Aber wie das Leben so spielte, kam er nicht mehr dazu, den Entschluss umzusetzen. Die Cherubim, die Luisa und er für den Kampf gegen Lucifer aktiviert hatten, waren zum größten Teil wieder steinern und klebten an den Emporen. Wo sie hingehörten. Aber einer flatterte um ihn und den verletzten Damiano herum. Lysander schaute Luisa nach, wie sie energetisch aus der Kapelle rauschte, als das Miststück immer näher kam. Er wusste genau, was das bedeutete. Trotzdem zischte er: „Was willst Du?“
„Der Weltenlenker verlangt nach Dir.“
Wie ihm das Gesäusel und Gesumme auf den Zwirn ging. Einen Blick auf Damiano werfend, der anfing, sich zu regenerieren, stemmte er sich hoch.
„Nein“, wisperte er erst, schwang zu dem pikiert dreinblickenden Cherubim herum und wiederholte es lauter: „Nein! Sag oben Bescheid, dass es jetzt nicht geht.“
Luce war geschwächt. Die Mischung aus vertrautem Zauber und heidnischem Trallala aus dem Mund der Walküre hatte ihm zugesetzt. Was immer die Walküre plante, jetzt war der richtige Zeitpunkt.
Er wollte mit ihr reden.
Entmaterialisiert schwirrte er aus der Kapelle, durch den Kreuzgang und hinaus auf die Piazza San Marco. Rasch entdeckte er sie. Leicht zerzaust marschierte sie stracks an ihrem Wohnhaus vorbei auf die Piazza del Duomo. Eilig flog er ihr nach. Leicht war es, sie nicht aus den Augen zu verlieren, denn im Vergleich zum Frühling und Sommer war es touristenleer. Der Sonne schien heute zwar lauwarm vom azurnen Himmel, aber die Luft roch nach Schnee. Oder seine Sinne waren noch von dem Eiszapferegen verwirrt, der in der Kapelle auf ihn niedergegangen war. Er sah sie den Dom betreten. Merkwürdig. Er hatte sich nie gefragt, wo der Eingang zur Hölle lag.
Ausgerechnet im Dom zu Florenz?
Nein, säuselte es von oben, tut er nicht, mein Lieber. Sie braucht etwas anderes und findet es dort.
Er schüttelte sich. Das war die letzte Stimme, die er jetzt hören wollte.
Es fehlte noch, dass der sich einmischte.
Er hätte antworten können, unterließ es aber, in der Hoffnung, damit genug zu sagen, aber vor lauter Ärger über die Einmischung hatte er Luisa aus den Augen verloren. Suchend blickte er sich um.
Mit ihren kraftvollen langen Beinen war sie zielstrebig die drei Stufen hoch gegangen, aber sofort hinter der Tür, im halbdunklen Inneren blieb sie stehen. Staunend stierte sie mit überstrecktem Hals in die riesige frei schwebende Kuppel. Brunelleschis Meisterwerk, das Lysander reichlich kalt ließ.
Nicht nur, weil er es kannte, nein seine Augen klebten auf ihr.
Es war unmöglich, die Augen von ihr zu lassen. Ihre völlige Natürlichkeit war erstaunlich. Dabei war sie nach den Regeln der Engel nicht hübsch.
Zu groß für eine Frau. Ziemlich kräftig. Jedenfalls nach sphärenhaft himmlischen Maßstäben. Er fühlte gar, dass sie leicht nach Erde roch, so als wäre sie Teil des Ursprungs von allem.
Kurz suchte er die Umgebung nach potentielle Zeugen ab, sah niemanden und gewann an menschlicher Substanz, bis er als junger Mann da stand. Ebenso zerzaust wie sie. Derangiert vom Kampf, die dunklen Locken wirr am Kopf, ein paar kleine Schürfwunden im ebenmäßigen Gesicht und mit zerknitterter Kleidung, schritt er vorsichtig auf sie zu.
Seine Präsenz fühlend ruckte sie herum. Dabei hatte sie diesen für sie typischen mürrischen Gesichtsausdruck, der sich sofort wandelte, als sie ihn erkannte. Mit warmer Freude, der eine Spur Erleichterung innewohnte, sagte sie: „Dachte ich es mir doch. Dass du das eben warst.“
„Hm“, er versenkte die Hände in die Hosentaschen, „Da war aber auch Damiano. Er hat auch versucht, zu helfen.“
„Was seid ihr?“, sie lachte halb verlegen, „Nur meine Nachbarn seid ihr nicht.“
Sie schlenderten durch das Hauptschiff und blieben vor dem Gemälde mit den sieben Höllenkreisen stehen, das sie wissbegierig in Augenschein nahm.
„Na ja“, druckste er herum, „Es fing damit an, dass Damiano als Ihr Schutzengel überfordert war. Da wussten wir noch nicht, dass Sie eine Walküre sind.“
„Und jetzt, wo ihr es wisst? Helft ihr mir?“ Sie sah ihm tief in die Augen.
„Ja.“ Er war gebannt. Unendliche Kraftreserven lebten getarnt in der Dämmerung ihrer archaischen Augen.
„Warum?“ Sie maß ihn kritisch.
„Weil“, er warf die Arme in die Luft, „keine Ahnung. Es ist kompliziert. Da oben hat niemand etwas dagegen, wenn Sie die Helden aus der Hölle befreien und nach Walhalla bringen. Also hat der Weltenlenker entschieden, mich hinabzusenden, um Ihnen zu helfen.“
„Der Weltenlenker“, sie zog die Brauen zusammen, „Ist das euer Gott?“
„Nein“ räumte er ein, „wir haben eine Instanz dazwischen. Je nach Ansichtssache sogar zwei Instanzen.“
„Das klingt bürokratisch.“
Er lachte glockenklar, was vielfältig von den Wänden zurückgeworfen wurde. „Das ist es auch. Sie haben ja keine Ahnung, wie viele Instanzen und Behörden wir da oben haben.“
„Warum hat man ausgerechnet Dich geschickt?“
„Ich bin eine Art Außenseiter. Deshalb wahrscheinlich.“
Ihre langen Finger näherten sich seinem Gesicht, was ihm vor Augen führte, dass sie ebenso fasziniert von ihm als Engel war, wie er von ihr.
Kühl. Ihre Fingerspitzen glitten kühl über seine stoppelige Wange. „Außenseiter?“ Sie legte den Kopf schief.
„Ich“, er stockte, weil ihre Finger seine Stirn hinauf wanderten, „Ich verhalte mich nicht immer regelkonform, erziele aber die besten Ergebnisse.“
„Wahrscheinlich“ wisperte sie gedehnt, ohne mit der Ertastung seines Gesichtes innezuhalten, „gerade deswegen.“
Er könnte ihr jetzt erklären, dass er dazu neigte, sich in die falschen Wesen zu verlieben. Und dass er geglaubt hatte, Luce zu einem besseren Engel machen zu können, ihn zurückführen zu können, zu ihrer aller Vater, und wie er geirrt hatte.
Er könnte ihr erklären, dass er im Begriffe war, sich in sie zu verlieben und wie groß die Empörung darüber im Himmelsoktogon sein würde.
Ein Engel und eine Walküre. Das war ja das Allerletzte.
Aber es tat nichts davon.
Er schwieg und trank ihre alt beseelten Augen aus.
Plötzlich nahm sie die Hand weg. „Ich brauche etwas Weihwasser von hier“, sagte sie rau, „ich vermag mich nicht unsichtbar zu machen, und ich fürchte, es würde Ärger geben, wenn ich erwischt werde.“
Lysander nickte. Er folgte ihrem Blick zum Domschweizer, der am Nebeneingang einer Rollstuhlfahrerin half, hineinzukommen. „Ich kümmere mich darum. Wenn Sie nach Haus gehen würden?“
„Du kannst Luisa zu mir sagen. Wir können uns duzen.“
„Aber das ist nicht Dein richtiger Name?“
„Nein, aber es würde mich verwirren, wenn man mich hier mit meinem richtigen Namen riefe.“
„Lysander.“ Er streckte ihr die Hand hin und sie umschloss sie fest. Ihre Haut war kühl, und doch wollte er sich an sie schmiegen.
„Gut Lysander, komm mit. Ich werde dort hingezogen.“
Er hinterfragte diese kryptische Äußerung nicht und folgte ihr. Sie schritt zielstrebig in das Seitenschiff, wo mehrere Bänke hintereinander vor einem kleinen Altar standen. Auf demselben lag aufgeschlagen ein ungeheurer Foliant mit Goldschrift. Sie legte die Bibel Savonarolas daneben. Einige Sekunden herrschte Schweigen.
Lysander blinzelte. „Ich verstehe nicht, wie das Ding hier herkommt.“
Fragend sah sie ihn an.
„Es ist das tausend Seiten starke Zeremonienbuch des Kuppeloktogons. Das Buch der Bräuche.“
„Aber das ist doch prima. Mit welcher Formel öffne ich die Höllenpforten. Das wird hier bestimmt stehen.“
„Aber du brauchtest doch irgendeine handschriftliche Notiz Savonarolas. Warum sonst hast Du dessen Bibel geraubt.“
Lysander spürte die Gegenwart eines anderen.
Eines Großen.
„Beides“ sagte die leicht gereizte Stimme seines Vaters.
Ly stöhnte genervt. Er hatte es geahnt, als er draußen seine Stimme gehört hatte. Darauf hatte er wenig Bock. „Was willst Du?“
„Du wolltest nicht hochkommen, also steige ich runter.“
In einer kleinen Nebelwolke materialisierte sich der Mann.
„Ich komme bestens ohne Dich zurecht“, schnappte Lysander und erntete ein mitleidiges Geräusch. Er kannte das Geräusch. Es klang immer nach liebevoller Verachtung.
„Ja, ich weiß. Du kennst dich aus im Gottesgnadenreich. Deshalb gerätst Du auch nie in Schwierigkeiten.“
„Äh“, mischte sich Luisa ein, „hört mit dem Unsinn auf. Das ist ja wie mit Loki und Odin. Können wir uns bitte Wichtigerem zuwenden? Wozu brauchen wir das Buch hier?“ Sie blätterte darin herum.
„Nehmt einen Stift, Signora, um die Adresse aufzuschreiben. Ihr wisst ja gar nicht, wo der Eingang zu Hölle ist.“ Der Mann lächelte süffisant. Eifersucht stieg in Lysander auf. Das war seine Walküre. Seine. Er war für ihre Sicherheit verantwortlich.
Sie tastete in ihrer Handtasche herum, bis sie einen Zettel fand und einen Kugelschreiber.
„Seite 729, oben.“
Sie kritzelte herum. Lysander, der über ihre Schulter linste, zog die Stirn kraus. Das Ergebnis konnte kein Mensch lesen. Lysanders Vater verbesserte unmerklich. Bezaubernd liebenswürdig sah er aus dem Wimpernkranz seiner Ikonenaugen auf Lysander und die athletische Gestalt der Walküre. „Das ist die Adresse.“ Er tätschelte seinem Sohn nachlässig die Wange. „Und mache nicht wieder solche Dummheiten.“
Damit war er weg, was Ly mit großer Erleichterung erfüllte.
„Wenigstens ist es hier in Florenz“, murmelte sie mit Blick auf dem Zettel, den sie dann in ihrer Handtasche verstaute. „Das Weihwasser brauche ich aber trotzdem.“
Lysander nickte. „Ich werde es holen, aber erst bringe ich dich nach Hause.“
„Warum das denn?“ Sie klang gereizt.
„Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, Luisa, aber dir drohen dauernd Unfälle. Und Damiano, dein eigentlicher Schutzengel, ist derzeit zu geschwächt, dich zu schützen. Deshalb komme ich besser mit.“
Und sehe dann gleich, wie es dem geht, fügte er in Gedanken hintan. Er rechnete mit ihrem Widerspruch, aber da kam nichts. Daher folgte er ihr zum Ausgang. Als sie durch die schwere Pforte schlüpften, sahen sie hinaus auf die Piazza. Zuerst waren da nur Passanten, die Einkäufen oder der Arbeit zustrebten. Ein kleiner Müllwagen stand neben einem Müllmann, der leise pfeifend die Erde fegte. Aber da, hinter dem Baptisterium tauchte eine zerfetzte Gestalt auf. Völlig verlottert wirkte der Mann zuerst wie ein wirrer Obdachloser, der zu früh am Tag dem Wein zugesprochen hatte, aber Lysander fokussierte ihn.
„Was ist?“ Sie stupste ihn an.
„Der Typ da vorne. Sieht aus, wie ein Zombie aus diesen grottigen amerikanischen Filmen.“
„Er sieht verwirrt aus“, stellte sie sachlich fest.
„Er sieht vor allem aus, als wäre er eben erst der Hölle entstiegen.“ Tatsächlich waren die mittelalterlich anmutenden Klamotten rußgeschwärzt. Die Augen des Mannes lagen tief in den Höhlen und sein Antlitz war verzerrt vom immer währenden Schmerz.
„So ein Arschloch!“ Luisa stampfte mit dem Fuß auf. Verdutzt sah Lysander sie an. Reizend, er fand das wahrlich reizend. Ganz anders als die doppelzüngige Gezwitscher beispielsweise von Isa.
„Äh, was hast Du erwartet? Dein Gegner ist der Satan. Natürlich zieht er sich jetzt nicht zurück, nur weil wir ihn einmal besiegt haben. Er ist geschwächt. Mehr als irgendeine verloren Seele rauf zu schicken, fällt ihm grad nicht ein.“
„Trotzdem“, sie griff ihre Handtasche fester und raste auf die blind umher tastende Gestalt zu. Lysander kam kaum hinterher.
„Hau ab!“, kreischte sie und schlug wild mit der Handtasche auf den armen Sünder ein, „Verschwinde!“
„Ah“, der Mann sackte in die Knie. Die Hände, dreckige Klauen, hielt er schützend nach oben,.
„Verkriech dich zurück in Dein Höllenloch!“ Sie dengelte und drosch mit der schweren Beuteltasche auf den Mann ein. Lysander mühte sich, sie zu bremsen. Die Leute guckten schon komisch. Im Augenwinkel sah er jemanden auf die Carabinieri zugehen, die mit gezückten Gewehren neben dem Dom standen. Resigniert schloss er die Augen. Er würde mit Engelszungen auf sie einreden müssen.