Lysander war beunruhigt, als er durch vier der sechs heiligen Paläste zog, dann die vielen Stufen einer Krypta runter in ein kellerartiges Gewölbe, wo statt der Lanze allerlei Gerümpel lag.
Verwirrte und teils verletzte Gardisten hockten im Halbdunkel um einen aufgebrochenen Kasten herum. Aber die Kunde vom Diebstahl war bereits umhergegangen. „Die Lanze!“, schluchzten nachdrängende Soldaten. Entblößten Herzens sanken alle Uniformierte vor dem Durcheinander in die Knie. Ein mit Edelsteinen besetztes Reliquiarium, in dem die verbogene Lanze in Goldbrokat gewickelt dereinst ruhte, nun aber fehlte. Der Brokatstoff lag lieblos am Boden. Daneben stand Luce und lauschte einem vogelartigen Männlein.
„.....echte Lanze. Die ruht in einer Ehrenhülle im heiligen Palast. Sie hier....“
Lysander kratzte sich an der Nase und stellte sich dazu. „Was heißt das? Ist die Gestohlene nicht echt?“
„Auf eine Weise schon“, Luce schob sich das Blondhaar aus der Stirn, „Und dann wieder doch nicht. Es scheint wohl drei zu geben.“
„Drei?“
„Eine in der Wiener Hofburg, die den Menschen unten als die wahre Lanze gilt, diese hier und dann noch die, von der Meister Prostarius schwafelt.“
„Postarius“, korrigierte der Angesprochene nasereckend.
Lysander hob beide Brauen. „Was für ein Durcheinander“, er sah den Offizier an, der ihn geweckt und hergeleitet hatte, „Kein Zweifel, was den Dieb betrifft?“
Rüstungsscheppernd stand der Mann still und salutierte. „Kein Zweifel, Herr. Seht selbst, überall Schwefel.“
„Außerdem wird er die Hilfe eines Dämons in Anspruch genommen haben“, Luce ging in die Hocke und rieb über den verbrannten Boden, „Sieh mal, wenn hier...“
Lysander winkte ab und schielte auf sein vibrierendes Handy. „Warte. Da muss ich dran gehen. Luisa?“
„Robert und Sichelgaita sind auch weg!“ ,schrie sie, „Und Wilhelm!“
Er blinzelte. „Okay, also Loki und die Letztgenannten entführt? Das wird ja immer irrer.“
„Ja, und das Komische ist, dass es hier oben keine Anzeichen eines Überfalls oder Einbruchs gibt. Sie sind einfach verschwunden. Wir haben ganz Valaskjalf und halb Asgard durchsuchen lassen. Alle Walküren sind unterwegs....“
„Luisa?“ Er stierte aufs Handy, „Luisa?“
Durch die Sphären drang nur das aufgeregte Schnattern vieler Stimmen, dann raschelte es und dann schrill von unbekannter Stimme: „Sie ist weg! Sie ist einfach verpufft!“
Dann brach die Verbindung ab. In Lysander tickte die Panik, die er nur mühsam unterdrückte. Luce griff ihn am Arm. „Ich habe es gehört. Das sind alle, die ihm Ärger gemacht haben. Mir scheint, er will sich rächen.“
„Und wir?“, er rieb sich den Mund, „wir haben ihm auch Ärger gemacht.“
„Schon, aber ihr seid Himmelsgestalten.“
Sie drehten sich nach der Stimme um, die Ly sofort als die seines Vaters identifiziert hatte. Keiner der anderen, weder die Garden noch der Gelehrte, wagte, aufzuschauen in den Glanzerguss von oben, mit dem der immer aufzutreten pflegte. Nicht ganz freiwillig, die Cherubim und Seraphime umflogen ihn hier stets wie von selbst, was dem Einen gehörig auf den Zwirn ging. In eine einfache Tunika gewandet wedelte er gereizt die schwirrenden Wesen weg und ließ sich auf die Marmorbank bei der Wand sinken. Offenbar hatte auch er geschlafen, denn er gähnte ausgiebig, was seinem überirdischem Äußeren nicht im Geringsten schadete. „Euch kann er nicht anhaben. Aber all die anderen, die verschwunden sind, gehören nicht ins Himmelsoktogon.“
„Wo sind sie denn jetzt?“ Lysander trat der Sorgenschweiß auf die Stirn.
Der Eine zuckte die Achseln. „Wo? Das können wir nicht sehen.“
„Was heißt das?“
Der warme Paradiesnebel, der den Einen bisher umsponnen hatte, wurde dünner, die schwirrenden Wesen verschwanden. Er sah seinen Sohn an. „Setz dich her, Lysander. Beruhige dich. Sie leiden keine Schmerzen. Sie sind nur in einer anderen Raumzeit.“
„In der Vergangenheit?“ Nervös rieb er die Hände.
„In der Vergangenheit. Es ist mühsam und mit Schwierigkeiten behaftet, aber möglich, sie zurückzuholen.“
„Und wo sind sie?“
„Das ist die erste Schwierigkeit. Wir können es nicht sehen. Aber ich habe schon mit Odin gesprochen. Wenn du in seinen Brunnen Nimir schaust, wirst du es sehen können.“
Lysander fühlte seinen Herzschlag heftig gegen die Brust. „Kann er sie sehen? Wie geht es ihr? Wo ist sie? Wer...“
„Ly“, sein Vater drückte ihm den Oberschenkel, „Du wirst sie im Brunnen sehen können. Odin kann es nicht, denn der Lanzenzauber ist ein Himmelszauber und es ist nur Zufall, dass du Zugang zu einem Medium wie dem Brunnen hast. Hättest du ihn nicht, verlören wir unendlich viel Zeit damit, herauszufinden, wo sie sind. Zumal sie alle woanders sein werden. Aber die interkulturelle Zusammenarbeit spielt uns zu. Und durch den direkten Draht zu Odin müssen wir keine Amtshilfeersuchen stellen.“
Halb verzweifelt fühlte Lysander Wut auf den ehemaligen Weltenlenker aufsteigen. „Dieses miese Schwein.“
„Nun, wir haben ihm den bequemen Sessel weggezogen, auf dem er 2000 Jahre ruhte und unsere Welt lenkte, wie es ihm Spaß machte. Leute mit Macht reagieren mitunter ungehalten, wenn man sie aus der Komfortzone reißt.“
„Ich muss hoch.“
„Ja, natürlich. Nimm einen Freund mit“ ,des Einen Ikonenaugen ruhten auf Luce.
Der verneigte sich. „Ich danke Euch, Herr.“
„Aber wie...“, Lysander wanderte händeringend umher, „Ich meine....“
„Ich weiß, du schätzt es nicht, wenn ich helfe, Sohn, aber geht einfach hoch.“
Luce zog ihn am weiten Ärmel seines Hemdes die Stufen hoch. „Mach dir keine Sorgen. Wir kriegen das hin. Wir holen sie unverletzt heim, mein Bruder. Alles wird gut werden....“
„Halt einfach mal die Klappe.“
„Okay.“
Gleichzeitig mit dem Tor der ersten Morgenröte öffnete sich das Tor nach Asgard mittels des bunten Regenbogens, der sich über die fünfhundert goldenen Kuppeln der Heiligen Stadt erhob und sie einlud. An Spalieren der Seelen glitten sie durch die transparentgewordene Hülle des Himmlischen hindurch, gewärmt von Farben hinein in schiere Glückseligkeit.
Lysander hatte sich schon immer darüber gewundert, dass der Weg nach Asgard so viel angenehmer im weltlichen Sinne ist, wie der Weg ins Himmelsoktogon.
Irdisch duftete jede Farbe bunt und löste den Geschmack der süßesten Speisen aus. Undeutlich wurde ihm bewusst, dass Luce nie oben in Asgard gewesen war, doch das beunruhigte ihn nicht, weil es nichts zu fürchten gab. Sie glitten an Heimdal vorbei, der nachlässig die Hand zum Gruß erhob, schwebten durch silbrige Gänge und landeten sofort in Odins Büro, dessen Tür in den Thronsaal weit offen stand und einen Blick auf Glanz und Silber eröffnete.
Aber dort saß er hinter seinem Schreibtisch und wirke gereizt. Breitschultrig, einäugig, Zigarette im Mundwinkel, das Blondhaar in Wellen aus der Stirn gelegt, die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt, das Jackett über den Stuhl gehängt und mit glimmendem Auge. „Schöne Scheiße ist das.“
„Ja“, Lysander räusperte sich verlegen, „Das ist Lucifer, genannt Luce, den man fälschlich für böse hielt und der im Rahmen der stillen Revolution...“
„Das weiß ich! Wenn man mir alles erklären müsste, wäre ich kein Gott.“
„Verzeihung.“
Odin winkte ab. „Schon gut. Kommt mit.“