»Ihr könnt den Süßkram auch hier essen«, rief Mr. Bridges ihnen zu, als er bemerkte, dass sie beim Nachtisch angelangt waren. »Bringt euch aber Stühle mit, wenn ihr nicht auf dem Boden sitzen wollt.«
Die Bemerkung war durchaus angebracht, denn das Zimmer war nicht sonderlich groß und mit so vielen Leuten schon sehr ausgereizt. Lance, die Greens und ich hatten die große Couch besetzt, die Paynes und Mr. Bridges quetschten sich auf der kleinen. Die Keys hatten es sich zu zweit auf dem Sessel gemütlich gemacht. Da konnte man nun wirklich niemanden mehr dazu quetschen.
Die beiden Männer kamen mit ihren Puddingschüsseln dazu. Zombie setzte sich etwas neben die Couch auf den Boden, Peter sich vor meine Füße. Ohne darüber nachzudenken, legte ich meine Hände in seinen Nacken und streichelte ihn.
Zwischen zwei Bissen sah Peter plötzlich auf. »Ehm, danke, Kasey, das Essen ist wirklich sehr gut.«
Sofort stimmte Zombie zu und erfreut lächelte Mrs. Payne. Ich fuhr mit den Fingern durch Peters Haare. Es war wirklich süß, wie er sich plötzlich auf seine guten Manieren besann.
Nachdem die Schüsseln leer waren, standen beide auf und gingen nochmal in die Küche. Zombie kam mit einem Stück Kuchen wieder, Peter ging an die Tasche, die sie mitgebracht hatten und holte zwei Flaschen hervor. Mit diesen ging er zu Mr. Payne und hielt sie ihm entgegen. »Wir dachten, es wäre vielleicht angemessen, eine Kleinigkeit mitzubringen. Da wir nicht wussten, was sie bevorzugen, haben wir einen Roten und einen Weißen mitgebracht.«
»Wow, danke, aber das wäre nicht nötig gewesen.«
Nein, wäre es bei den Paynes sicher nicht gewesen, aber Peter hatte darauf bestanden und über den Lieferanten vom Exile die beiden Flaschen besorgt. Es war nichts unglaublich Ausgefallenes, aber eben auch kein Wein aus dem Supermarkt. Er stammte wohl von einem kanadischen Weingut und Peter schwor darauf, dass er gut war. Ich hatte davon keine Ahnung, ließ ihn aber machen.
Peter setzte sich wieder zu mir und erneut kraulte ich ihn. Er schien das wirklich zu genießen, denn er lehnte seinen Kopf gegen mein Bein und entspannte sich.
Während wir noch eine Weile mit den Erwachsenen quatschten und Zombie noch so einige Leckereien in sich hineinstopfte, sortierte ich unterbewusst Peters Haare in die richtige Lage. Irgendwann merkte ich Marcys Blick. Ich drehte meinen Kopf zu ihr und sah sie direkt an.
Verlegen sah sie weg. Ich hätte schwören können, dass er einen Moment vorher noch pikiert gewesen war. Dabei lag doch die Hand ihres Mannes auch die ganze Zeit auf ihr. Wenn ich Lance’ Aufstehen einen Moment später richtig deutete, war auch ihm das nicht entgangen, denn er warf ihr einen bösen Blick zu.
Ich beugte mich zu Peter und fragte: »Wollen wir zu Lance ins Zimmer? Seine Eltern haben ’ne PS2 geliehen, damit wir zocken können.«
»Klar, gern.« Er drehte seinen Kopf zu mir und küsste mich flüchtig, bevor er aufstand und mir vom Sofa half. Zombie kam ebenfalls ohne Aufforderung mit.
In Lance’ Zimmer machten wir es uns auf der Matratze am Boden und auf dem Bett gemütlich, nachdem wir die Schuhe abgestreift hatten. Wir hatten die Matratze vorsichtshalber geholt, weil es bequemer war als der blanke Boden.
Nachdem wir vier uns gesetzt hatten und die Konsole lief, entschuldigte sich Lance: »Tut mir leid, ich hätte gerade die Keys für toleranter gehalten.«
»Ach, ein paar Blicke werden die beiden schon nicht umbringen, es gibt deutlich schlimmeres.« Ich musste Zombie da zustimmen, ich hatte mich mittlerweile halbwegs daran gewöhnt, ständig blöd angeschaut zu werden. »Sie haben ja nicht mal was gesagt.«
Wir spielten irgendein Rennspiel, das immer mal jemand anders gewann, da keiner von uns besonders gut darin war. Irgendwann kam Mr. Green herein und fragte, ob er auch mal eine Runde spielen dürfte. Peter übergab seinen Kontroller. Auch Mr. Bridges kam dazu und erhielt meinen. Kaum hatte ich den abgegeben, zog mich Peter in seine Arme.
»Gut, dass ihr beide hier seid, ich hatte schon befürchtet, ich wäre wieder der einzige Single auf der Party«, sagte Mr. Bridges mit Blick auf Zombie und Lance.
»Oh, ich bin kein Single«, erklärte Lance sofort. »Aber Janine ist bei ihren Eltern.«
»Warum ist sie nicht auch hergekommen?«, fragte Mr. Green. Kurz ging sein Blick zu Peter und mir, die in aller Seelenruhe miteinander kuschelten. Er sah irgendwie eifersüchtig aus.
»Ihre Eltern bestehen darauf, dass sie zu solchen Festen dort ist. Außerdem wissen sie nichts von mir.« Lance zuckte mit den Schultern, aber ich wusste, dass es nicht so ohne Weiteres an ihm vorbeiging. Es war durchaus ein Streitthema zwischen ihm und Janine. »Ich bin wohl nicht unbedingt die Idealbesetzung für ihren Schwiegersohn.«
»Und wann will sie ihnen von dir erzählen?« Peter ließ mich los, als er sich ins Gespräch einmischte. »Ihr seid doch auch schon eine Weile zusammen, oder?«
»Etwas über ein halbes Jahr. Keine Ahnung, sie meint, es wäre noch zu früh, um sich deswegen mit ihnen zu streiten. Ich will mich da auch nicht weiter mit ihr streiten.« Damit beendete er auch gleichzeitig die Diskussion über das Thema.
Ich konnte mir vorstellen, dass ihn das wirklich nervte, aber helfen konnte ich ihm auch nicht.
Die Männer spielten noch ein paar Runden mit. Mir war es nur recht, dann blieb mehr Zeit zum Kuscheln, und Peter schien das genauso zu sehen. Irgendwann schlief er in meinem Arm ein. Auch als die älteren Männer uns wieder allein ließen, weckte ich ihn nicht, sondern legte ihn mir in den Schoß und spielte so weiter.
Nach und nach verabschiedeten sich die anderen Gäste und auch Zombie wurde immer müder. Trotz Lance’ Angebot wollte er nicht dort schlafen und machte sich auf den Heimweg. Natürlich nicht ohne von Mrs. Payne noch ein paar Schüsseln mit Essen in die Hand gedrückt zu bekommen.
Lance und ich zockten noch eine Weile zu zweit, immerhin musste man das Gerät ausnutzen, dann weckte ich Peter so weit, dass er sich zumindest selbst ausziehen und bettfertig machen konnte. Er diskutierte überhaupt nicht mit mir, obwohl er ursprünglich gesagt hatte, dass er ungern bei den Paynes schlafen wollte.
»Danke«, murmelte er in mein Ohr, als wir uns auf die Matratze gekuschelt hatten. »Wir hatten wirklich einen Scheißtag bei den Kids. Wenn wir nicht hergekommen wären, hätten wir uns wohl noch den ganzen Abend den Kopf zerbrochen.«
»Bedank dich bei Lance und seinen Eltern, sie haben uns alle eingeladen«, flüsterte ich zurück. »Wenn es dich beschäftigt, kannst du mir auch morgen in Ruhe erzählen, was passiert ist.«
»Ich überleg es mir. Schlaf gut.« Er gab mir einen Gute-Nacht-Kuss und kuschelte sich dann ein. Wenig später war auch ich eingeschlafen.
Am Morgen weckte ich Peter, sobald ich wach war. Er war zwar immer noch ein Morgenmuffel, aber ich wusste, dass am Nachmittag eine Lieferung fürs Exile kommen sollte und außerdem musste der Club fertig gemacht werden. Ich konnte ihm diesmal zwar helfen, da ich keine Schule hatte, aber wir mussten ja auch erstmal nach Hause.
Natürlich wurden wir genötigt, noch etwas zu essen, bevor wir gingen, und bekamen einiges mitgegeben. Das reichte für uns locker bis Samstag.
Zuhause zogen wir uns etwas Bequemes an und richteten dann den Club her. Währenddessen erzählte mir Peter, dass wieder viele der Jungs verprügelt worden seien. Die Freier seien an Feiertagen wie Thanksgiving oder Weihnachten immer ›speziell‹. Er beschrieb sie als entweder sehr frustriert und gewaltbereit, sodass sie sich gerne ›Extraleistungen‹ erprügelten oder zumindest deutlich aggressiver in die Preisverhandlungen gingen, oder als besonders spendabel. Da man natürlich immer auf Letztere hoffte, aber nie wusste, wen man vor sich hatte, waren die Feiertage sehr tückisch.
Außerdem war ein neues, besonders junges Geschwisterpärchen aufgetaucht. Sie waren zum ersten Mal dort, hatten durch andere Jugendliche davon erfahren. Sie war gerade mal zehn, ihr Bruder war zwölf. Zwar hatte ihr Bruder wohl versprochen, sie nicht auf den Strich zu schicken, da sie aber bei Jugendlichen untergekommen waren, die regelmäßig konsumierten, glaubte Peter, dass der Kleine auch bald damit anfangen würde und dann wohl auch nicht mehr davor zurückschrecken würde, seine Schwester zum Anschaffen zu schicken.
»Könnt ihr nichts dagegen tun?«, fragte ich ziemlich entsetzt. Allein die Vorstellung einer Zehnjährigen auf dem Strich jagte mir einen Schauer über den Rücken.
Traurig schüttelte Peter den Kopf. »Nicht wirklich. Also nicht, ohne die ganze Arbeit zu gefährden. Wir könnten sie natürlich den Behörden melden, machen wir auch, wenn er seine Schwester anschaffen schickt, aber dann ist unsere ganze Arbeit wieder dahin. Die Jungen vertrauen uns. Wenn wir jemanden verpfeifen, ist das dahin. Und ohne Vertrauen können wir nicht mit ihnen arbeiten. Die ganze Arbeit ist immer eine Gratwanderung zwischen akzeptieren, dass sie sich für den Weg entschieden haben, und dem Wunsch ihnen zu helfen. Wir können ihnen nur Angebote machen, annehmen müssen sie sie selbst. Wirklich nur bei gefährlichen Sachen greifen wir ein. Oder wenn einer von ihnen gezwungen wird.«
»Ist das nicht unglaublich frustrierend?«
»Doch, aber es gibt ja auch immer wieder Erfolge. Einige lassen sich tatsächlich darauf ein, mit dem Jugendamt zu reden, und fangen zumindest einen Entzug an. Andere schaffen es, mit 18 wenigstens bei einem Escortservice anzufangen. Ja, es klingt vielleicht für dich komisch, aber das ist durchaus ein Erfolg. Niemand bezahlt einen Escortservice, wenn die Männer total abgewrackt aussehen oder nach Junkie schreien. Auch da müssen sie etwas runter kommen.«
Langsam nickte ich. Wirklich verstand ich es trotzdem nicht, warum es gut war. Immerhin verkauften sie sich ja weiterhin. Nur eben legal. Na gut halblegal, solange bis jemand dem Service nachweisen konnte, dass auch sexuelle Dienste angeboten wurden. »Schaffen es denn auch welche, ganz wegzukommen? Also so wie Zombie und du?«
»Ja, einige schaffen den Entzug dauerhaft. Aber es ist immer schwer zu sagen, ob sie nicht doch rückfällig werden.« Peter packte mich an den Schultern und zwang mich, ihn anzusehen. Er klang unglaublich ernst, als er weitersprach: »Das ist das Gefährliche an dem Scheiß. Nicht einmal Mat oder ich können garantieren, dass wir nicht irgendwann wieder damit anfangen. Gerade so Abende wie gestern setzen uns immer noch zu. Deswegen ist Gras auch das einzige, was ich an Drogen im Club und in der Wohnung toleriere. Ich kann nie sagen, wie ich reagieren würde, wenn es mir wirklich schlecht geht und so etwas in Reichweite ist. Ich will es auch gar nicht ausprobieren. Wenn ich irgendwas von dem Scheiß bei dir sehe, dann fliegst du raus. Hast du verstanden?«
Wieder nickte ich langsam und schluckte. Das war ein ziemlich krasses Geständnis.
Er strich mir leicht über die Wange und lächelte mich an. »Aber du tust mir gut. Ich konnte gestern wirklich vergessen, was passiert ist, und seitdem du in meinem Leben bist, hatte ich zu keinem Zeitpunkt das Verlangen, etwas davon zu nehmen.« Er zog mich an sich und küsste mich zärtlich.
Gerne gab ich den Kuss zurück, denn es machte mich glücklich, ihm so gutzutun.
Leider hielt es nicht lange an, denn der Lieferant klingelte an der Tür.
»Willst du? – Kämpfen, bis zum Ende
Willst du? – Leben, vor dem Tod
Komm wir tanzen um das Feuer
Und vergessen unsre Not«
Psycho Luna – Komm wir leben