»Sorry, wenn ich zu forsch war wegen Thanksgiving.« Seitdem wir in der Wohnung angekommen waren, hatten Peter und ich nur das Nötigste miteinander gesprochen. Wir hatten fast schweigend meine Sachen im Schrank verstaut und während ich wie versprochen das Bad geputzt hatte, hatte uns Peter etwas zu essen besorgt. Auch beim Essen war noch kein Wort zwischen uns gefallen. War er wirklich so wütend?
»Hmm?« Peter schreckte von seinem Essen auf. »Nein, schon gut. Ich kann ja verstehen, dass du mit mir feiern willst.«
»Aber? Du hast die ganze Zeit kein Wort gesagt.« Konnte es sein, dass er das nicht einmal mitbekommen hatte?
Sein Blick wanderte verlegen auf den Tisch zwischen uns. Eine Weile sagte er nichts, doch dann seufzte er und sah wieder auf. »Ich überlege die ganze Zeit, wie ich dir am besten sage, dass ich nicht mit dir feiern kann. Dir schien es wichtig zu sein, dass wir zusammen feiern, aber ich hab keine Zeit.«
»Oh. Warum denn nicht?«
»Ich muss arbeiten.« Statt eine weitere Erklärung zu liefern, schob er sich eine Gabel mit Essen in den Mund.
Diese Antwort klang für mich ziemlich ausweichend. Außerdem verwunderte sie mich. Wie immer an Feiertagen fiel die Bandprobe aus und warum sollte er das Exile aufmachen? Zwar war es meistens vor den Feiertagen geöffnet und er hatte ja auch eine Halloweenfeier veranstaltet, aber zu Thanksgiving konnte ich mir das kaum vorstellen. »Du hast das Exile offen? Warum?«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf und schob sich erneut Essen in den Mund.
Das gab es doch nicht! Warum musste ich ihm jede Antwort aus der Nase ziehen?
Wütend legte ich mein Besteck etwas zu laut auf den Tisch. »Wenn du zu deinen Eltern oder irgendwohin musst und mich nicht mitnehmen willst, dann sag es doch einfach! Aber hör auf, rumzudrucksen oder Ausreden zu erfinden!«
Ich stand auf und wollte meinen Teller wegräumen, doch Peter hielt mich am Arm fest. Einen Moment sah er mir fest in die Augen, bevor er erneut seufzte. »Ich muss wirklich arbeiten. Aber nicht für die Band oder im Exile. Mat und ich verteilen jedes Jahr Essen an obdachlose Jugendliche.«
Verwundert zog ich die Augenbrauen hoch. Ich hatte wirklich damit gerechnet, dass er nur Angst hatte, mir zu sagen, dass er mich jemandem noch nicht vorstellen wollte. Das hätte ich verstanden, aber diese Antwort verwirrte mich. Warum fiel es ihm so schwer, mir das zu sagen?
Noch immer war ich gereizt. »Ich wusste ja nicht, dass du auch so einer bist, der einmal im Jahr plötzlich seine soziale Ader entdeckt. Tut mir leid, dass ich gehofft hatte, dass du am Abend Zeit für mich haben würdest.«
Ich wollte mich losreißen, doch Peter hielt mich weiter fest. »Isaac! Es ist okay, wenn du böse bist, weil ich keine Zeit habe. Aber es ist nicht zu ändern! Mat verlässt sich auf mich. Und die Jungs liegen mir wirklich am Herzen. Gerade an solchen Tagen brauchen sie jemanden, der für sie da ist und zu dem sie vertrauen haben. Wenn ich ihnen jetzt sage, dass ich nicht für sie da sein kann, weil mir jemand anders wichtiger ist, dann muss ich wieder von vorne anfangen, mir ihr Vertrauen zu erarbeiten. Ich würde wirklich gerne mit dir feiern, aber es geht nicht!«
Er ließ mich los und ich stampfte in die Küche, um meine Reste in den Kühlschrank und mein Besteck in den Spüler zu räumen. Dann nahm ich mir meine Schullektüre und setzte mich zum Lesen auf die Couch. Noch immer war ich wütend. Ich konnte nicht wirklich sagen worauf. Ich verstand einfach nicht, warum er nicht gesagt hatte, dass er ehrenamtlich verpflichtet war. Und irgendwie störte mich auch der Grund. Er konnte den Jugendlichen nicht sagen, dass jemand anders ihm wichtiger war? Dabei tat er doch genau das jetzt bei mir. Hieß das, ich war ihm nicht wichtig genug? Zumindest nicht so wichtig wie diese Jugendlichen?
»Kann ich Nachrichten anmachen?« Peter hatte wohl fertig gegessen und setzte sich in den Sessel.
Ich nickte nur.
Eine Weile dudelte der Fernseher vor sich hin. Ich konzentrierte mich weiter auf mein Buch, es schien nichts Interessantes passiert zu sein.
Nachdem die Nachrichten zu Ende waren, schaltete Peter wieder aus. Ich konnte spüren, dass er mich ansah, versuchte aber, es zu ignorieren. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass er sich unruhig über den tätowierten Arm kratzte.
Ich hielt diese unangenehme Stille nicht mehr aus und klappte das Buch zu. »Kannst du nicht später nachkommen?«
Er hörte auf zu kratzen und sah mich direkt an. »Kann ich, aber es wird ziemlich spät werden und ich kann dir noch nicht sagen wie spät. Gerade an solchen Feiertagen kommt immer irgendwas Unerwartetes dazwischen.«
Wenigstens sagte er nicht direkt Nein. Trotzdem gefiel mir die Antwort nicht. Ich hatte immer noch das Gefühl, dass ihn etwas störte. »Wir müssen ja auch nicht bei meinen Eltern feiern. Wenn es dir lieber ist, können wir zu deinen.«
Ein kurzes, amüsiertes Lächeln glitt über sein Gesicht. »Wenn du mal jemanden vor Schreck tot umfallen sehen willst, können wir auch zu meinen Eltern. Dann mach dich aber darauf gefasst, dass sie auch nicht vor Schusswaffengebrauch zurückschrecken, um uns davonzujagen.«
»Klingt doch einladend.« Ich lächelte ihn an.
Er lächelte zurück und streckte den Arm nach mir aus. Ich verstand das Angebot und nahm es gerne an. Schnell kletterte ich zu ihm auf den Sessel und kuschelte mich an ihn. Eine Weile streichelte er mir einfach nur über den Rücken.
Ich genoss die Berührungen und meine Wut auf ihn klang langsam ab. Dennoch blieb eine Frage: »Warum hast du nicht einfach gleich gesagt, dass du ehrenamtlich helfen willst?«
Wieder schwieg er und starrte in die Luft. Ich gab schon die Hoffnung auf, eine Antwort zu bekommen, als er endlich wieder sprach: »Ich hatte Angst, wie du reagierst, wenn ich dir sage, dass Mat und ich uns um die Jugendlichen kümmern.«
»Warum? Also wieso sollte ich negativ reagieren? Ist doch schön, wenn ihr euch um sie kümmert. Wenn du gleich was gesagt hättest, wäre ich sicher auch nicht so böse geworden. Tut mir leid.« Ich küsste ihn sanft auf die Wange, was ihn zum Lächeln brachte. Ich mochte es, dass er solche kleinen Zärtlichkeiten genauso genießen konnte wie ich.
»Ich wollte nicht, dass du glaubst, dass du nur hier bist, weil ich mich um kleine Streuner sorge. Du bist ja selbst noch so jung. Zum Teil jünger als diese Jungs. Und da hatte ich Angst, dass du glaubst, ich sehe dich als einen von ihnen und hätte dir nur deshalb angeboten hierzubleiben. Tut mir leid, ich wollte dir nichts verheimlichen. Ich wusste nur nicht, wie ich es dir vernünftig beibringen sollte.« Er drückte mich die ganze Zeit kräftig an sich, als befürchte er, ich würde gleich aufspringen und davonlaufen.
Und tatsächlich beunruhigte mich seine Aussage. Jetzt, wo ich in Ruhe darüber nachdachte, hatte er mit dieser Angst vielleicht recht. Ich war ein Streuner gewesen und wie er selbst sagte: Ich war noch nicht erwachsen. Konnte ich mir wirklich sicher sein, dass es nichts damit zu tun hatte, dass ich hier auf seinem Schoß saß und von ihm gehalten wurde?
Eine Weile schwieg ich, dann drückte ich mich leicht von ihm ab, um in sein Gesicht sehen zu können. »Und das hat sicher nichts miteinander zu tun?«
»Ja ... Nein ... Isaac, ich will dich nicht anlügen ... Ich weiß nicht, ob ich dir das angeboten hätte, wenn ich nicht mit den Kids arbeiten würde. Ich hätte vermutlich nicht mal erkannt, dass du Hilfe brauchst. Also ja, vermutlich hat mein Angebot, dass du hier wohnen kannst, etwas damit zu tun. Aber du bist dennoch etwas ganz Besonderes für mich. Denn dass ich mich in dich verliebt habe, hat ganz sicher nichts mit der Arbeit zu tun.« Er hatte mir die ganze Zeit fest in die Augen gesehen, doch bei seinen letzten Sätzen war sein Blick immer zärtlicher geworden. Als er fertig gesprochen hatte, zog er mich am Nacken zu seinem Gesicht und küsste mich zärtlich.
Während sich seine Zunge vorsichtig und doch fordernd zwischen meine Lippen schob, verblassten meine Sorgen allmählich. Als dann auch noch seine Finger den Weg unter meinen Pullover fanden und sanft meine Haut streichelten, waren sie in Luft aufgelöst. Dieser Kuss und das Streicheln sprachen ihre eigene Sprache. Jeder Zentimeter seines Körpers, der meinen berührte, strahlte seine Gefühle für mich aus. Ich ließ mich darin fallen.
»Vielleicht sollten wir mal Kondome ins Wohnzimmer legen. Oder was meinst du?« Peter lag mit dem Kopf auf meinem Schulterblatt und streichelte mir leicht über Rücken und Flanken.
Wir hatten uns irgendwann aufgrund von Kondommangel ins Schlafzimmer verzogen und lagen nun nach dem Sex schon eine ganze Weile schweigend da. Mittlerweile hatte ich wieder angefangen zu grübeln, weshalb ich nur zustimmend murmelte.
Peter schien es zu bemerken. »Was ist los? Worüber denkst du nach?«
Ich rollte mich unter ihm auf den Rücken, um ihm wenigstens halbwegs ins Gesicht sehen zu können. »Hast du schon vorher mal darüber nachgedacht, einen der Jugendlichen hier einziehen zu lassen?«
»Dich lässt das Thema nicht los, hm?« Peter sah zu mir hoch und ich hoffte, dass er das Kopfschütteln im Halbdunkel erkennen konnte. Leise seufzte er und richtete sich auf, um mir bequemer ins Gesicht sehen zu können. »Ja, hab ich. Aber bei keinem Bestimmten, sondern einfach nur allgemein. Ich hab ja noch drüben das Zimmer, ob da einer unterkommen könnte.«
Stimmt, es gab ja hier oben noch eine dritte Tür. Ich war bisher davon ausgegangen, dass es sich um eine Abstellkammer handelte. »Und warum hast du das bisher nicht gemacht?«
»Ich könnte jetzt kitschig antworten, dass ich immer gehofft hatte, dass irgendwann der oder die Richtige für mich auftaucht und hier einzieht und ich dann nicht ein fremdes Kind hier haben wollte. Aber das ist es nicht. Die meisten der Jungs nehmen irgendwelche harten Drogen. Heroin, Meth, Crack, eigentlich jeden Scheiß. Hauptsache es macht high. Aber ich will das Zeug weder in meiner Wohnung noch im Club haben.« Seine Augen wanderten über seinen linken Arm. Ich hatte das Gefühl, hätte ich nicht leicht darüber gestrichen, wäre er mit den Gedanken abgeschweift. »Hätte einer von ihnen gesagt, dass er von dem Mist und der Straße wegwill und es wirklich ernst gemeint, hätte ich ihm wohl angeboten hierzubleiben. Aber ich hätte sicher sein müssen, dass er wirklich nichts von dem Dreck mitbringt.«
»Und Zombie?« Verwundert sah Peter mich an. Da er meine Frage nicht zu verstehen schien, präzisierte ich: »Würde er einen aufnehmen?«
»Ach so. Du warst wahrscheinlich noch nie bei ihm.« Er grinste mich an, während ich den Kopf schüttelte. »Er hat nur ein Zwei-Zimmer-Appartement. Da wäre kein Platz.«
»Und wie lange macht ihr das schon? Und nur an Thanksgiving oder bist du an allen Feiertagen beschäftigt? Gebt ihr denen nur Essen?« Ich wollte einfach mehr über Peter erfahren und was er so tat. Es wurmte mich wirklich, dass ich bisher nichts darüber gewusst hatte.
»Essen teilen wir nur an den Feiertagen aus, ansonsten sind sie zu stolz, etwas umsonst anzunehmen.« Leicht schmunzelte er und ich wusste genau, was er dachte.
Er erzählte, dass er und Zombie sich schon seit über fünf Jahren um die Jugendlichen kümmerten. Sie waren mindestens einmal die Woche bei ihnen und waren meistens Ansprechpartner für Probleme. Zombie versorgte sie auch notdürftig medizinisch. An Feiertagen hatten sie wohl auch immer einen Arzt mit, der sich dann kümmerte. Dieser war angeblich auch nötig, da es wohl gerade an diesen Tagen mehr und stärkere Verletzungen gab. Ich fragte mich, woher das kam, stellte die Frage aber nicht. Dafür sprach Peter zu schnell weiter. Durch das Gespräch verstand ich immer mehr, was Zulu gemeint hatte, als er behauptet hatte, ich hätte einen Sonderstatus bei Peter, weil ich zu Hause nicht gern gesehen war.
»Kann ich mal mitkommen?«, fragte ich, nachdem Peter mir einiges erzählt hatte.
Einen Moment überlegte er, dann wog er zweifelnd den Kopf. »Ich glaub eher nicht. Du bist noch zu jung. Sie würden dich nicht ernstnehmen. Außerdem sind sie arg misstrauisch und würden dich kaum mit zu ihren Aufenthaltsorten lassen. Ich besprech das mal mit Mat, aber ich denke, dass es eher eine schlechte Idee ist.«
»Mhm«, grummelte ich. Ich war mit der Antwort nicht zufrieden, aber ich wollte mich auch nicht schon wieder mit ihm streiten. Vielleicht überlegte er es sich ja noch mal.
Wir kuschelten noch eine Weile, dann schliefen wir ein.