Ich erwachte am nächsten Morgen vom Piepsen eines Weckers. Grummelnd öffnete ich die Augen. Ich wollte noch nicht aufwachen, denn ich hatte von Marie geträumt.
Natürlich hatte ich von Marie geträumt, was erwartete ich denn auch nach dem, was am Vorabend geschehen war?
June neben mir stand auf und beendete das Piepsen, bevor sie ohne ein Wort ins Bad verschwand.
Nachdem ich mich noch ein paar Mal hin und her gewälzt hatte, stand ich ebenfalls auf und zog mich an.
»Willst du noch einen Kaffee?« Ich war gerade mit Anziehen fertig, da kam sie aus dem Bad. Ich nickte nur, denn so wirklich wusste ich nicht, was ich sagen sollte. »Dann komm mit in die Küche. Du kannst auch noch eine Kleinigkeit essen. Ich muss nur gleich zur Arbeit.«
»Danke, Kaffee reicht.« Ich nahm meinen Koffer vom Schrank weg, damit sie sich Klamotten suchen konnte.
Nachdem sie auch wieder angezogen war, folgte ich ihr in die Küche, wo sie die Kaffeemaschine anstellte. Ich setzte mich an den Tresen und wartete, während sie sich ein Toast schmierte. Ich hatte absolut keinen Appetit.
Als die Maschine fertig war, setzte sie sich mir gegenüber und schob mir eine Tasse herüber. Ich nickte dankend. »Sag mal, Isaac. Bist du sicher, dass du nicht schwul bist?«
Ich verschüttete fast meinen Kaffee. Verwirrt sah ich sie an. »Ja. Wie kommst du darauf?«
»Na ja« Sie klang sehr verlegen. »So wie du Toby immer ansiehst ...«
Ich spuckte fast meinen Kaffee wieder aus. Ich musste sie einfach unterbrechen. »Hör mal, Toby ist ein attraktiver Kerl, ja klar, schau ich ihn gern an, aber das tun viele.«
Skeptisch zog sie die Augenbrauen zusammen, schien mir nicht zu glauben. »Aber die wenigsten bekommen von ihm so viel Aufmerksamkeit wie du. Außerdem hatte ich gestern nicht das Gefühl, dass es dir gefallen hat.« Sie biss sich auf die Unterlippe.
Bevor ich antwortete, seufzte ich und verschaffte mir so Zeit, um kurz über meine Worte nachzudenken. »Dass es mir nicht so gut gefallen hat, hat weder mit dir noch damit zu tun, dass ich auch auf Kerle stehe. Ich mag einfach härteren Sex. Das ist alles.«
»Du stehst also doch auf Kerle!«
War das wirklich alles, was sie aus meiner Aussage herauszog? Ich zuckte als Antwort nur nickend mit den Schultern.
Sie sah mich nun verschwörerisch an. »Und dir gefällt Toby?«
Wieder zuckte ich mit den Schultern. »Ja, hab ich doch gesagt.«
»Du bist mit ihm befreundet, oder? Hättest du gern mehr?« Mit gefiel nicht, dass sie immer mehr aussah, als würde sie mit mir einen Banküberfall planen. Und was sollte dieses Kreuzverhör?
Ich sah allerdings auch keinen Grund, sie mehr als nötig zu belügen. »Ich kann nicht behaupten, dass ich mich nicht gern mal von ihm flachlegen lassen würde, ja. Aber das ist doch egal. Er hat Roger. Und ich mag sie beide.«
»Du könntest dich ja einfach mal an ihn ranmachen.« Jetzt wurde ihr Grinsen breiter und ihre Augen funkelten verdächtig. Sie zwinkerte mir zu. »Ich weiß, dass er und Roger nebenbei noch Sachen laufen haben. Ich glaub ...«
Ich spuckte den Schluck Kaffee, den ich gerade genommen hatte, wieder in die Tasse zurück. Ich sprach das Erste aus, was mir in den Kopf kam: »Woher weißt du das?!«
»Es stimmt also? Schwule tratschen gern. Ich höre häufiger mal Gerüchte, dass einer von beiden gesehen wurde, wie er einen Kerl abgeschleppt hat. Und so häufig, wie ich das höre, glaube ich nicht an reine Gerüchte.« Sie sah mich durchdringlich an.
Ich beschloss, den beiden von dem Gespräch zu erzählen. Ich traf mich am nächsten Tag eh mit Roger – das Training von Samstag nachholen – dann könnte ich ihm das sagen.
Doch für den Moment fand ich Angriff die beste Verteidigung. »Ich glaub nicht, dass dich das Liebesleben deines Bosses etwas angeht.«
Kurz zog sie einen Schmollmund, dann grinste sie wieder breit. »Ha, es stimmt! Du hast es nicht abgestritten. Und du scheinst die beiden sehr gut zu kennen.« Ich konnte einfach nichts mehr erwidern und suche nach einer Möglichkeit, dem unangenehmen Thema auszuweichen, während sie mich musterte. Dann blitzte plötzlich Erkenntnis in ihren Augen auf und sie schnappte hörbar nach Luft. »Du ... Er ... Toby ... Ihr hattet schon mal Sex! Deswegen schaut ihr euch so an!«
»Ich sollte gehen. Ich hab noch was vor und keine Zeit, zum Gerüchte erörtern.« Verdammt, warum hatte ich das Gespräch nicht gleich abgeblockt? Ich stand auf und schnappte mir auf dem Weg zur Wohnungstür meinen Gitarrenkoffer.
»Isaac, warte.« Sie kam mir nachgelaufen und legte eine Hand auf meinen Arm. »Keine Sorge, ich erzähl niemandem davon. Ich weiß schon länger von den Gerüchten und wollte einfach mal bei jemandem nachfragen, der es wissen könnte. Ich dachte nicht, dass ... Ich hätte es mir denken sollen. Tut mir leid.«
Ich nickte und drehte mich um. »Ich werd den beiden von den Gerüchten erzählen. Immerhin betrifft es sie.« Damit verließ ich ihre Wohnung.
»Ist da noch frei?«, fragte mich eine angenehm tiefe Männerstimme.
Ohne von meinem schwarzen Heftchen aufzusehen, zog ich den Gitarrenkoffer von der Bank.
Ich hörte ein Lächeln in der Stimme, als er sich setzte. »Danke.«
Ich hatte mich in den Common begeben, nachdem ich bei June abgehauen war. Nach solchen aufwühlenden Aktionen war ich immer am produktivsten. Daher schrieb ich weiter in meinem Notizheft und beachtete die Person neben mir überhaupt nicht.
Doch die melodische Stimme riss mich erneut aus den Gedanken: »Wo ist denn dein Freund?«
Jetzt sah ich doch auf. Neben mir saß ein recht schmächtiger, androgyn wirkender Mann, vielleicht Mitte zwanzig, in enger schwarzer Jeans und schwarzem Muskelshirt, der mich neugierig musterte und auf eine Antwort wartete. Sein linker Arm war vollständig tätowiert und so weit ich das sehen konnte, war auch der rechte verziert. Durch seine linke Augenbraue war ein Piercing gestochen, seine Ohren wurden von Tunneln geziert, sein Hals von einem dünnen Lederband. Auf seiner Nase saß eine dunkle Sonnenbrille, durch die sein Blick nicht zu erkennen war. Die Haare waren schwarz gefärbt und etwas mehr als schulterlang. Zumindest an der Seite, an der er sie sich nicht abrasiert hatte. Irgendwie kam er mir bekannt vor. Ich dachte, ich hätte ihn schonmal gesehen, konnte ihn aber nicht zuordnen.
Aber er schien zu wissen, wer ich war. »Sie meinen Lance?«
»Wenn der Rotschopf, mit dem du sonst hier bist, so heißt, ja.« Er nickte und reichte mir dann seine Hand. »Peter. Ich hab euch schon häufiger hier im Park spielen hören. Wie kommt’s, dass du heute allein bist? Und zwar deine Gitarre mit hast, aber nicht ein Ton deine Kehle verlässt?«
»Isaac.« Skeptisch schüttelte ich die dargebotene Hand. Sein Händedruck war angenehm fest, aber er zerquetschte mir auch nicht die Hand. »Lance kommt später, wir sind erst für Nachmittag verabredet. Ich wollte die frische Luft genießen.«
»Mhm.« Er klang nicht gerade, als würde er mir glauben, aber als würde er die Antwort akzeptieren. »Das heißt, du hast noch etwas Zeit? Ich würde gerne ausnutzen, dass dein Freund noch nicht da ist, und mich mit dir unterhalten.«
Warum nicht. Ich hatte eh nichts zu tun. Zumal er sympathisch wirkte, auch wenn ich ihn noch nicht ganz einschätzen konnte.
Ich steckte mein Heftchen und den Stift in die Hosentasche.
»Schön. Komm mit, ich kenn ein gutes Café hier um die Ecke. Hast du schon gefrühstückt? Ich lad dich ein, wenn du magst.« Er stand auf und schenkte mir ein bezauberndes Lächeln.
Wirklich? Ich dachte jetzt schon von einem Mann, dass er ein bezauberndes Lächeln hatte? Wurde ich doch schwul? Ich schüttelte innerlich den Kopf über er mich selbst und musste schmunzeln.
Ich stand ebenfalls auf und griff nach meiner Gitarre. Zurücklächelnd antwortete ich: »Nein, ich hab bisher nur einen Kaffee getrunken. Also sehr gern, danke.«
Er führte mich in ein kleines Café direkt am Park. Wegen des schönen Wetters waren alle Plätze draußen belegt und wir suchten uns im Inneren einen Tisch.
Er entschied sich für einen Zweiertisch in der Ecke. Nachdem er sich gesetzt hatte, nahm er seine Sonnenbrille ab und steckte sie sich an den Kragen. Es kamen unglaublich grüne Augen zum Vorschein, die dunkel und stilvoll geschminkt waren. Schlecht sah er wirklich nicht aus. Die Tattoos gaben ihm ein verwegenes Aussehen, auf dem Weg hatte ich gesehen, dass der rechte Arm nur an der Schulter tätowiert war.
Was war eigentlich mit mir los? Vor ein paar Monaten hatte ich noch Schiss, überhaupt mit Männern ins Gespräch zu kommen, und jetzt ging ich mit einem Wildfremden, der mich auf einer Parkbank ansprach, frühstücken. Mir gefiel diese Entwicklung!
Wir bestellten jeweils ein Frühstück und Kaffee dazu. Nachdem die Bedienung unser Essen gebracht hatte, musterte er mich.
Ich legte den Kopf leicht schief und wartete ab, was er sagen wollte. Ich hätte sowieso nicht gewusst, was ich sagen sollte.
Einen Moment schien er noch unsicher, dann öffnete er den Mund und wieder erklang diese unglaublich schöne Stimme: »Wie lange singst du eigentlich schon?«
Die Frage überraschte mich etwas, aber gut, er wollte eben an etwas anknüpfen, dass er von mir schon wusste. Einen Moment überlegte ich. »Eigentlich schon so lange ich sprechen kann. Meine Mutter war sehr musikalisch und ich hab wohl ihre Leidenschaft geerbt. Aber eigentlich immer eher als Hobby. Ich hab mal etwa fünf Jahre lang Gesangsunterricht beim Vater eines Freundes genommen, aber das ist schon ein paar Jahre her.«
Aufmerksam musterte er mich. Ich hoffte, dass ich jetzt nicht zu viel gesagt hatte. »Dafür singst du aber echt gut. Scheinst Talent zu haben. Schon mal daran gedacht, da mehr draus zu machen?«
Ich zog die Stirn nachdenklich in Falten. Das klang nicht nach flirten. Ich war davon ausgegangen, dass das der Grund für die Einladung war.
Ich antwortete vorsichtig: »Im Moment bereite ich mich aufs College vor. Ich will auf die Boston University. Danach muss ich mal schauen. Aber ja, ich wollte schon was damit anfangen. Lance und ich wollen später am liebsten zusammen in einer Band spielen.«
Nachdenklich nickte er. »Was willst du denn studieren?«
War das nicht durch die vorherigen Antworten offensichtlich? Ich grinste spöttisch. »Maschinenbau. Nein, natürlich Performance. Falls es mit einem eigenen Projekt nicht klappt, dann kann ich mich noch irgendwo anstellen lassen.«
»Dann ist die BU wirklich eine gute Wahl.« Er lächelte mich gewinnend an. »Was wollt ihr denn machen, wenn ihr was Eigenes auf die Beine stellt?«
Diesmal war es an mir, ihn zu mustern. Und ich tat es ziemlich offensichtlich. »Meinen Sie das ernst? Ich dachte, Sie hätten uns zugehört?«
Ein verwegenes Grinsen legte sich auf sein Gesicht. »Du kannst mich duzen, so alt bin ich auch noch nicht. Ihr wollt also klassische Musik mit Gitarren performen?«
Ich seufzte genervt und verdrehte die Augen. »Nein, das ist nur mein Lied für die Aufnahmeprüfung.«
»Ich dachte es mir schon. Wie wichtig ist es dir, dass du das Projekt mit deinem Freund zusammen machst?« Er klang vorsichtig, als er die Frage stellte.
Ich zog eine Augenbraue hoch. Es wurde wohl Zeit, dass ich mal ein paar Fragen stellte: »Worauf soll dieses Gespräch hinauslaufen? Und ja, ich würde auch im Notfall ohne Lance etwas machen und dann schauen, dass ich ihm irgendwie helfe.«
»Du weißt, was du willst und was dir wichtig ist, oder? Ich mag die Einstellung.« Ein zufriedenes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Ich such einen neuen Sänger für meine Band. Ich hab dich schon häufiger hier im Common gehört, aber noch keine Gelegenheit gehabt, dich allein anzusprechen. Kannst du dir vorstellen, in einer Goth Rock-Band zu singen?«
Ich sah ihn überrascht an. Es dauerte einen Moment, bevor ich meine Sprache wiederfand. »Klar.«
»Cool, dann komm doch Donnerstag um 18 Uhr im Exile vorbei, dann können wir schauen, ob es harmoniert mit der Band und dir. Du weißt, wo das ist?« Er war aufgestanden und legte Geld für unser Essen auf den Tisch. Ich schüttelte den Kopf. Mir eine Visitenkarte reichend, erklärte er mir den Weg. Dann verabschiedete er sich: »Falls dir doch noch was dazwischen kommt, ruf an.«
»Mach ich. Bye.«
Er hatte sich schon umgedreht und hob die Hand zum Gruß. Bevor er aus dem Café trat, setzte er seine Sonnenbrille wieder auf.
»Und der hat dich einfach so gefragt, ob du bei denen mitmachst?« Lance schien sich fast mehr über das zu freuen, was am Morgen vorgefallen war, als ich selbst. Ich war noch zu perplex. Dabei hatte ich gedacht, dass dieser geile Typ nur mit mir flirten wollte.
»Ja. Er meinte, er hätte nur auf ’ne Gelegenheit gewartet, mich alleine zu fragen.« Ich zuckte mit den Schultern.
»Dann hat er ja wirklich Glück gehabt.« Lance strahlte über das ganze Gesicht. »Warum warst du überhaupt so früh schon hier?«
Kurz erzählte ich ihm von dem Gespräch mit June.
Auch ihm fiel nicht mehr viel dazu ein. »Das ist Mist. Aber gut, dass du es morgen Roger erzählst, ich glaub, es ist ihnen wirklich wichtig, dass keiner von ihrer offenen Beziehung weiß. Wie war denn Date bis dahin?«
Ich hatte bisher weggelassen, dass das Gespräch nur aufgrund des schlechten Sexes stattgefunden hatte. »Hmm. Das Date eigentlich echt gut. Wir haben uns viel unterhalten und im Kino ist sie mir dann etwas nähergekommen. Hat gefragt, ob ich ihr nicht noch ’n Gute-Nacht-Lied singe. War ziemlich eindeutig, was sie wollte. Hab dann eingewilligt, ihr tatsächlich noch was vorgesungen und dann sind wir im Bett gelandet.«
Lance sog zischend Luft ein. »Meinst du, das war ’ne gute Idee? Immerhin arbeitet sie für Toby.«
»Ich hab ihr vorher gesagt, dass ich nichts Festes will.« Ich zuckte mit den Schultern. »Es war für sie okay.«
Lächelnd schüttelte Lance den Kopf. »Das sagen sie immer und dann sind sie doch böse, wenn es nur dabei bleibt. So sind Frauen einfach. Sie hoffen, dich mit ihren Künsten im Bett rumzukriegen.«
Ich musste wirklich aufpassen nicht loszulachen. »Ich glaub nicht, dass das diesmal der Fall ist. Sie hat mich danach gefragt, ob ich mir sicher bin, dass ich nicht doch schwul bin.«
»Hast du keinen hochgekriegt, oder was?«, fragte Lance hämisch.
»Nein!« Ich schlug ihm kräftig gegen die Schulter. »Es war einfach ... es hat mir nur einfach nicht wirklich gefallen und das hat sie wohl bemerkt.« Mehr wollte ich nicht ins Detail gehen. Bei einer Unbekannten hätte ich vielleicht mehr erzählt, aber so wollte ich das weder ihr noch mir antun.
»So schlimm?« Lance klang schon fast besorgt. Ich nickte einfach nur. »Wenn ich dir irgendwelche Tipps geben soll, dann sag es nur.«
»Nein, schon gut. Wir stehen nur einfach auf verschiedene Sachen. Ich mag da nicht näher ins Detail gehen.« Lance zuckte nur verstehend mit der Schulter. »Wollen wir nicht lieber anfangen?«
»Hast du dann mit der neuen Band überhaupt noch Zeit mit mir zu üben?« Er grinste hämisch und nahm seine Gitarre zur Hand.
»Für dich hab ich immer Zeit.« Ich wusste, dass er es nicht so ernst meinte und dennoch fragte ich mich, ob nicht etwas Wahres dran war. Wie wäre es, wenn sich unser gemeinsamer Traum nur für einen von uns erfüllte?