Nach einem Flug durch die Spirale aus Licht und Leid purzelten Sichelgaita und Lucifer auf den Boden des Himmelsoktogons.
Fest umklammert hatte sie ihn, weil sie bemerkte, welch Qualen er litt.
Der Weg in den Himmel war für ihn nicht vorgesehen, aber doch nicht völlig versperrt. Wenn er bereit war, das auf sich zu nehmen, war ihm ein Ankommen gewiss, und in all den letzten Jahrhunderten hatte es nichts für ihn gegeben, wofür es sich derart zu leiden lohnte.
Doch nun war er bereit für seine Freunde und die Himmelsharmonie einzustehen. Jetzt lag er stöhnend da in den hängenden Rosengärten und rappelte sich auf. Sie half ihm, ließ aber den leuchtenden Blick schweifen über das, was unter ihnen lag und das sie als den Himmel kannte. Gleich einer Stadt mit fünfhundert goldübergossenen Kuppeln, auf die sie hinab starrte.
„Wo sind wir hier?“
Luce stand, die Handflächen auf den Oberschenkeln. Keuchend, sah er unter verschwitzt zerwühltem Blondhaar zu ihr auf. „Nenne es Stadtrand“, ächzte er, „Ein Statuenpark.“
Sie sah sich hier oben um. Ein Wind, als käme er von der See, trieb wehende Perlensäulen der Fontänen gegen die Statuen zwischen den Buchsbäumen und Sträuchern.
„Müssen wir runter in die Stadt?“, sie zuckte mit dem Daumen dorthin, „Um Lysanders Vater zu finden?“
Luce schüttelte den Kopf, rieb sich über das Gesicht und setzte zum Gehen an. „Der Eine hat mit der Verwaltung des Himmels nichts zu tun.“
Sie tänzelte neben ihm her, überholte ihn und stellte sich vor ihm auf. „Ja, das habe ich schon gemerkt! Dass das hier oben mit Gott und dem Heiland schon lange nichts mehr zu tun hat. Eine Unverschämtheit ist das!“
Er heftete seine dunkelblauen Augen mitleiderregend auf sie. „Mensch, Mädchen. Deshalb machen wir den Mist hier ja. Damit alles wieder in Ordnung kommt.“ Er setzte sein müdes Schlurfen fort. Hielt dann aber inne. „Kommst du? Wir können es uns nicht leisten, zu trödeln. Die da vorne“, er zeigte auf eine Theateraufführung am Rand einer Basilica, die von einer Gruppe glückselig strahlender Menschengestalten bewundert wurde, „Wenn sie mich sehen...“
Weiter kamen sie nicht, denn andere sahen sie.
„Ergreift sie!“, brüllte ein Bewaffneter und sofort stürzte sich eine Schar auf sie. Zum Nachdenken verblieb keine Zeit.
Sie rannten.
Luce’s Schulter schmerzte und seine Lunge brannte noch von der Röhrenreise, aber es half nichts. Sie durften ihn nicht erwischen, die Lakaien des Weltenlenkers, der an Gott vorbei die Geschicke lenkte. Der einen Verrat nach dem anderen begangen hatte.
Das peinliche Verhör, dem sie ihn unterziehen würden, um herauszufinden, wo der Weltenlenker war, mochte er sich nicht vorstellen.
Glücklicherweise hatte die Frau lange Beine und einen mächtigen Faustschlag, mit dem sie ihm eben einen Schergen vom Hals schaffte. Sie näherten sich der Zuschauergruppe. Obschon einer der Schauspieler in einer weißen Toga beim Deklarieren seines Textes eine Hand erhoben und den Finger wie ein Ausrufzeichen in die Luft streckte, drehten sich aller Köpfe zu ihnen hin. Von der Ablenkung der anderen irritiert, wandte auch der Schauspieler den Kopf. Mit einem Ausdruck des Entsetzens blieb er wie angewurzelt, als Luce, die Frau, verfolgt von einer Gruppe Himmelspolizisten auf ihn zu jagte.
Luce stürzte in ihn. Gemeinsam gingen sie zu Boden und das Weiß seiner Toga umflatterte sie wie ein Schiffsegel auf dem Ozean. Luce richtete sich gerade rechtzeitig auf, um den Anführer auf sich stürzen zu sehen, das Gesicht verzerrt in maßloser Wut. Die Zuschauer fingen zu kreischen an, sprangen auf, und ein Knäuel aus Leibern und Panik entstand. Mit einem Sprung befreite er sich aus dem Gewirr aus zappelnden Leibern, zerrte Sichelgaita am Handgelenk mit sich und sie sprangen einen Hügel hinab.
Unten schlugen sie sich durch das dichter werdende Geäst eines kleinen Wäldchens und entfernten sich immer weiter von dem Chaos. Er glaubte, seine Innereien würden explodieren vor Schmerz und Erschöpfung.
„Wohin..“, schnaufte die Frau, und er dachte: Bitte! Ich kann jetzt nicht reden. Wir müssen fort, nur runter bis zum Wasser. Wenn wir einmal im Boot sitzen, können sie uns nichts mehr anhaben.
„Wasser“, presst er heraus und zuckte mit dem Kinn nach vorne. Sie rutschten den nächsten begrünten Abhang hinab. Zweige und Blätter im Haar und mit verschmutzten Kleidern, bis Sichelgaita unten einen kleinen Landungssteg entdeckte. Morsch und davor ein hölzernes Boot. Daneben eine kleine Gestalt, in einen Wollmantel gewickelt schlafend an die Bootswand gelehnt.
„Daria“, keuchte Luce, „Das Boot.“
Das zarte Wesen, nicht Weib, nicht Mann, blinzelte, rieb sich die runden Augen und glotzte verdutzt. „Lucifer“, zwitscherte es, „Dass du in den Himmel...“
„Keine Zeit“, spie er aus und zerrte Sichelgaita schon ins Boot, „Wenn wir einmal auf dem Wasser sind, dürfen sie uns nicht folgen.“
„Warum nicht?“, sie krallte sich an die Bordwand, derweil Luce mit letzter Kraft das Boot ins Nass zog und das zarte Geschöpf an der Ruderpinne Platz nahm.
„Auf der anderen Seite ist so was wie...“,er warf verzweifelt die Arme in die Luft, „Keine Ahnung, wie ich es erklären soll.“
Er sprang ins Boot.
Aber sie war ja nicht völlig verblödet. „Da ist das Gebiet, in das sich die, die unbehelligt bleiben wollen von den sogenannten Regierungsgeschäften, zurückziehen“, schlussfolgerte sie.
Er nickte. Sank ermattet in sich zusammen.
Sichelgaita wunderte sich, dass dieses zarte Wesen sie so kraftvoll durch das stille Gewässer ruderte. Das Boot durchrann die silbrig überschäumende Bläue. Sie hielten auf eine smaragdfarbene Halbinsel zu, kamen ihr immer näher. Anfangs schwang nichts durch die Stille, als langer stummer Atem und das Plätschern des Wassers, das am Bootsrand entlang rauschte. Dann, mit einem Rumpeln, liefen sie an Land. Vorsichtig kletterte Sichelgaita aus dem Boot.
Hier war es anders als im Rest des Himmels. Ein warmer Paradiesnebel umspann sie, und ein tiefes Gefühl Seeliger Freude strömte wie heißes Blut durch ihre Adern. Aber darunter glühte der Ärger, als sie begriff: Das hier war der wahre Himmel.
Fast eintausend Jahre hatte sie geglaubt, im Himmel zu sein, aber es war nichts anderes gewesen als eine schmutzige Stadt, geführt von intriganten Beamten und überzogen von einer Schicht unaufrichtiger Schönheit.
Sie fühlte sich betrogen. Wollte sich beschweren, ohne zu wissen, bei wem. Ihr Kopf schwang herum und sie entdeckte Luce, wie er sich mit zärtlicher Dankbarkeit beim Fährwesen verabschiedete. Als er neben ihr zwischen den grün belaubten Bäumen an einem mit Perlen gesäumten Pfad stand, nahm er sie sachte am Arm. „Es ist nicht mehr weit.“
Sie nickte. Verschluckte ihren Zorn. Sich ausgerechnet bei Lucifer über den Himmelsbetrug zu beschweren, kam ihr selbst schwachsinnig vor. Stumm trottete sie hinter ihm her. Glücksgefühle tropften wie Regen vom Himmel hinab und machten sie sanftmütiger.
Als sie ein zauberhaft an einen Hügel geschmiegtes Haus erreichten, das von Gärten und Blütenpracht überstürzt schien, war sie lammfromm.
Eine junge Frau, die davor Unkraut zupfte, sah sie herankommen und sprang auf die Füße. Zuerst wollte sie auf die beiden zu stürzen, bis sie bei Luces Anblick erschreckt zurückwich. Aufgebracht stieß sie die Tür auf. „Magda! Komm schnell! Komm!“
Aus dem Hausschatten trat eine Frau ans Licht, die sich noch die Hände mit einem Geschirrtuch abwusch und mit gerunzelter Stirn ins lichte Grün schaute. Trotz ihrer glanzlosen Kleider und der groben Sandalen wusste Sichelgaita sofort, wer das war. Und verfluchte im Geiste alle Pfaffen, die ihr das Gegenteil versucht hatten, weis zu machen. Dass Frauen nichts wären und eine untergeordnete Rolle zu spielen hatten. Dass sie wertlose Sünderinnen seien.
„Luce“, leicht tropften die Silben der Frau dahin, „Oh, du Armer.“ Das Geschirrtuch warf sie über die Schulter, mit ausgebreiteten Armen wie Schwingen kam sie auf sie zu und umfasste Luce, der seinen Kopf an ihrer Brust verbarg wie ein Kätzchen. „Magdalena“, krächzte er, „Es sind üble Dinge geschehen“, er löste sich aus der Umarmung und sah sie an, „Wir müssen mit ihm reden.“
An den Schultern schob sie ihn ein Stück von sich. „Ja, das ist gewiss so, wenn du den Weg hierher auf dich nimmst. Aber erst musst du dich stärken.“
Sie wandte sich an die junge Frau, die noch die Gartenschere in Händen hielt, „komm mit und hilf mir. Unsere Gäste sind geschwächt und hungrig. Es ist bestimmt noch von dem scharfen Curry da.“