»Hey, freust du dich denn gar nicht?« Peter fasste über den Tisch hinweg und strich mir über die Wange.
»Doch. Aber irgendwie war das Gespräch komisch. Ich meine: Er hat meinem Vater gedroht! Das hab ich mir doch nicht eingebildet, oder?«
Peter seufzte. »Nein, aber so ist er nun mal. Er würde vieles tun, um jemanden zu fördern, der in seinen Augen genug Talent hat.«
»So wie dich?« Ich sah ihn forschend an. Ich hatte das Gespräch zwischen dem Prof und ihm nicht vergessen.
Peter nickte, doch bevor er antworten konnte, wurden wir von der Bedienung unterbrochen, die unsere Bestellung aufnahm. Ohne, dass ich ihn erneut auffordern musste, redete er weiter, sobald sie den Tisch verlassen hatte. »Er hat sich damals sehr dafür eingesetzt, dass Luke und ich das Studium mit der Band unter einen Hut bringen konnten. Du hast wirklich Glück, dass du an ihn geraten bist. Auch wenn das wohl nicht ganz zufällig war. Aber das ist umso besser.«
»Ich wusste gar nicht, dass du einen Bruder hast«, wollte ich das Thema weiter auf das Gespräch von vorher lenken. Außerdem konnte ich so den letzten Teil seiner Antwort ignorieren.
»Ich habe sogar mindestens drei. Alle älter. Vielleicht sind es auch mittlerweile mehr, keine Ahnung, von wem sich meine Alte noch hat schwängern lassen. Oder wie viele Bastarde mein Samenspender in die Welt gesetzt hat.« Es erschreckte mich, wie er von seinen Eltern sprach. Ich hatte zwar auch kein so gutes Verhältnis, aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, so über meinen Vater zu reden. Maximal noch über Rose. »Aber tatsächlich meinte Bridges keinen von ihnen, sondern Mat.«
Die Bedienung unterbrach uns erneut, als sie die Getränke brachte. Sobald sie wieder weg war, meinte ich stirnrunzelnd: »Zombie ist dein Bruder?« Das konnte ich mir kaum vorstellen. Sie waren sich überhaupt nicht ähnlich, geschweige denn, dass ich jemals etwas in die Richtung mitbekommen hätte.
»Na ja, irgendwie schon.« Mal wieder kratzte er über seinen linken Arm. Merkwürdig. In letzter Zeit fiel mir häufiger auf, dass er das tat. »Zumindest mehr als es meine blutsverwandten Geschwister sind. Die hab ich seit 16 Jahren nicht gesehen und auch kein Interesse daran, das irgendwann noch mal zu ändern. Mat dagegen wird mir schon sehr in meinem Leben fehlen, wenn er plötzlich nicht mehr da ist.«
»Wie kommt es, dass du sie so lange nicht gesehen hast?« Ich mochte mir gar nicht vorstellen, wie es wäre, Dave so lange nicht zu sehen. Schon in den letzten zwei Monaten hatte ich ihn arg vermisst.
»Ich will nicht weiter auf Details eingehen, okay?« Wieder kratzte er sich über den Arm, während ich nickte. »Ich bin mit 13 abgehauen. Es gab Stress mit meinem Stiefvater und meiner Mutter. Ich wollte hier in Boston meinen leiblichen Vater suchen. Ich hab ihn auch gefunden, aber er hat mich einfach weggeschickt, wollte nichts mit mir zu tun haben. Nach Hause wollte ich aber auch nicht wieder. Dort wäre es nur noch schlimmer geworden, nachdem ich abgehauen bin. Ich hab mich also hier in Boston durchgeschlagen.«
Eine Weile betrachtete ich meinen Freund. Es klang nicht so viel anders als das, was ich selbst in den letzten Monaten durchgemacht hatte und dennoch hatte ich das Gefühl, dass sehr viel mehr dahinter steckte. Schon weil er mich nicht ansah, sondern seinen Blick auf den Tisch richtete und wenn er nicht sprach, sich gedankenverloren über den Arm kratzte. »Woher kommst du denn?«
»Chicago.«
»Wie bist du denn mit 13 von Chicago nach Boston gekommen? Das ist doch ’ne unglaublich lange Strecke. Du bist wohl kaum geflogen, oder?« Ich war ziemlich geschockt. Ich hätte eher damit gerechnet, dass er aus dem Umland kam.
Er antwortete nicht direkt, sondern starrte eine Weile den Tisch an. Erst nachdem ich einmal leise seinen Namen gesagt hatte, begann er zögerlich zu sprechen: »Zum Teil bin ich gelaufen, zum Teil getrampt.«
Gerade noch rechtzeitig konnte ich meine nächste Frage herunterschlucken. Natürlich war es gefährlich, mit 13 allein eine Strecke von mehr als einem halben Tag Autofahrt zu trampen. Ich schwieg. Ich wollte gar nicht wissen, was alles bei so einer Aktion passieren konnte. Oder was sogar passiert war. Und irgendwie wollte ich es doch wissen. Durfte ich das fragen? Er war immerhin mein Freund. Ich wollte aber auch nicht zu neugierig sein. Er hatte immerhin gesagt, dass er nicht auf Details eingehen wollte.
Nach einer Weile hob er den Kopf und sah mich mit gerunzelter Stirn an. Er schien darauf zu warten, dass ich weiter fragte. Da mir keine andere Lösung einfiel, fragte ich das Naheliegendste: »Darf ich weiter fragen?«
»Nein, nicht darüber.«
Ich sah in seinen Augen, dass das Gespräch auch so einiges in ihm aufwühlte. Daher beließ ich es dabei, seiner Bitte nachzukommen.
Während ich noch überlegte, was ich stattdessen fragen wollte, kam das Essen. Erst nachdem ich einige Bissen gegessen hatte, kam ich aufs eigentliche Thema zurück: »Und wann hast du Mat kennengelernt?«
»Während ich mich in Boston durchgeschlagen habe. Sogar ziemlich am Anfang gleich. Er war in einer ähnlichen Situation und wir haben uns zusammengetan. Er ist ja ein Jahr älter als ich und machte das schon etwas länger. Er hat mir immer geholfen, wenn ich nicht mehr weiter wusste, und hat auf mich aufgepasst. Ich hab aber auch häufiger auf ihn aufgepasst.«
»Das war also die Zeit, in der ihr euch durchgeschlafen habt?« Peter hatte so etwas ja bereits vor nicht ganz zwei Wochen erwähnt.
»Kann man so sagen. Wobei wir wohl häufiger auf der Straße, in irgendwelchen Kellern oder auf Dachböden geschlafen haben als in Betten. Es war uns zu gefährlich, bei den Männern zu schlafen, wenn wir denn überhaupt bei ihnen waren. Immerhin wussten wir, dass durchaus schon Jungs verschwunden sind.«
Wenn sie nicht über Nacht dortgeblieben sind, warum hatten sie dann überhaupt ... Oh mein Gott! Mir fiel es plötzlich wie Schuppen von den Augen. Ich schluckte und versuchte erstmal gar nicht weiter über diese Erkenntnis nachzudenken. »Wie lange habt ihr das denn gemacht?«
»Etwa zwei Jahre.« Peter hatte lange gebraucht, um das auszusprechen. Es schien fast so, als hätte er rechnen müssen, um auf das Ergebnis zu kommen. »Zumindest so in etwa. Die Zeit ist ziemlich an mir vorbeigegangen. Ich hab irgendwann nicht mehr darauf geachtet, welchen Tag oder welchen Monat oder welche Jahreszeit wir hatten. Es gab nur noch: zu kalt zum Draußenschlafen und nicht zu kalt.«
Ich merkte, dass das Gespräch Peter immer unangenehmer wurde. Sein Blick haftete immer mehr an dem Tisch und seine Hand fuhr immer unruhiger über den Arm. Sein Essen hatte er noch gar nicht angerührt. Ich wusste, dass es daran lag, dass er ahnte, was meine nächste Frage war. Er hatte es immerhin irgendwo selbst gesagt und bei dem Gespräch vorhin war es auch angeklungen. »Was habt ihr genommen?«
Statt direkt zu antworten, legte Peter seinen linken Arm auf den Tisch, die Innenseite nach oben. Dann nahm er meine Hand und strich mit ihr über die Haut. Jetzt, wo ich ihn ganz genau betrachtete, sah ich unter den Tattoos entlang der Adern und besonders in der Armbeuge viele kleine Narben. Wenn ich mich darauf konzentrierte, konnte ich einige davon sogar erfühlen. »Hauptsächlich H, seltener mal Crack, wenn das Geld nicht reichte. Und wenn genug da war, auch mal Gras, als Luxus für zwischendurch. Mal ab und zu auch Pillen, wenn wir sonst nichts bekommen haben.«
»Warum?« Ich konnte kaum fassen, was ich über meinen Freund erfuhr.
Peter entzog mir seinen Arm wieder und zuckte mit den Schultern. »Weil es alle gemacht haben? Einsamkeit, einfach mal den ganzen Scheiß vergessen. Schwer das im Nachhinein zu sagen.«
»Warum seid ihr nicht wieder nach Hause? Dann hättet ihr die Drogen doch nicht mehr gebraucht.« Zumindest klang das für mich logisch, wenn es so schlimm war, dass man es nur unter Drogen ertrug. Ich wäre dann sicher wieder nach Hause gegangen, egal wie schrecklich Rose war.
Peter lächelte leicht. »Wir hatten nicht die Wahl, nach Hause zu gehen. Außerdem wäre es gelogen zu behaupten, wir hätten das gewollt. Zumindest anfangs nicht. Wir waren jung, naiv und leichtsinnig. Wir dachten, es wäre die ultimative Freiheit. Keine Erwachsenen, die uns sagten, was wir tun sollten. Jeden Tag einfach nur tun, was man wollte. Die kleinen Opfer, die man dafür bringen musste, waren es wert. Bis zu der Zeit, wo wir die Drogen brauchten, um es ertragen zu können. Aber dann war es zu spät.«
»Wie habt ihr dann aufgehört?« Immerhin glaubte ich Peter, dass er sich nichts mehr spritzte. Das wäre mir doch sicher aufgefallen.
»Irgendwann haben wir mal richtig mieses Zeug erwischt. Keine Ahnung, was genau damit war und wie ich auf die Idee kam, aber es hat beim ersten Schuss nicht gleich richtig gewirkt. Bei keinem von uns. Ich hab mir dann noch einen zweiten gesetzt. Aber das war dann zu viel. Mat war zum Glück noch klar genug, das zu bemerken. Er hat mich auf die Beine gezerrt und ist mit mir durch die Gegend gelaufen, damit ich nicht das Bewusstsein verliere.« Er lächelte leicht in sich hinein.
Einen Moment irritierte es mich, wie er bei dieser Geschichte lächeln konnte. Doch dann sah ich die einzelnen Facetten des Lächelns. Es war Dankbarkeit für seinen besten Freund, der ihm vermutlich das Leben gerettet hatte. Und Sarkasmus, vermutlich darüber, dass es Glück gewesen sein sollte. Und doch auch wieder wirklich Glück, darüber dass er lebte. Und auch Ironie, wie naiv er war. Und wohl noch vieles mehr, das ich nicht auf Anhieb erkennen konnte.
»Ich weiß nicht, wo er ihn gefunden hat oder wie lange wir unterwegs waren, aber irgendwann fanden wir jemanden, der uns half. Er rief einen Notarzt und hielt uns wach, da auch bei Mat der Rausch langsam einsetzte. Irgendwann muss ich doch das Bewusstsein verloren haben. Ich bin im Krankenhaus aufgewacht, Mat lag im Nachbarbett, wurde auch gerade wieder klar. Wir wollten türmen, da wir ja überhaupt kein Geld hatten, um das Krankenhaus zu bezahlen, doch dann machte der Typ, der uns geholfen hat, auf sich aufmerksam. Er ist geblieben und hat darauf gewartet, dass wir wieder wach wurden. Er meckerte uns ziemlich an. Ich weiß nicht mehr, was er alles zu uns sagte, aber es war nichts Nettes.« Peter schien jetzt auch mal das Essen vor sich zu bemerken, denn er aß langsam, während er weitersprach: »Ich weiß bis heute nicht, was Chris dazu veranlasst hat, uns zu helfen und sogar die Krankenhausrechnung zu bezahlen. Außerdem sorgte er dafür, dass wir einen Entzug machten, und nahm uns bei sich auf. Bei mir war das kein Problem. Meine Eltern hatten mich nicht einmal vermisst gemeldet. Mein Erzeuger glaubte, ich sei zu meiner Alten zurück, sie dachte, ich wäre bei ihm. Bei Mat war es ein ziemlicher Kampf, bis das Jugendamt das bewilligte. Er war aus einer Pflegefamilie abgehauen und sollte auch dorthin zurück. Irgendwann sahen sie aber ein, dass es dort mit dem Entzug nichts werden und er wieder abhauen würde. Also ließen sie uns zusammen bei Chris wohnen, auch wenn er nicht das Sorgerecht bekam. Aber das wollte er vermutlich auch gar nicht. Wir hatten ja trotzdem immer noch genug Flausen im Kopf. Da überließ er das lieber dem Jugendamt.« Peter schmunzelte. Vermutlich über den Unsinn, den er und Zombie verbrochen hatten. »Jedenfalls haben wir es beide bis heute ohne größere Rückfälle geschafft. Es gab mal ganz am Anfang kleinere, aber Chris hat uns sofort den Kopf gewaschen. Er wusste genau, womit er drohen musste, damit wir den Mist ganz schnell wieder ließen. Vermutlich war es das, was wir beide brauchten: Einen Schock, der uns wachrüttelte, und einen Erwachsenen, der nicht nur mit uns meckerte, sondern auch Verständnis hatte und dennoch durchgriff, wenn es nötig war. Wären wir nicht ihm, sondern einem anderen in die Arme gelaufen, hätte sich wohl wenig geändert. Wir wären beide im Heim oder bei einer Pflegefamilie gelandet, wo wir nicht lange geblieben wären, und dann wäre alles wieder von vorne losgegangen. Irgendwann wären wir wohl wirklich an einer Überdosis drauf gegangen oder erfroren oder irgendwo von ’nem Freier verscharrt worden oder was weiß ich.« In Peters Augen schimmerte es verdächtig.
Ich legte meine Hand auf seinen Arm und fragte vorsichtig: »Wo ist Chris jetzt?«
»Ich hoffe im Himmel, wenn es denn einen gibt. Alles andere hätte er nicht verdient.« Peter versuchte sich an einem Lächeln, doch so ganz wollte es ihm nicht gelingen.
Ich hatte es fast befürchtet, da ich noch nie von einem Chris gehört hatte, wollte jedoch nicht weiter nachfragen.
Brauchte ich auch nicht. »Er ist vor ein paar Jahren an einem Hirntumor verstorben. Und so kitschig es klingt, bringt er trotzdem noch Gutes. Er hat damals erkannt, dass ich Talent fürs Singen und so ziemlich jede Art von Instrument habe und kam mit der Idee für die Band und das Studium an der BU, wo ich Luke kennengelernt hab. Außerdem hat er Mat und mir das Haus und den Club vermacht, sowie einiges an Geld. Davon finanzieren wir auch das Straßenkinderprojekt und gehen schon mal für die Band in Vorkasse für größere Projekte.«
Bei allem, was ich hier erfuhr, hatte ich einen ziemlichen Kloß im Hals. Ich wollte ein wenig von Peters und Zombies Geschichte weg. »Sind das alles Kids wie ihr damals?«
Peter nickte, während er seine letzten Bissen aß. »Wir helfen mit allem Lebensnotwendigen aus. Klamotten, Decken, Medikamente. Außerdem werden alle regelmäßig untersucht, wenn sie wollen. An den Feiertagen ist es Bedingung fürs Essen, damit die nicht allzu viel mit sich rumschleppen und untereinander verbreiten. Wenn irgendwer Verletzungen hat oder krank ist, dann wird er versorgt. Und wenn jemand aufhören will, dann unterstützen wir dabei. Mittlerweile gibt es auch immer wieder Spenden, aber lange können wir das vermutlich nicht mehr aufrecht halten. Wir können leider nicht wirklich öffentlich etwas machen, dafür ist das Ganze politisch zu unpopulär. Und der ein oder andere würde uns schon mal gern deswegen hinter Gitter bringen wollen. Von wegen wir würden die Kids anstiften und das unterstützen und so.«
»Was macht ihr, wenn euch das Geld ausgeht?« Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie das aussah, wenn das mal der Fall wäre.
»Keine Ahnung. Vermutlich erstmal aus eigener Tasche weiter.« Weiter schien er das Thema nicht ausführen zu wollen.
»At 14 he was on the street with nothing but his name
He quickly learned what he should do to live through all his pain
The men who picked him up didn’t care about the boy
When the deed was done he was like a broken toy«
Leæther Strip – A Boy