»Hast du diese wunderschönen Augen auch von deiner Mum?«, fragte Peter, als er mich wieder im Arm hielt und über meinen Rücken streichelte. Sein erigierter Penis drückte sich gegen mich. Er war noch nicht einmal gekommen.
Ich schüttelte nur den Kopf, da ich meiner Stimme nicht traute, sie hatte mich doch gerade schon verraten. Ich hatte ihm sagen wollen, dass er aufhören sollte, doch sie hatte mir einfach den Dienst versagt. Nicht ein Laut war über meine Lippen gekommen. Stattdessen hatte mein Körper eine ganz andere Sprache gesprochen.
Warum hatte ich ihn nicht unter Kontrolle? Warum konnte Peter einfach etwas tun, was mir gar nicht gefiel? Ich war doch erwachsen. Da sollte das doch möglich sein, ihn davon abzuhalten!
»Na, von deinem Dad hast du sie aber auch nicht.« Seine Finger wanderten zärtlich über meine Schulterblätter, malten darauf Muster. Von dem Verlangen, das er noch vor ein paar Minuten gezeigt hatte, war nichts mehr zu spüren.
»Vielleicht von meinen Großeltern«, flüsterte ich. Ich wollte nicht, dass er etwas von der Beklemmung in meiner Stimme hörte. Er hatte mich ja nur aufheitern wollen. Auf unsere Art. Wenn es einem von uns schlecht ging, hatten wir Sex. Es war wie immer.
»Aber nicht von denen von vorhin, oder? Nein, die hatten nicht so schöne Augen. Hätten sie auch nicht verdient. Warum nennen die dich eigentlich Samuel?«
Ja, auch das gehörte zum Aufmuntern dazu: Mich von meinen drüben Gedanken ablenken. Dafür sorgen, dass ich nicht mehr an das dachte, was zuvor geschehen war. Und gerade wollte ich genau das, einfach nicht mehr darüber nachdenken, was er getan hatte.
»Mein zweiter Vorname.« Bei diesem Thema brauchte ich meinen Unmut nicht verbergen, es war also perfekt. »Sie hätten lieber gehabt, dass es mein erster wäre, statt dem jüdischen Namen, den meine Mum ausgesucht hat. Dass auch Samuel, David und Aaron jüdisch sind, ist ihnen dabei egal. Aaron ist Daves zweiter Vorname.«
»Dachte ich mir.« Peter strich sanft durch meine Haare. »Also kommen die Bernsteine auch von der Seite deiner Mum?«
Wieder zuckte ich mit den Schultern. Langsam gingen meine Gedanken wieder in eine andere Richtung. Die Berührungen jetzt waren gut, die gefielen mir. Einfach nur sanftes Streicheln und Flüstern, die das Unbehagen vertrieben. Ja, ich war sicher: Er hatte mich nur aufmuntern wollen.
Dennoch störte mich noch immer sein Penis, der gegen mich drückte. Ich rückte etwas weg, fokussierte mich wieder auf das Gespräch. »Ich hab ihre Eltern nie kennengelernt. Vielleicht sind sie aber auch nur eine Laune der Natur.«
»Wäre eine schöne Laune. Wobei, ein wenig erinnern sie mich an die von Bridges.«
Ich nickte. Er hatte recht, mir war es ebenfalls nach der Audition aufgefallen, ein helles, fast stechendes Braun. Nur war seines nicht von einem hellen blauen Ring umschlossen.
»Er hat übrigens wohl sehr viel von deiner Mum gehalten. Er hat früher im Unterricht ab und zu von ihr erzählt.«
Verwundert sah ich ihn an. »Woher willst du wissen, dass es meine Mum war?«
»Deine Mum hieß doch Lillian, oder?« Ich nickte. »Er hat erzählt, dass sie eine sehr begabte Pianistin war, aber ihre Karriere für ihren Mann und ihren Sohn aufgegeben hat. Er hat auch gesagt, dass ihr Sohn ihre Begabung geerbt hat und ein begeisterter Sänger ist. Ich würde sagen, das passt sehr gut.«
Ich nickte halbherzig. So wirklich überzeugte es mich nicht. Warum sollte James im Unterricht von meiner Mum erzählen?
»Und er hat mal erwähnt, dass er sie jedes Jahr am Grab besucht und ihr Lilien vorbeibringt. Mir ist das nur deswegen im Kopf geblieben, weil ich das ziemlich einfallslos fand. Ich hätte ihm doch etwas Kreativeres zugetraut, als einer Frau namens Lillian Lilien ans ...«
»Das waren ihre Lieblingsblumen«, unterbrach ich ihn leise.
»Was?«, fragte Peter nach und beugte den Kopf etwas näher zu mir.
»Lilien waren Mums Lieblingsblumen.« Ich vergrub meinen Kopf tiefer an seiner Brust, während mir ein paar Tränen herunterliefen.
»Tut mir leid, ich wollte nicht ... Sorry.« Hilflos legte er die Arme fester um mich. Lange sagte er nichts. Dann nach einer gefühlten Ewigkeit fragte er: »Wollen wir lieber schlafen?«
Ich nickte.
Vorsichtig stand Peter auf und schaltete das Licht und den Fernseher, der die ganze Zeit unbemerkt gelaufen war, aus. Dann kuschelte er sich wieder an mich. Zärtlich strich er mir durch die Haare. »Es tut mir leid. Ich wollte sie nicht beleidigen.«
»Schon gut. Hast du nicht.« Hatte er wirklich nicht. Ich wusste nur endlich, von wem die Blumen stammten. Jedes Jahr, wenn ich zu ihrem Grab gekommen war, hatten sie dort gelegen. Immer in anderen Farben. Von Dad konnten sie nicht gewesen sein, da er jede Erinnerung an sie möglichst weit von sich schob. So weit, dass es von mir keine Kindervideos gab und ich nicht zu Hause singen durfte, weil es ihn an sie erinnerte. Von ihren Eltern und den Paynes konnten sie auch nicht gewesen sein. Mit ihren Eltern hatte sie gebrochen, als sie Dad heiratete, und die Paynes waren immer mit mir gemeinsam dort gewesen. Es war tröstlich gewesen zu wissen, dass noch jemand an sie dachte. Dennoch hatte ich mich immer gefragt, wer der Unbekannte war. Es nun zu wissen, machte mich glücklich.
Mit dieser Freude schlief ich dann auch in Peters Arm ein. Sie nahm vorerst das ungute Gefühl von mir, das sich nach dem Sex in meinen Eingeweiden eingenistet hatte. Das war gut. Ich wollte es vergessen, nicht mehr darüber nachdenken, die Stimme ausblenden, die mir einflüsterte, dass Peter etwas getan hatte, was ich nicht wollte.
Doch am nächsten Morgen beim Frühstück kam all das zurück. Rose’ wütender und Dads tadelnder Blick, Maries gerötete Augen, sowie das eisige Schweigen am Tisch, zeugten davon, dass es nicht unbemerkt geblieben war, dass sie es alle gehört hatten. Selbst Dave schien die Stimmung wahrzunehmen, denn auch er schwieg beharrlich. Mir war es irgendwo auch recht. Dann konnte er wenigstens nichts Falsches sagen, nicht das Thema ansprechen, das die Stimmung zum Explodieren bringen würde.
Ich fühlte mich so elend, schaffte es gerade einmal, ein paar Bissen herunterzuwürgen. Die Stille machte es um so vieles unerträglicher, ließ die Stimme in meinem Kopf noch lauter erscheinen. Doch ich war auch zu beschäftigt, ihr klarzumachen, dass sie unrecht hatte, dass Peter mich nur trösten wollte, dass er mich liebte und mir niemals wehtun würde. Seine sorgenvollen Blicke waren doch der beste Beweis!
Ich griff nach seiner Hand, ließ mich durch das leichte Zudrücken und Lächeln beruhigen.
Als alle aufgegessen hatten, drängte ich Peter zum Aufbruch. Ich wollte fort! Fort aus diesem Haus, das mich so an den missglückten Trostversuch erinnerte, in dem mich mit jedem Schritt vorwurfsvolle Blicke verfolgten.
Die Sache hing mir auch noch die ganze Woche nach. Ich wusste nicht, wie ich das, was passiert war, einordnen sollte. Es hatte sich so unglaublich falsch angefühlt. Und dennoch war ich mir sicher, Peter meinte es nur gut, hatte versucht mich zu trösten, war wohl mit der Situation ebenfalls überfordert gewesen.
Er hatte ja auch nicht wissen können, dass Mum gestorben war. Wir hatten vorher nie über sie geredet und ansonsten hatte er nur den Verdacht gehabt, dass James vielleicht von meiner Mum erzählt hatte. Und dann hatte er noch lange nicht ahnen können, dass es mit meinem Geburtstag zusammenhing. Die Nachricht und meine Reaktion mussten ihn überfordert haben, sodass er keine andere Möglichkeit gesehen hatte, mich zu trösten. Immerhin hatten wir einander bisher immer so versichert, dass wir füreinander da waren.
Und auch er schien zu merken, dass etwas nicht stimmte. Er nahm mich häufiger in den Arm, setzte sich öfter zu mir, während ich Hausaufgaben machte, und war einfach da. Dabei versuchte er nicht ein einziges Mal, mir näherzukommen, oder sprach mich darauf an. Vermutlich wusste er genauso wenig wie ich, wie er es ansprechen sollte. Vermutlich war das auch gar nicht nötig. Immerhin hatte er es doch gut gemeint. Also gab es keinen Grund, weiter darüber nachzudenken.
Ein paar Tage später hatte ich Marie eine Mail schreiben wollen, um mich bei ihr zu entschuldigen. Ich war mir sicher gewesen, den Zettel in meine Hosentasche gesteckt zu haben, bevor wir gegangen waren. Doch ich fand ihn nicht.
Dad wollte ich jedoch auch nicht fragen, ich wusste nicht, wie er reagierte, wenn er erfuhr, dass ich mit ihr schrieb, daher musste ich warten, bis ich mal wieder dort waren, um selbst nach dem Zettel zu suchen. Ich hoffte, dass ich ihn nicht unterwegs verloren sondern durch meine Zerstreutheit an diesem Morgen auf dem Schreibtisch vergessen hatte.
»I paint a picture of the days gone by
When love went blind and you would make me see
I’d stare a lifetime into your eyes
So that I knew that you were there for me
Time after time, you were there for me«
Skid Row – I Remember You