Als Peter gerade unter der Dusche stand, klingelte es. Ich brachte die Reste vom Frühstück in die Küche und begab mich dann zur Tür. Wie erwartet, stand Zombie davor. »Hi, frohe Weihnachten. Peter ist grad noch unter der Dusche. Komm ruhig rein.«
»Hallo, Wichtel, dir auch frohe Weihnachten. Ich weiß schon, warum ich extra früher hier bin. Gut, dass wir erst in zwei Stunden da sein müssen.« Er zog mich zur Begrüßung an sich, was mir einen Schauer durch den Körper jagte. Sein Mantel war eiskalt an meinem nackten Oberkörper.
»Achso, das hätte Peter ja ruhig sagen können. Dann hätten wir auch zusammen frühstücken können«, bemerkte ich, während wir nach oben gingen.
»Ich denk mal, es war schon ganz gut, dass ihr zu zweit gegessen habt. Ich hätte da sicher gestört.«
Mit einem vielsagenden Grinsen zuckte ich mit den Schultern und betrat die Wohnung. Hier war es deutlich angenehmer.
»Ist aber auch nicht schlimm, wenn wir früher da sind. Ist immer einiges vorzubereiten. Und was machst du heute?«
»Mal sehen. Peter meinte, der Probenraum müsste mal wieder komplett gereinigt werden, da würde er sich sicher drüber freuen. Ansonsten muss ich noch einiges für die Schule machen. Vielleicht schreib ich noch am ein oder anderen Lied oder les oder schau etwas fern. Mal sehen, irgendwie bekomm ich die Zeit schon rum.«
Mat hatte den Mantel im Flur gelassen und goss sich nun in der Küche eine Tasse Kaffee ein. »Du feierst also nicht mit deiner Familie? Warum nicht? Ich dachte, das hätte sich alles wieder eingerenkt.«
Ich ließ mich auf dem Sofa nieder, während er sich neben mich setzte. »Weil sie Peter nicht dabei haben wollen und lieber meinen Onkel und meine Tante einladen. Und allein geh ich da nicht hin. Schon gar nicht, wenn die da sind. Ich ruf nur gleich an, um ihnen frohe Weihnachten zu wünschen, das war’s dann.«
Verstehend nickte Zombie. »Sorry, dass ich dir deinen Freund am Feiertag entführe. Und was ist mit Lance? Oder feiert seine Familie Weihnachten dann doch lieber allein?«
»Nee, aber Lance ist bei Janine. Sie haben sich entschieden, ihn ihren Eltern vorzustellen. Und ohne Lance komm ich mir bei den Paynes doch irgendwie fehl am Platz vor, auch wenn sie mich trotzdem eingeladen haben. Und dich und Peter natürlich auch.« Ich grinste den Drummer an. »Ich hab dann aber höflich abgelehnt.«
»Sie waren also nicht allzu schockiert, dass Peter und ich dann doch älter waren, als sie vermutlich gedacht haben?« Lachend schüttelte ich den Kopf. »Gut. Freut mich, dass Lance ihre Eltern jetzt doch kennenlernt. Ich glaub kaum, dass sie etwas an ihm zu meckern finden. Also bleibst du zu Hause?«
»Ja, bleibt mir ja kaum was anderes übrig. Mitkommen darf ich ja nicht.« Herausfordernd grinste ich ihn an. Wir hatten das Thema bereits geklärt. Zombie meinte auch, dass ich noch zu jung wäre. Ich sah das etwas anders, immerhin konnte es ja vielleicht auch helfen, dass ich so jung war, aber ich konnte ihre Meinung nicht ändern.
»Nimm dir den Tag ruhig mal richtig frei. Mach dir einen Tee, setz dich mit einem Buch hin oder schau fern. Oder geh spazieren. Ruh dich einfach mal aus und schon deine Stimme, sie wird es dir danken. Hausaufgaben kannst du immer noch nach den Feiertagen machen und wegen dem Probenraum komm ich nächste Woche mal vorbei, dann machen wir das zu dritt. Vielleicht haben Anthony und Carla dann auch Zeit, um zu helfen. Das musst du wirklich nicht allein machen.«
»Mat hat recht, du hast dir wirklich einen freien Tag verdient. Entspann dich etwas. Du arbeitest von uns allen am meisten. Ich will nicht, dass du irgendwann zusammenbrichst.« Peter war im Bad fertig und nach unten gekommen. Er legte seine Arme von hinten um meinen Hals und küsste mir sanft den Nacken. »Und zieh dir was an, sonst wirst du noch krank. Du bist schon ganz kalt. Ich mach dir gleich noch einen Tee.«
»Jaja, schon gut«, stöhnte ich genervt, während ich aber doch aufstand. »Außerdem arbeiten Angel und Zulu genauso viel.«
»Die beiden können sich aber ihre Arbeitszeiten selbst einteilen. Du hast ja noch den Gesangsunterricht und die Schule. Seitdem wir im Studio sind, hattest du keine freie Minute. Tu mir den Gefallen und mach dir einen ruhigen Tag«, forderte er noch einmal eindringlich.
Ich rollte mit den Augen und ging nach oben. Manchmal tat er, als wäre ich ein kleines Kind. Ich wusste doch selbst, wann ich eine Pause brauchte. Und bisher war alles gut.
Ich ging ins Schlafzimmer und suchte mir einen gemütlichen Pullover, mit dem es sich auf der Couch aushalten ließ. Dann ging ich ins Bad, um mich frisch zu machen, da ich es nach dem Essen Peter erst einmal überlassen hatte, damit er fertig wurde.
Als ich wieder nach unten kam, räumte Zombie gerade seine Tasse in die Spülmaschine, während ich Peters Stimme aus dem Flur hörte. Sie besprachen noch etwas für die Arbeit, wobei ich nicht wirklich hinhörte. Ich ging in die Küche und sah nach dem Tee. Er war aufgegossen und daneben tickte eine Eieruhr. Also blieb mir tatsächlich nichts mehr zu tun – außer zu warten und den Tag herumzubekommen.
Ich nahm das Festnetztelefon und suchte dann das Buch, mit dem ich immer noch nicht ganz durch war. Beides legte ich auf den Couchtisch und wickelte mich in eine Decke.
Peter kam mit Stiefeln und Mantel noch einmal in den Raum und entsorgte die Teebeutel, da in dem Moment auch die Eieruhr klingelte. Die Kanne und eine Tasse brachte er zu mir. »So ist brav. Brauchst du noch was?«
»Hast du vielleicht noch einen Tipp, was ich danach lesen könnte?« Ich hielt das Buch hoch.
»Hmm ... Was Ähnliches oder worauf hättest du Lust?«
»Hast du auch was ... leichteres? Nicht so psychomäßig?«
Ich hörte Zombie im Flur lachen und er steckte den Kopf um die Ecke. »Wenn du nicht gerade einen Krimi als leichter bezeichnest, dann suchst du bei Peter umsonst. Schau mal oben im Kinderzimmer, ich hab ein paar Bücher hiergelassen beim Umzug. Vielleicht ist da was dabei. Wenn du es noch nicht kennst: Per Anhalter durch die Galaxis kann ich dir empfehlen.«
»Okay, danke. Ich schau es mir mal an.« Ich hatte es fast befürchtet, dass ich bei Peter kaum etwas anderes finden würde. Das hatte ich schon beim ersten Mal gesehen, als ich mir Dreamcatcher ausgesucht hatte. Ich hatte nur gehofft, dass ich vielleicht etwas übersehen hatte.
»Schön, dann können wir dich allein lassen? Mach dir einen schönen Tag. Ich schreib dir, wenn wir fertig sind. Wir kommen dich abholen.« Peter gab mir zum Abschied einen Kuss. »Hast du dein Handy da?«
»Oh.«
Peter küsste mich mit einem Grinsen auf die Stirn und ging dann die Treppe noch einmal nach oben. Mit meinem Handy kam er wieder und legte es ebenfalls auf den Tisch. »Dann bis heute Abend.«
»Tschüss und viel Erfolg«, rief ich beiden noch nach, als sie die Wohnung verließen.
Dann war es still in der Wohnung. So hatte ich mir Weihnachten nie vorgestellt. Allein. Und dennoch war es besser, als wäre ich zu meinen Eltern gefahren. Ich stand noch einmal auf, um ein Kopfkissen aus dem Schlafzimmer zu holen, welches ich mir auf der Couch in den Rücken klemmte. Auf dem Festnetztelefon wählte ich Dads Nummer.
»Valentine«, meldete sich Rose nach kurzem Klingeln.
»Frohe Weihnachten. Ist Dad zu sprechen? Sonst ruf ich später nochmal an.«
»Nein, er ist da.«
Ich hörte, wie das Telefon weitergereicht wurde. Dann erklang Dads Stimme: »Isaac? Frohe Weihnachten.«
»Wünsche ich dir auch. Ich hoffe, ich störe nicht? Ich wollte euch nur einen schönen Feiertag wünschen und mich fürs Geschenk bedanken.« Ich war gestern kurz dort gewesen, bevor Dave aus der Schule gekommen war, und hatte ein Geschenk für ihn vorbeigebracht. Bei der Gelegenheit hatte mir Dad auch einen Umschlag übergeben. Ich hatte ihn schon in der Nacht geöffnet. Darin hatten sich hundert Dollar befunden.
»Nein, tust du nicht. Ich freue mich, dass du anrufst. Wir essen erst in einer halben Stunde. Bryan und Maria ruhen sich gerade noch etwas aus und Dave spielt im Wohnzimmer. Magst du ihn auch kurz sprechen?«
»Ja gern.« Ich hatte schon einen Kommentar wegen Rose auf den Lippen, doch ich verkniff ihn mir lieber. Dafür schob ich noch hinterher: »Grüßt du mir bitte auch Marie und sagst ihr frohe Weihnachten von mir?«
Ich verstand seine Antwort nicht mehr, denn Dave riss wohl das Telefon an sich. »Hallo, Isi!«
»Hallo, frohe Weihnachten, Knirps. Du bist schon fleißig am Spielen?«
»Ja! Der Weihnachtsmann hat mir ein neues Pokémon-Spiel gebracht! Da hab ich schon zu Anfang Pikachu! Das ist total toll!«
Gut, ich war mir nicht sicher gewesen, ob sie ihm mein Geschenk wirklich zukommen ließen. Und es schien ihm so gut zu gefallen, wie erhofft. »Hast du denn noch was anderes bekommen?«
»Ja, ein neues Fahrrad, aber damit darf ich noch nicht fahren. Dad hat gesagt, dass es noch nicht fertig ist. ... Und ich hab einen Pullover bekommen.« Dave senkte die Stimme, bevor er weitersprach: »Der ist aber total doof. Da ist so ein blödes Rentier drauf, mit so einer blöden Nase und einem Schal, die total abstehen. Und der kratzt voll! Mum und Dad haben gesagt, ich muss ihn trotzdem heute anziehen. Warum lassen Onkel Bryan und Tante Maria die doofen Sachen, die der Weihnachtsmann immer zu ihnen bringt, nicht einfach zu Hause?«
Ich musste mir ein Lachen verkneifen, denn ich wusste, wie hässlich und kitschig die Sachen waren, die Bryan und Maria verschenkten. Früher hatte ich die Sachen auch immer gleich anziehen müssen, weil ich ja sooo süß darin aussah – nicht! Dave tat mir leid, dennoch konnte ich nicht mehr tun, als ihn etwas aufzumuntern. »Hey, es ist doch nur heute Weihnachten, dann musst du ihn nicht mehr anziehen. Hast du denn noch was bekommen?«
»Hmm ... Ja! Ganz viele Süßigkeiten! Und gaaanz tolle Sportschuhe. Ich darf ab dem Frühling nämlich in den Leichtathletikclub, weißt du? Was genau macht man da eigentlich?«
Da ich selbst erst in der Mittelschule mit Leichtathletik angefangen hatte, konnte ich ihm nicht wirklich sagen, was man in der Grundschule machte, aber er schien dennoch angetan von den Disziplinen, die ich ihm erklärte. Ich war selbst nie gut genug gewesen, um bei Wettkämpfen teilzunehmen, daher hatte er auch nie einen solchen gesehen.
Als Dave zum Essen gerufen wurde, legten wir auf.
Nachdem ich das Buch fertig gelesen hatte, schaltete ich den Fernseher ein und sah mir die Kevin-Reihe an. Viel bekam ich davon nicht mit, denn ich schlief ein und erwachte erst, als mein Handy vibrierte. Ich hatte die Erholung wohl doch nötig gehabt. Dann war ich für das Weihnachtsessen, zu dem Angel und Zulu die Band eingeladen hatten, wenigstens fit.
Das war wohl so etwas wie eine Tradition, dass Angel die Jungs am Weihnachtsabend zum Essen zu sich einlud, die schon gepflegt wurde, seitdem sie der Band beigetreten war. Da sie selbst mittags bei der Familie war, genauso wie Zulu, und Peter und Zombie eben die ehrenamtliche Arbeit hatten, bot es sich so an. Aber es war das erste Mal, dass sie und Zulu gemeinsam einluden. Für sie war es wohl so etwas wie die offizielle Bekanntgabe ihrer Beziehung.
Als ich geduscht, geschminkt und angezogen aus dem Bad kam, konnte ich unten bereits Peter und Zombie miteinander reden hören. Ich ging nach unten, drückte meinem Freund mit einem Lächeln einen Kuss auf die Wange und setzte mich zu den beiden auf die Couch, die gerade noch rauchten. »Hey, na, alles ruhig gewesen?«
»Ja, ein paar Verletzungen und Erkältungen, eine Lungenentzündung, also nichts Ungewöhnliches für die Jahreszeit, sogar noch ziemlich wenig dieses Jahr«, antwortete Peter leicht nachdenklich.
»Es sind auch im Moment weniger auf der Straße als die letzten Jahre. Ist mir schon die letzten Wochen aufgefallen«, erklärte Zombie. »Es haben sich wohl dieses Jahr recht viele über den Winter einen Gönner gesucht. Slim hat vorhin erzählt, dass sich sogar Jelly und Chaos einen gesucht haben.«
»Oh, ich hab mich schon gefragt, wo die beiden abgeblieben sind. Dabei gehen die doch sonst nicht mal für eine Nacht mit. Das heißt, Slim ist jetzt allein unterwegs?«
»Nein, er hat sich wohl vorerst Caps Clique angeschlossen.«
Oh Mann, gut, dass ich mir diese ganzen Namen nicht merken musste.
»Und das geht gut?« Peter schien dabei sehr skeptisch.
Zombie zuckte mit den Schultern. »Im Moment geht es wohl und er ist ja trotzdem gekommen.«
»Zum Glück. Er sollte wirklich darüber nachdenken, ob er nicht doch in eine Einrichtung geht. Da kann er wenigstens Medikamente bekommen.«
»Und dann? Sterben wird er so oder so, da helfen die Medikamente auch nicht.« Zombie klang plötzlich aggressiver.
Interessierte es ihn denn gar nicht, dass einer der Jungen scheinbar schwer krank war? Oder reagierte er gerade deshalb so gereizt? Im Moment konnte ich ihn gar nicht einschätzen.
Peter sah ihm eindringlich in die Augen, während er erwiderte: »Ja, aber damit lebt er ein paar Jahre länger.«
»Toll, ein paar Jahre länger. Ein paar Jahre, in denen er sich von den sauteuren Medikamenten die Seele aus dem Leib kotzt, sich alle Organe kaputt macht und jeder ihm auf den ersten Blick ansieht, dass er dem Tode geweiht ist!« Zombie war tatsächlich lauter geworden, während er gesprochen hatte.
Die beiden schienen mich gar nicht mehr wahrzunehmen, denn ihre Blicke waren nur aufeinander gerichtet und zeigten, dass keiner von seinem Standpunkt abrücken würde.
Ruhig erwiderte Peter: »Jahre in denen vielleicht eine Heilung gefunden wird.«
»Klar, Heilung. Als würde sich jemand dafür interessieren ein paar Schwuchteln, Prostituierte und Junkies zu heilen. Die sind doch froh, uns los zu sein. Da wird sich nichts tun, Peter! Es wird keine Heilung geben! Hör auf, dir das einzureden!« Zombie stand auf und drückte die Zigarette mit Nachdruck im Aschenbecher aus. Als Peter etwas erwidern wollte, wurde er schon im Keim daran gehindert: »Nein, Peter! Ich diskutier mit dir nicht darüber!«
»Mat! In den letzten zehn Jahren hat sich einiges getan. Sei nicht so stur!« Nun wurde auch Peter laut und erhob sich ebenfalls.
Zombies Blick fiel kurz auf mich, er schien gerade erst zu bemerken, dass ich auch noch da war. »Das hier ist weder die richtige Zeit noch der richtige Ort, um darüber zu diskutieren. Es ist ... seine Entscheidung und nicht deine. Lass uns losgehen, wir wollen Carla und Anthony nicht allzu lange warten lassen.«
Zombie begab sich in den Flur, während Peter den Joint im Aschenbecher ausdrückte und sich hilflos durch die Haare fuhr. Dabei wanderte sein Blick zu mir und er lächelte leicht verlegen. »Komm, wir sollten wirklich los.«
Ich traute mich gar nicht, zu widersprechen oder sonst etwas zu sagen, sondern stand auf und begab mich in den Flur, um Schuhe und Mantel anzuziehen. Peter tat es mir gleich.
Zombie hatte die Wohnung bereits verlassen und wir holten ihn unten an der Tür ein, wo er mit einer neuen Zigarette in der Hand auf uns wartete.
»Outside your door
Outside your window
Forgotten hearts
Stay in the dark without hope«
The Illusion Fades – The Christmas Song