Ich ging am nächsten Morgen mit einem ziemlich mulmigen Gefühl nach Hause. Dad hatte mir extra geschrieben, wann Dave und Rose aus dem Haus waren, sie wollten den Kinobesuch nachholen. Typisch, wenn ich in Daves Alter einfach weggerannt wäre, um mitten in der Stadt Verstecken zu spielen, hätte ich am nächsten Tag sicher nicht ins Kino gedurft.
Das allein machte mir schon wenig Lust darauf, nach Hause zu gehen. Für mich gab es auch nichts, was wir noch zu bereden hatten, Rose hatte sich doch sehr deutlich ausgedrückt: Sie wollte mich aus dem Haus haben. Und ohne Dave hielt mich nicht mehr viel dort. Die letzten Wochen war die Stimmung sowieso immer angespannter geworden, da ich mir kaum noch Mühe gegeben hatte, die Musik vor ihnen zu verheimlichen. Jetzt würden auch noch Streits wegen meiner Sexualität dazukommen.
Andererseits hatte ich keine Ahnung, wo ich sonst hinsollte. Die Paynes würden mich kaum dauerhaft aufnehmen, nur weil ich zu stur war, nach Hause zu gehen, und Toby und Roger wollten mich im Moment nicht sehen und selbst dann, hätte ich wohl kaum länger als eine Nacht bei ihnen bleiben können. Also ging ich nach Hause.
Dad wartete bereits auf mich. Wir setzten uns in die Küche und redeten. Oder besser: Er redete und ich hörte zu. Er erklärte, dass Rose es nicht so gemeint hätte mit dem Rauswurf, ich sie aber einfach zu sehr provoziert hätte. Sie hätte Angst, dass ich Dave falsche Werte vermitteln würde, wenn ich so über Frauen redete, wie ich es am Vortag getan hätte. Ich sollte mich einfach in nächster Zeit etwas zurückhalten und nicht zu viel mit Dave allein machen. Dass ich kein Interesse an meinem kleinen Bruder hatte – zumindest nicht in dieser Hinsicht –, zählte offenbar nicht. Außerdem erklärte er mir wieder und wieder, dass jemand wie Roger kein guter Umgang für mich wäre.
Damit ich endlich Ruhe hatte, sagte ich ihm, dass ich Roger nicht mehr treffen würde. Ich hatte auch nochmal versucht, ihm zu erklären, dass ich nicht schwul war, sondern auf Männer und Frauen gleichermaßen stand, doch ich redete gegen eine Wand. Solange er mich nicht mit einer Frau sah, würde ich in seinen und Roses Augen wohl schwul bleiben. Dagegen änderte auch das Geständnis im Bezug auf Marie nichts. Aber ich wollte mich definitiv nicht mit einer Frau von ihm erwischen lassen, so wichtig war es mir auch nicht.
Nach dem Gespräch ging ich in mein Zimmer und verbrachte die Zeit bis zur Probe mit Fernsehen und Musik hören. Mich überraschte ja wirklich, dass ich keinen Hausarrest bekam, aber vermutlich lag es an Roses Ausraster, für den sich Dad entschuldigen wollte. Mir war es nur recht.
Als ich das Haus wieder verließ, begegnete mir Rose, der deutlich anzusehen war, dass sie etwas sagen wollte – vermutlich mal wieder über mein Aussehen – es sich jedoch verkniff, als Dad ihr einen warnenden Blick zuwarf. Immerhin würde es die nächsten Tage wohl keine Kommentare von ihr geben.
Im Gegenzug verzichtete ich darauf, Dave einen Abschiedskuss zu geben. Er bestand aber auf eine Umarmung, die ich ihm nicht verwehren konnte und wollte.
Mittwoch ging ich wieder zum Training. Ich hatte beschlossen, dass es nichts brachte, Toby und Roger aus dem Weg zu gehen. Toby trainierte wie ausgemacht mit Lance und mir, Roger war jedoch nicht zu sehen. Keiner sprach über das Geschehene. Toby schien nicht reden zu wollen und ich hätte nicht gewusst, wie ich das Gespräch anfangen sollte.
Als Lance und ich das Studio gerade verlassen wollten, rief Toby mich jedoch. Ich sah hinter mich und er kam auf uns zu. »Isaac, können wir kurz reden?«
Ich nickte und ging mit ihm in sein Büro. Lance wartete bei June.
Toby sah mich an, schien aber noch nach den richtigen Worten zu suchen. Mehrmals öffnete er den Mund, schloss ihn dann aber wieder. Irgendwann brachte er dann doch Worte heraus: »Ich wollte ... Wegen dem Wochenende ...«
»Du warst Montag mehr als deutlich, ich weiß, dass ich nicht mitkomme.« Ich sah ihn tapfer und etwas trotzig an und hoffte, damit zu verdecken, dass es mir nahe ging, dass er und Roger mich abserviert hatten. Warum glaubte er, mir das nochmal extra sagen zu müssen?
»Gut, ich wollte sicher gehen, dass es da keine Missverständnisse gibt.« Er nicke leicht. Dann sah er mich wieder unsicher an. Ihm schien die Situation auch nicht so ganz zu gefallen.
Das hätte er sich vielleicht vorher überlegen sollen. Ich wollte auch nicht dort sein.
Toby seufzte und strich mir kurz leicht über den Kopf. Dann legte er seine Hand unter mein Kinn, zwang mich sanft, ihn anzusehen. Als er weitersprach, klang er fast zärtlich: »Du bist ein wirklich schöner, junger Mann. Du wirst es sicher nicht schwer haben, jemanden in deinem Alter zu finden. Lass einfach nicht den Kopf hängen.«
»Pfft. War’s das?« Ohne eine Antwort abzuwarten, befreite ich meinen Kopf mit einem Ruck aus seinem Griff.
Sein Blick sagte, dass er gerne noch etwas gesagt hätte, doch er nickte. »Bis nächste Woche.«
»Hey, Isaac, alles klar?«, fragte mich June, als ich wieder bei ihr und Lance ankam. Wir hatten unseren One-Night-Stand abgehakt und waren zu kumpelhaftem Smalltalk übergegangen. »Das klang ja gar nicht gut.«
»Ich will nicht drüber reden. Okay?« Das klang deutlich aggressiver, als es hätte sein sollen.
»Mhm.« Sie schien es mir nicht krummzunehmen. »Wenn du doch noch reden willst: Du hast meine Nummer und weißt, wo ich wohne.«
Ich nickte, auch wenn ich bezweifelte, dass ich das Angebot annehmen wollte.
Nachdem wir ein paar Straßen weiter waren, fragte Lance unvermittelt: »Was wollte er denn noch? Ich dachte, ihr hattet Montag alles am Telefon geklärt?«
»Nochmal nachtreten.« Anders konnte ich mir das Gespräch nicht erklären. »Er hat mir nochmal sagen wollen, dass ich beim Ausflug am Wochenende nicht willkommen bin.«
Lance schüttelte ungläubig den Kopf. »Als hättest du nach der Abfuhr noch Lust mit ihnen ein ganzes Wochenende wegzufahren.«
Ich grummelte zustimmend. Wenn ich ehrlich war, wäre ich dennoch gerne mitgefahren.
Eigentlich hatten wir von Freitag bis Montag nach New York fahren wollen. Toby hatte Sonntag seinen 30. Geburtstag und seine Familie wohnte dort. Roger und er hatten den Trip schon länger geplant und vor ein paar Wochen gefragt, ob ich mitkommen wollte. Sie hatten dann noch eine dritte Person im Hotelzimmer und der Bahn dazu gebucht. Samstagmittag wollten sie sich ein Haus in einem Vorort anschauen und danach zu Tobys Eltern fahren. Die Nacht hätte ich allein im Hotel verbracht, am Sonntag wollten sie dann abends wiederkommen und noch ein wenig zu dritt feiern. Montagmittag wären wir nach Boston zurückgefahren. Meinen Eltern hatte ich gesagt, dass ich mit Lance unterwegs sein würde, weshalb er von der Planung wusste. Ich hatte mich mental eigentlich schon darauf eingestellt, dass der erste Schultag am Dienstag aufgrund von Übermüdung eine Herausforderung wurde.
»Tut mir leid, dass dir der Dreck das Wochenende versaut. Willst du Montag vorbeikommen? Alison und Janine sind dann schon wieder von ihren Eltern zurück und wir wollen uns treffen. Ich denke, Alison ist nicht böse, wenn du auch mitkommst.« Lance wackelte mit den Augenbrauen. Es dauerte einen Moment, bis mir einfiel, dass Alison diejenige war, die sich an seinem Geburtstag so an mich rangeworfen hatte. »Die Mädels wollen ganz klassisch im Common ’n Picknick machen. Bring einfach deine Gitarre und was zu essen und trinken mit. Immerhin muss ich mir dann nicht allein ihren Mädchenkram anhören.«
»Klar, kann ich machen.« Wirklich viel Lust hatte ich nicht, aber besser als den Feiertag allein zu verbringen. »Wie schaut es Sonntag aus? Üben wir dann?« Wenn ich nicht weg war, konnte ich auch meiner normalen Routine nachgehen. Und dazu gehörte, mich Sonntag mit Lance zu treffen, um mich gemeinsam mit ihm und seinem Vater auf die Audition vorzubereiten.
»Sorry, geht nicht. Ich kann Janine nicht absagen.« Lance wirkte zerknirscht.
»Mhm.« Die Aussicht Sonntag zu Hause zu sitzen passte mir zwar nicht – ausgerechnet an Tobys Geburtstag – aber natürlich hatte Lance seiner Freundin zugesagt, da ich ja eigentlich unterwegs sein sollte. »Und Freitag wohl auch?«
Lance nickte. »Kannst doch auch allein ins Exile gehen. Es ist doch immer jemand von der Band da.«
Er hatte ja recht, nur meistens war dieser jemand Zombie und obwohl ich mich mittlerweile halbwegs gut mit ihm verstand, wollte ich mich nicht mehr als nötig mit ihm abgeben. Zumal er mir immer noch reinredete, wenn es um meine Flirts ging. Fast jeden Samstag sprach er mich darauf an, weil ich am Vorabend mit jemandem mitgegangen war. Doch von ihm wollte ich mir nicht die Gelegenheit kaputtmachen lassen, neue Erfahrungen zu sammeln. Dadurch, dass Lance und ich mittlerweile auch ein Bändchen bekamen, war es deutlich einfacher, mit Leuten ins Gespräch zu kommen. Maniac war freitags zwar auch immer da, arbeitete aber meistens.
Doch ich wollte nicht länger über mich reden. Irgendwie würde ich das Wochenende schon rumbekommen. »Was haben du und Janine am Wochenende eigentlich vor?«
Lance erzählte von seiner Wochenendplanung, während wir zur Mall spazierten.
Am Sonntagmorgen wachte in der Mitte von Peters Bett auf. Seit dem ersten Samstag hatte ich jede Woche dort geschlafen. Es war nach der Bandprobe einfach praktischer, da ich mir keine Gedanken machen musste, rechtzeitig nach Hause zu kommen. Genau wie an den Freitagen dachte mein Vater, dass ich bei Lance wäre. Daher hatte ich auch keine Notwendigkeit gesehen, ihm zu sagen, dass ich das Wochenende doch in Boston war. Sollte er ruhig glauben, dass ich mit den Paynes einen Wochenendtrip machte, während ich mich am Freitagabend mit einem niedlichen Skaterboy vergnügt hatte. Daran hatte auch Mats Gemecker nichts geändert. Ich war alt genug, selbst zu entscheiden, was ich tat.
Peter hatte sich an meinen Rücken gelehnt und den Arm über mich geschlungen. Also eigentlich wie jeden Sonntagmorgen. Wir schliefen jeder weit auf seiner Seite mit einer eigenen Decke und dem Rücken zueinander ein und am nächsten Morgen, wenn ich aufwachte, lagen wir irgendwo in der Mitte und entweder hatte er mich oder ich ihn im Arm. Meist hatte sich auch einer seiner Decke entledigt und war unter die des anderen gekrochen.
Ob Peter das überhaupt wusste? Immerhin hatte er immer noch geschlafen, wenn ich aufwachte und direkt aufstand, da Lance auf mich gewartete.
Diesmal wartete stattdessen ein verregneter Sonntag auf mich, wie mir ein Blick aus dem Fenster verriet. Passte immerhin zu meiner Stimmung. Ich hatte also die Wahl: Aufstehen und mir dann überlegen, wie ich einen verregneten Sonntag überstand, ohne nach Hause zu fahren, oder noch etwas im warmen Bett liegen, Peters Körperwärme genießen und vielleicht eine unangenehme Diskussion über mich ergehen lassen, wenn er aufwachte. Wir hatten immerhin nie darüber gesprochen, wie lange seine Gastfreundschaft galt.
Ich entschied mich sehr fürs Liegenbleiben und kuschelte mich etwas näher an ihn. Wenn er nachher aufwachte und ihn das Kuscheln störte, dann war es auch egal, ob ich die paar Millimeter näher lag oder nicht.
Die Wärme der Decke und des Körpers hinter mir ließ mich noch einmal einschlafen.
»Samsa?« Ich erwachte, als sich Peter hinter mir bewegte und verschlafen vor sich hin grummelte. »Du bist noch da?«
Einen Moment brauchte es, bis zu mir durchgedrungen war, dass ich gemeint war. Wir hatten uns erst vor zwei Wochen für einen Künstlernamen entschieden und noch nannte mich kaum jemand so.
Dennoch fand ich ihn sehr passend. Ich fühlte mich in den letzten Monaten in einer ebenso surrealen Realität gefangen wie Gregor Samsa. Ständig erwischte ich mich dabei, zu glauben, das alles nur zu träumen. Sollte es der Fall sein, wollte ich nie wieder aufwachen. Außerdem war Gregor Samsa mindestens genauso versaut wie ich. Doch ihm Gegensatz zu ihm schmachtete ich nicht nur ein Bild an, sondern setzte meine Gedanken in die Tat um.
»Sorry, bin nochmal eingeschlafen. Bin gleich weg.« Ich richtete mich auf und rieb mir den Schlaf aus den Augen.
»Ich wollte dich jetzt nicht rausschmeißen. Ich war nur verwundert, sonst bist du schon weg, wenn ich aufwache.« Peter stand auf und torkelte so verschlafen, wie er klang, in Richtung des Bades.
Ich ließ mir mit dem Aufstehen Zeit, und so war ich noch kein Stück weiter, als er wieder in der Tür stand. »Weiterschlafen? Oder willst du Frühstück?«
»Geht auch erst schlafen, dann Frühstück?« Ich wollte noch nicht raus in die Nässe.
»Gefällt mir«, war die gemurmelte Antwort. Er hob kurz die Decke an, dann lag sein Körper wieder an meinem. Zumindest schien er kein Problem damit zu haben, dass er so aufgewacht war. Während er den Arm wieder um mich legte, fragte er: »Ist in Ordnung?«
Ich grummelte zustimmend und war schon wieder halb eingeschlafen.
Das nächste Mal wachte ich von sanften Berührungen an meinem Arm auf. Es dauerte einen Moment, bis ich sie als sehr leichtes Streicheln erkannte. Wohlig kuschelte ich mich weiter in die Decke.
Augenblicklich hörte das Streicheln auf und ich gab ein empörtes Grummeln von mir. »Sorry, wollte dich nicht wecken.« Peter nahm seine Hand weg und im nächsten Moment war es auch an meinem Rücken kalt.
Fast hätte ich protestiert, doch dann fiel mir ein, dass er noch immer sowas wie mein Boss war und es vielleicht einfach nur seiner Müdigkeit zu verdanken war, dass er beim ersten Aufwachen so gelassen reagiert hatte.
Ich setzte mich träge auf. »Schon gut.«
»Willst du Cornflakes oder Toast?« Peter war bereits dabei, in eine bequeme Hose zu schlüpfen.
»Toast.« Ich stand ebenfalls auf und ging ins Bad, bevor ich mich anzog und dann nach unten in die Küche ging, wo ich ihm beim Vorbereiten half. Viel war es nicht, was er im Haus hatte, aber es reichte für uns beide.
Beim Essen redeten wir über alles Mögliche, vor allem die Band. Unser Aufwachen kam überhaupt nicht zur Sprache und die Stimmung wirkte dadurch nicht bedrückt. Vermutlich sah er es wie ich als normal an, dass man sich nachts einfach an die nächstbeste Wärmequelle kuschelte.
Ich blieb noch bis zum Nachmittag und wir nutzten die Zeit, um den Auftritt vom Vorabend noch einmal zu analysieren. Ich hatte zwar große Fortschritte gemacht, aber perfekt waren meine Ansagen und die Publikumsanimationen noch lange nicht. Wenn wir im Oktober unseren ersten richtigen Auftritt hatten, wollte ich es so gut wie möglich beherrschen.
Danach machte ich mich auf den Weg nach Hause. Ich hatte keine Lust, mich irgendwo rumzutreiben und mir eine Schlafgelegenheit für den Abend zu suchen. Ich behauptete einfach, dass wir früher zurückgekommen waren, weil wir das für den nächsten Tag in Boston angesagte gute Wetter nutzen wollten.
Natürlich schrieb ich Toby zwischendurch noch per SMS ein paar Geburtstagsgrüße. Ich war am Überlegen gewesen, es nicht zu tun, kam aber zu dem Schluss, dass, sollte ich noch eine Chance bei ihnen haben wollen, ich mich bemühen musste, damit wenigstens das freundschaftliche Verhältnis blieb.