarewaschen muss.«
Ich kämpfte die Tränen herunter und verließ die Küche. Ich wollte nicht, dass jemand sah, wie sehr mich diese Worte trafen. Ich hörte noch etwas von wegen, dass ich ja doch ein ganz guter junger Mann sei, so wie ich mich um meinen Bruder kümmerte, doch das interessierte mich nicht. Ich wollte nichts mehr von ihnen hören.
Dave freute sich, dass ich ihn badete. Denn das bedeutete, dass ich ihm in der Badewanne etwas vorsang. Das war unser kleines, gut gehütetes Geheimnis.
An diesem Abend tat ich es mit noch mehr Freude. Schon aus Trotz. Daher sang ich ihm, nachdem er allen in der Küche gute Nacht gesagt hatte und im Bett lag, auch noch sein Schlaflied vor.