Am Montag fuhr ich wie verabredet direkt nach der Schule zu Dad. Nachdem ich hereingekommen war, setzten wir uns an den Küchentisch und ich holte meinen Vertrag aus der Tasche, damit Dad ihn unterschreiben konnte. Rose war diesmal zum Glück nicht da.
Prüfend überflog er ihn, bevor er seufzte und dann aufsah. »Hast du einen Stift für mich?«
Schnell suchte ich einen aus der Tasche und gab ihn ihm. Dad unterschrieb und reichte dann Vertrag und Stift an mich. Nachdem ich ebenfalls unterschrieben hatte, packte ich ihn ein.
Vorsichtig fragte er: »Wie lief dein Vorsingen?«
Ich war nicht sicher gewesen, ob ich es ansprechen sollte, doch wenn er von selbst fragte, hatte er es wohl akzeptiert. »Durchwachsen. Ich hab wohl genug Talent, aber mir fehlt vieles an theoretischem Wissen. Mr. Bridges hat mir angeboten, dass ich bei ihm bis zum Beginn des Colleges schon Gesangsunterricht nehme, um das aufzuholen, was mir fehlt. Dafür kann ich aber auch ohne zweites Vorsingen anfangen. Es war die einzige Möglichkeit, damit ich trotzdem mit dem Studium anfangen kann.«
»Bist du mir böse? Ich meine, weil ich dir fast deine Karriere verbaut habe.«
Eine Weile dachte ich nach, bevor ich ehrlich antwortete: »Etwas. Wenn ich von Anfang an hätte singen dürfen, dann wäre ich jetzt nicht darauf angewiesen, dass mir jemand so ein Angebot macht. Ich bin zwar froh um die Möglichkeit, aber ich hätte es lieber regulär geschafft. So hat es den faden Beigeschmack, dass ich es nur schaffe, weil er mich kennt. Ich will keine Sonderbehandlung. Außerdem hätten wir uns dann weniger gestritten.«
Dad erwiderte mein leichtes Lächeln beim letzten Satz, bevor er fragte: »Kannst du denn wenigstens verstehen, warum ich das gemacht habe?«
Ich schüttelte den Kopf und bevor er etwas sagen konnte, meinte ich: »Ist das denn wichtig? Es ändert nichts. Ich weiß, dass du mich vor der Enttäuschung bewahren möchtest. Aber ich kann trotzdem nicht verstehen, warum du mir nicht zutraust, es zu schaffen oder damit umgehen zu können, wenn es nicht läuft, wie ich es mir vorstelle.«
»Ich wollte nicht, dass du dich, wie deine Mum, irgendwann zwischen deiner Familie und deiner Karriere entscheiden musst.«
»Stattdessen wolltest du sie lieber gleich verhindern?« Ich fuhr ihn nicht an, sondern sagte es in einem sehr ruhigen Ton. Ich wollte ihm lediglich zeigen, wie paradox das für mich klang.
Er seufzte. »Schon gut, du kannst das wohl wirklich nicht verstehen. Ich wünsche dir auf jeden Fall viel Erfolg und hoffe, dass du dir deine Träume erfüllen kannst.«
»Danke.« Ich strahlte ihn ehrlich an. Es bedeutete mir viel, dass er in seinen Möglichkeiten hinter mir stand, auch wenn ich wusste, dass er meine Ambitionen nie vollständig verstehen würde. Vorsichtig wagte ich mich noch einen Schritt nach vorne: »Du, Dad, wer ist Mr. Bridges? Sowohl er als auch Lance waren verwundert, dass ich mich nicht mehr an ihn erinnere.«
Mein Vater überlegte eine Weile, bevor er nach einem resignierten Seufzen antwortete: »Er hat mit deiner Mum am College zusammengearbeitet, bevor er für ein paar Jahre nach Europa gegangen ist. Er war auch gut mit den Paynes befreundet. Und weil ihr Jungs so begeistert von ihm wart, hat er euch gelegentlich zu Ausflügen mitgenommen.«
Also gab es von Dad auch nichts Neues zu erfahren. Er klang zumindest nicht, als würde er mir noch mehr erzählen. Vielleicht spuckte mein Gedächtnis in der nächsten Zeit ja noch ein paar Informationen aus. »Danke dir. Ich muss langsam los. Wie sieht es mit Thanksgiving aus?«
»Rose würde lieber nur mit der Familie feiern.« Natürlich. War ja zu erwarten. »Willst du wirklich nicht alleine kommen?«
»Nein.« Wenn ich kam, dann nur, wenn sie mich vollkommen akzeptierten, und dazu gehörte auch Peter. Nicht als irgendein Freund, sondern als mein fester Freund. »Wie gesagt, ich würde gern mit meinem Freund feiern.«
»Ist gut. Vielleicht kannst du ihn uns ein anderes Mal vorstellen? Ich würde ihn wirklich gerne kennenlernen.« Tatsächlich hatte ich das Gefühl, dass er es ernst meinte.
»Mal sehen.« Im Moment hatte ich keine Lust, weiter darüber zu reden. Es war ein Schlag ins Gesicht, dass mein Vater sich mal wieder Roses Willen beugte. »Ich melde mich, wenn ich meine restlichen Sachen abholen komme.«
Dad nickte und verabschiedete mich mit einer Umarmung. Ihm waren mein Ärger und der Stimmungswandel nicht entgangen.
Am Mittwoch stand ich dann etwas nervös vor Mr. Bridges Bürotür und klopfte an.
Einen Moment später öffnete er und gab mir die Hand. »Ah, Mr. Valentine, pünktlich, das ist sehr schön. Das fängt ja schonmal gut an. Kommen Sie doch rein. Ich hoffe, Sie sind fit für die erste Stunde?«
»Natürlich.«
Ein paar Minuten hielten wir uns noch mit höflichem, aber distanziertem Smalltalk auf. Es war angenehm, dass er mich wie einen Erwachsenen behandelte und auch keinen auf alten Freund machte. Mir fiel ein Stein vom Herzen, denn ich hätte nicht gewusst, wie ich andernfalls hätte reagieren sollen. Immerhin konnte ich mich überhaupt nicht an ihn erinnern.
Dann forderte er mich dazu auf, meine Stimme aufzuwärmen. Er beobachtete mich dabei und korrigierte mich, wenn ich eine Übung nicht richtig ausführte. Am Schluss wies er mich noch an, einige weitere Übungen zu machen, da ich wohl nicht alles beachtet hatte. Dann testete er meinen Stimmumfang und wir machten ein paar einfache Tonübungen. Er meinte, wir müssten erstmal miteinander warm werden, bevor wir in ein oder zwei Wochen richtig anfingen. Solange würden wir bei einfachen Übungen bleiben und er austesten, was mir bereits lag und wo es Baustellen gab.
Am Ende der Stunde gab mir mein Lehrer noch einige Übungen mit auf den Weg, die ich bis zum nächsten Mal machen musste. Es waren Arbeitsblätter zur Notenlehre und ein paar praktische Übungen, die ich täglich durchgehen sollte.
Daher war es umso merkwürdiger, dass ich einige Tage später an Thanksgiving mit ihm bei den Paynes am Tisch saß und er dort darauf bestand, dass ich ihn James nannte. Offenbar wollte er Privates und die Uni trennen. Neben ihm, Lance und seinen Eltern war außerdem noch ein mit den Paynes befreundetes Pärchen, Marcy und Darwin Key, anwesend. Da die Paynes keine weitere Familie hatten, luden sie zu solchen Feiertagen immer Freunde ein. Bisher hatte ich das immer nur aus der Ferne mitbekommen, da ich mit Rose und Dad hatte feiern müssen und so freute ich mich besonders auf den Abend.
Noch schöner war jedoch, dass Lance selbstverständlich auch Peter eingeladen hatte und, als dieser nicht so begeistert war, weil er Zombie nicht kurzfristig für den Abend absagen wollte, natürlich auch diesen. Kurz hatte Peter noch gezögert, doch so selbstverständlich, wie die Einladung kam, waren seine Zweifel, dass er einer fremden Familie zur Last fallen könnte, schnell zerstreut. Sie würden jedoch erst kommen, wenn sie mit ihrer Arbeit fertig waren.
Solange saß ich mit allen anderen am gedeckten Tisch. Jeder Gast hatte etwas beigesteuert. Da ich im Gegensatz zu den Keys, die eine Kürbissuppe mitgebracht hatten, und James, der ein Maisbrot gebacken hatte, nicht kochen konnte, hatte ich beim Bäcker einen Apfelkuchen organisiert. Ich war besonders stolz darauf, weil er von meinem ersten selbst verdienten Geld bezahlt war.
Am Tisch wurde munter durcheinandergeredet. Ich mochte die Atmosphäre. Es war deutlich anders als Zuhause, wo alle immer brav am Tisch gesessen hatten, jeder vor dem Essen sein kleines Sprüchlein heruntergerasselt und dann Ruhe geherrscht hatte. Hier hatte es zwar auch zu Beginn des Essens ein kurzes, gemeinsames Dankesgebet gegeben, aber danach war ein wildes Hin- und Herreichen der Schüsseln gestartet. Fast überforderte mich die Lebhaftigkeit, aber ich war es in diesem Haus durchaus gewöhnt.
Irgendwann wandte sich Mr. Payne an mich: »Lance hat erzählt, dass du an der BU angenommen wurdest?«
Ich strahlte ihn an und nickte. Reden wäre auch unhöflich gewesen, immerhin hatte ich mir gerade eine riesige Ladung Süßkartoffelbrei in den Mund geschoben.
»Glückwunsch.« Er hielt mir seine Hand über den Tisch hinweg hin. Das erregte natürlich die Aufmerksamkeit des ganzen Tisches und ich lief rot an. Verhalten schüttelte ich sie. Dann sah er zu Mr. Bridges. »Wobei James daran nicht ganz unschuldig ist, wie ich gehört habe.«
Dieser sah sich gespielt suchend um. »Was, ich? Nein, niemals! Ich hab ihm nur ein Angebot gemacht, dass ich jedem anderen mit seinem Talent und seinen Problemen auch gemacht hätte. Arbeiten muss er selbst dafür.«
»Das wird er sicher, hab ich recht, Isaac?« Mrs. Payne strich mir mütterlich über den Rücken und gab mir einen Schmatzer auf die Wange. »Herzlichen Glückwunsch.«
»Damit ihr das ein wenig feiern könnt und euch nicht den ganzen Abend mit uns Alten langweilen müsst, haben wir übrigens eine Konsole ausgeliehen, die ihr bei Lance im Zimmer anschließen könnt«, eröffnete Mr. Payne.
Auch sein Sohn hatte davon nichts gewusst und brach sofort in Jubel aus.
Als wir gerade mit dem Essen fertig waren, kam noch ein zweites Pärchen hinzu. Die Greens hatten bereits erwachsene Kinder, mit denen sie vorher gegessen hatten, doch nun wollten sie mit ihren Freunden feiern.
Die Reste des Essens wurden erstmal stehengelassen und wir begaben uns ins Wohnzimmer. Wer später nochmal Hunger bekam, konnte sich bedienen. Lance und ich schlossen die Konsole an, bevor wir uns zu den anderen gesellten. Es wurde viel gelacht und einiges an Alkohol getrunken. Natürlich durften Lance und ich uns auch etwas nehmen, solange es nicht zu viel war.
Es war schon fast zehn, als es endlich an der Tür klingelte.
»Wir machen auf«, bot Lance sofort an und stand auf. Ich folgte ihm.
Wie erwartet standen tatsächlich Peter und Zombie vor der Tür. Als wir sie sahen, prusteten Lance und ich. Natürlich hatten er und ich uns ein Hemd angezogen, Lance sogar ausnahmsweise eine Jeans, da ein Rock wohl reichlich dämlich dazu ausgesehen hätte, aber die beiden vor der Tür sahen schon ziemlich herausgeputzt aus. Sie steckten in Hemd und Jeans, dazu trugen sie Lederschuhe. Das allein wäre sicher nicht so außergewöhnlich gewesen, aber es war auch kein bisschen Schminke in ihren Gesichtern. Peter hatte seine Haare gescheitelt, um die kahle Seite etwas zu verdecken und Zombie seinen Iro nicht hochgegelt. Sie sahen beide aus, als wollten sie auf Schwiegermutters Liebling machen. Bei Zombie ging das ja noch recht gut, da störte nur die Frisur, aber bei Peter sah das durch den Gesichtsschmuck schon irgendwie albern aus. Auch wenn dieser heute tatsächlich etwas dezenter ausfiel.
Um nicht weiter sinnlos in der Tür zu stehen, zog ich Peter in meine Arme und begrüßte ihn mit einem Kuss. Auch Zombie kam danach herein. Sie sahen sich etwas unsicher um.
Lance ergriff für uns das Wort: »Hängt die Jacken dort hin und dann kommt mit, wir stellen euch den Rest vor.«
Sie taten wie ihnen geheißen und folgten ins Wohnzimmer.
Neben den Couchen blieben wir stehen und Lance übernahm die Vorstellung, indem er nacheinander auf die Personen deutete: »Das sind meine Eltern, die Greens und die Keys. James kennt ihr ja, soweit ich weiß. Und das sind Mat und Peter.«
Es wurden allgemeine Begrüßungen gemurmelt. Mrs. Payne stand auf, ging auf die beiden zu und hielt ihnen die Hand hin. »Hallo. Ihr könnt meinen Mann und mich ruhig Emery und Kasey nennen. Isaac hat gesagt, ihr musstet bis gerade arbeiten? Dann habt ihr sicher noch nichts gegessen. Kommt mal mit, es ist noch genug da.« An den Schultern führte sie die beiden in die Küche und drückte sie fast schon auf die Stühle.
Etwas überrumpelt und verlegen murmelten sie ein Danke, während ihnen reichlich Essen aufgetan wurde. Als sie etwas hilfesuchend zu Lance und mir sahen, lachten wir sie an. Okay, ja, wir lachten sie aus, denn sie schienen mit der fürsorglichen Kasey reichlich überfordert. Wann sie wohl zuletzt so behandelt worden waren? Kannten sie das überhaupt?
Als seine Mutter ihnen auch noch direkt Nachtisch aufschwatzen wollte, obwohl Peter und Zombie noch nicht einmal mit Essen angefangen hatten, schritt Lance dann doch ein: »Mum, sie sind alt genug, sie können sagen, wenn sie noch etwas haben wollen und sich auch selber nehmen, jetzt lass sie doch erstmal essen.«
Sie sah es ein und ging zurück ins Wohnzimmer. Auch Lance und ich folgten ihr, nachdem wir Zombie und Peter gesagt hatten, dass sie sich ruhig etwas nachnehmen konnten, wenn sie wollten, und ansonsten einfach rufen oder sich bemerkbar machen sollten.