»Hey, das ist doch Samsa, oder?«
Verwundert sah ich mich nach der Person um, die das gesagt hatte. Ich saß in der T auf dem Weg nach ... Ja, wohin eigentlich. Da ich kein Geld mehr hatte, konnte ich schlecht die Nacht im McDonald’s verbringen.
Jedenfalls hatte Zombie mich nach der Probe vor Lance’ Tür abgesetzt und ich war zur T gegangen, nachdem er aus meinem Blickfeld verschwunden war. Der Band erzählte ich noch immer, dass ich bei Lance schlief. Ich wollte ihnen nicht sagen, dass ich nicht mehr nach Hause zurückgekehrt war, da ich mir dann sicher etwas von Zombie oder Zulu anhören durfte. Und das erklärte immerhin den Rucksack, den ich mittlerweile ständig bei mir trug.
»Sicher? Der sieht doch ganz anders aus.«
Ich hatte die Personen entdeckt, die über mich sprachen. Es waren zwei junge Frauen, vielleicht gerade 18, die mir auf der anderen Seite des Ganges quasi schräg gegenüber saßen und zu mir herüber schauten und miteinander tuschelten.
Als sie bemerkten, dass ich zu ihnen sah, schauten sie woanders hin und steckten die Köpfe noch weiter zusammen.
Diese Reaktion brachte mich zum Schmunzeln. Erst starrten sie mich an, dann war es ihnen peinlich, erwischt zu werden. Offensiv musterte ich die beiden. Immerhin hatten sie bereits mehr als genug Zeit dazu gehabt.
Beide hatten schwarze Haare und waren blass geschminkt. Das erklärte wohl erstmal, warum sie mich erkannten, auch wenn es mich so schnell wirklich verwunderte. Die eine der beiden hatte eher einen Schneewittchenstil: knallrote Lippen, bordeauxfarbener Mantel in Samtoptik, knielanger Rock, weiße Strumpfhose und Lackschühchen mit Schnallen. Dazu waren ihre Haare gelockt und mit zwei Schleifchenspangen nach hinten gehalten, eine schwarze Brille mit schmalem Rahmen zierte ihr Gesicht, die Handgelenke und der Hals wurden von kleinen silbernen Kettchen geschmückt. Alles in allem, war sie ziemlich niedlich. Ihre Freundin dagegen, wirkte eher wie der härtere Typ: Ihre langen Haare hingen geglättet herab, das Gesicht war deutlich mehr geschminkt, die Lippen pechschwarz und gepierct. Um ihren Hals trug sie ein dünnes, ledernes Halsband, ihre Kleidung bestand großteilig aus Netzstoff und Latex, die Füße steckten in schweren Stiefeln, wie ich sie selbst trug. Ich war mir auf die Entfernung nicht ganz sicher, aber vermutlich trug sie schwarze Kontaktlinsen. Das einzige, was mich an ihrem Äußeren störte, war das Piercing durch ihre Nasenscheidewand, das mich an die Nasenringe von Ochsen erinnerte. Obwohl ich mittlerweile ein gewisses Interesse an Piercings bei anderen entwickelt hatte – für mich selbst kamen sie nicht in Frage –, diese Art fand ich einfach nur merkwürdig.
Als die Süße kurz wieder zu mir sah, zwinkerte ich ihr zu. Vielleicht hatte ich ja doch noch etwas für die Nacht gefunden.
Verlegen sah sie wieder weg.
Ich schmunzelte und wandte meinen Blick erstmal zum Fenster hinaus. Hoffentlich war für solche Spielchen noch genug Zeit, bevor sie die Bahn verlassen mussten. Die Scheibe wirkte durch die Dunkelheit draußen wie ein Spiegel. Ich konnte sie also weiterhin beobachten. Wieder hatten sie die Köpfe zusammengesteckt und warfen immer wieder kurze Blicke zu mir, während sie weiter rätselten.
Ich passte einen Moment ab, in dem die Süße wieder zu mir sah, und schaute ihr direkt in die Augen. Nachdem sie kurz meinen Blick erwidert hatte, lächelte ich sie an und zwinkerte ihr wieder zu. Ich hatte keine Lust, den ersten Schritt zu machen. Aber wenn ich wollte, dass sie es taten, musste ich sie wenigstens bei der Stange halten.
Dann drehte ich mich wieder weg und kramte in meinem Rucksack. Die beiden Mädels kicherten vor sich hin.
»Du bist Samsa, oder?« Die Strengere hatte ihre Freundin an die Hand genommen und war mit ihr zu den Sitzen mir gegenüber gelaufen. Sie ließen sich darauf nieder.
Langsam hob ich den Kopf, wobei ich der Süßen ein kleines Lächeln schenkte. Ruhig fragte ich: »Und wer seid ihr?«
Die Augen der beiden vergrößerten sich und begannen zu leuchten. Scheinbar reichte ihnen meine Frage, um sich sicher zu sein. Die mit den Netzklamotten fand zuerst ihre Sprache wieder: »Ich bin Alex und das ist Cindy.«
»Hallo Alex. Hallo Cindy«, grüßte ich beide. Wollten wir doch mal sehen, wohin das führte. Ich hoffte ja in die Wohnung von einer der beiden. Aber ich erinnerte mich noch zu gut an meine letzte Zufallsbekanntschaft, daher wollte ich erstmal nicht zu viel hoffen.
»Du ... Du siehst ganz anders aus als am Dienstag«, stellte Cindy fest.
Aber sicher sah ich anders aus. Dachten sie, ich würde immer in fast schon unbequem engen Jeans herumrennen und meinen Oberkörper entblößen? Zum einen hatte ich nichts in der Richtung mehr in meinem Rucksack, das sauber war, zum anderen war mir das für Schule und Probe zu viel des Guten. Außerdem schminkte ich mich für die Schule nicht und hatte die Haare meistens zusammengebunden.
»Ja, stimmt. Das macht das Bühnenlicht.« Natürlich hatte ich nicht vor, sie darauf hinzuweisen, dass ihre Feststellung ziemlich unnötig war.
Beide kicherten. Dann ergriff Alex wieder das Wort: »Wohin willst du denn?«
»Zu einem Freund«, log ich. »Und wohin wollt ihr jetzt noch?«
Die beiden wollten in einen Club in der Stadt, da morgen ihre Vorlesungen ausfielen. Sie fragten, ob ich mitkommen wollte, ich lehnte jedoch mit der Begründung ab, mein Portemonnaie bei eben jenem Freund gelassen zu haben, zu dem ich unterwegs wäre. Stattdessen luden sie mich in ein kleines Fastfoodrestaurant ein.
Es wurde ein recht lustiger Abend, auch wenn ich mich wirklich zurückhalten musste, nicht zu viel über mich oder die Band zu verraten. Ich versuchte, den Fokus eher auf sie zu halten, auch wenn sie mich beide nicht wirklich interessierten. Am Ende ging ich mit beiden in ihre gemeinsame WG und landete bei Cindy im Bett.
Am Morgen verschwand ich, noch bevor eine der beiden wach wurde und sie sich anzicken konnten.
Da Lance die letzten Wochen viel Zeit mit mir verbracht hatte, forderte nun Janine ihre Zeit ein, sodass er am Freitag nicht mit ins Exile ging. Mir blieb daher keine andere Wahl, als mir wieder einen One-Night-Stand zu suchen. Bei einem gut trainierten Blonden wurde ich fündig. Wie jedes Mal folgten mir Zombies Blicke.
Der Rest des Wochenendes verlief etwa genauso wie schon die letzten Wochen auch. Samstag und Sonntag schlief ich bei Peter, wobei ich beide Abende im Club blieb, bis er auch nach oben ging. Es war zu schön, mit ihm gemeinsam einzuschlafen.
Auch wenn ich den ganzen Sonntag und am Montagvormittag bei ihm blieb und wir sowohl an dem alten Stück, denn Angel und besonders Zulu waren ebenfalls schnell von der Idee überzeugt gewesen, es zu überarbeiten und live zu spielen, als auch an meinem Stück – wir hatten es Peaks genannt – arbeiteten, landeten wir diesmal außer zum Schlafen nicht im Bett. Ich hatte einfach keine Lust dazu. Dennoch machte es mir Spaß, Zeit mit Peter zu verbringen.
Als ich Montagnachmittag bei Lance ankam, denn wir hatten ausgemacht Columbus Day zum Vorbereiten zu nutzen, war dieser wieder etwas angesäuert. Dennoch durfte ich dort schlafen, damit wir länger Zeit zum Üben hatten.
Da das Wetter am Dienstag recht mild war, konnte ich die Zeit nutzen, etwas Geld zu verdienen. Ich setzte mich nach der Schule in den Park und sang dort bis zur Probe. Meine Gitarre ließ ich am Abend einfach im Probenraum. Das Geld reichte, um fast die ganze Nacht in einem kleinen 24h-Café zu verbringen. Erst am frühen Morgen ging mir das Geld aus und ich verließ es. Ein paar Stunden vertrat ich mir noch die Beine, bevor ich nach Hause ging.
Sobald ich ankam, schmiss ich einige Klamotten in die Waschmaschine, da ich Donnerstag für einen Auftritt frische brauchte. Ich wartete, bis die Maschine durch war, dann stellte ich den Trockner an und ging noch zwei Stunden schlafen. Frühzeitig machte ich mich auf den Weg zum Probenraum, da ich keine Ahnung mehr hatte, wie Dad und Rose zur Zeit arbeiteten und wann Dave aus der Schule kam.
Am Abend kam ich bei einer meiner Freitagsbekanntschaften unter. Ich hatte schon zwei Mal bei ihr übernachtet und wie immer ging alles ziemlich schnell. Ich kam bei ihr an, wir aßen eine Kleinigkeit und hatten dann richtig guten Sex. Sie stand mindestens genauso sehr wie ich auf einfachen, harten Sex ohne komplexe Regeln, Konventionen oder Rituale. Jedes Mal wieder musste ich sie erst fast wie meine Beute erlegen, bevor sie bereit war, sich mir zu ergeben. Es wurde auf beiden Seiten viel gekratzt und gebissen. Die einzige Abmachung, die es dabei gab, war, dass keine offen sichtbaren Spuren zurückbleiben durften. Am nächsten Morgen stand ich früh auf, um zur Schule zu gehen.
Nach der Schule traf ich mich mit Zulu und Angel am Exile, um mit ihnen nach Springfield zum Auftritt zu fahren. Zombie und Peter waren mit Timothy im Transporter vorgefahren.
Wie immer war der Bassist ziemlich schweigsam und mit Angel waren die Gesprächsthemen auch bald erschöpft. Ich ärgerte mich etwas, dass keiner der anderen beiden mit im Auto saß, denn mit ihnen hatte ich mehr zu reden. Stattdessen widmete ich mich den beiden fast fertigen Songs.
Immerhin hatte ich von Angel erfahren, dass Zulu zur ursprünglichen Besetzung der Death Demons gehörte und sie vor drei Jahren eher zufällig zur Band gestoßen war. Peter hatte Aushilfen fürs Exile gesucht und Angel, die gerade 21 geworden war, hatte sich für den Job beworben, um sich neben dem College Geld dazuzuverdienen. Als Peter hörte, dass sie Musiklehrerin werden wollte, waren sie ins Gespräch gekommen und Angel hatte bei einer Probe versuchsweise mitgespielt. Die Jungs waren so überzeugt gewesen, dass sie sie aufgenommen hatten.
Außerdem erfuhr ich, dass sie und Zulu immer noch Musikunterricht gaben, weswegen sie sich weniger um die Band kümmern konnten, als es Peter und Zombie taten. Wobei Zombie tatsächlich noch auf freiwilliger Basis bei Events als Paramedic arbeitete. Ich hatte zwar mitbekommen, dass er scheinbar Ahnung hatte, als ich nach meinem Streit mit Bryan im Exile angekommen war, hatte aber nicht gewusst, dass er das wirklich gelernt hatte. Ich war einfach zu geschockt gewesen, um groß darüber nachzudenken.
Das Konzert lief wieder richtig gut. Es waren diesmal nur knappe 600 Zuschauer, dennoch hatte ich wieder einen Panikanfall, weshalb ich wieder an Peters Joint zog. Diesmal zum Glück ohne negative Folgen. Erneut war es mir viel zu warm auf der Bühne und ich zog das Shirt aus. Ich hatte jedoch gelernt und mir diesmal selbst einen Pullover für nach dem Konzert eingepackt.
Als Vorband unterstützte uns wieder eine lokale Band, die mit uns nach dem Konzert noch in einen Club in der Stadt ging. Zu meinem Erstaunen kamen auch Zulu und Angel mit.
Gegen drei machten wir uns alle gemeinsam auf den Weg ins Hotel. Wie zu erwarten schliefen Zulu und Angel in einem Zimmer, Zombie und Timothy teilten sich das zweite und ich schlief mit Peter im dritten. Ob es von Zombie Absicht war, Peter und mich zusammen zu lassen?
Erst ging ich, dann Peter ins Bad, um uns etwas frisch zu machen. Während er weg war, zog ich mich aus und kletterte ins Bett. Er kam einen Moment später dazu und kuschelte sich an mich. Zufrieden seufzend legte ich meinen Arm um ihn und rückte noch etwas näher. Nach einem Gutenachtkuss schliefen wir ein.
Am nächsten Morgen trafen wir die anderen zum Frühstück und fuhren dann nach Boston zurück. Diesmal fuhr ich zusammen mit Peter bei Timothy mit, sodass die Fahrt nicht ganz so langweilig wurde.
Nachdem wir wieder angekommen waren, schafften wir unsere Sachen zurück in den Probenraum. Zulu, Angel und Timothy fuhren heim, Zombie und ich halfen Peter, den Club vorzubereiten, dann verzogen wir uns bis zum Abend in den Probenraum, während Peter noch andere Sachen zu arbeiten hatte. Wir bekamen beide Lieder fertig und ich kam auch bei meinem Liebeslied ein ganzes Stück weiter.