Lysander sprang vom Segway und raste die Stufen zum Kirchenportal hinauf, durch das der kleine Satan eben geschlüpft war.
Kühle Stille senkte sich über ihn hinab. Mit dem Kopf ruckte er herum, als er ein Geräusch hörte, aber da war nur ein Franziskaner, dessen Sandalen sich schlappend entfernten.
Helligkeit drängte golden hinein, als die anderen die Tür weiter aufstießen. Ly drehte sich nach ihnen um, sah den Normannen mit wissbegieriger Miene und Luisa mit ihrem Smartphone am Ohr hineinkommen.
Als ob es hier laut wäre, hielt sie sich das freie Ohr zu. „Ja“, sagte sie ernst, „In Ordnung. Machen wir.“ Dann guckte sie das Gerät mit einem Gesichtsausdruck an, als käme es vom Mars und steckte es sich kopfschüttelnd in die Hosentasche.
„Was?“, obwohl er es wissen wollte, sah Ly sich weiterhin um. Auch Robert fixierte die große Dante-Statue aus weißem Carraramarmor zu seiner Rechten, verengte die Augen.
„Das war Thor“, sie biss sich auf die Unterlippe, „Man befiehlt uns hoch. Sie haben uns was zu sagen, was diesen Wilhelm betrifft, den wir suchen.“
„Er ruft dich an?“ , erregt fuchtelte er mit einer Hand zu Luisas Hose, und meinte das Telefon, „Mit dem Telefon?“
„Schrei doch nicht so!“, schrie sie, „Ich weiß ja auch nicht, was das zu bedeuten hat!“
Ihre laute Stimme verhallte im großen Kirchenschiff, brach sich vielfach an den Emporen und wurde zurückgeworfen. Lysander war nur zweitrangig daran interessiert, was man ihnen in Asgard zu sagen hatte. Die Sache mit dem Telefon faszinierte ihn.
Konnte man andere Götter anrufen?
Hatten sie eine Telefonnummer?
Er öffnete eben den Mund, um das zu fragen, kam sie ihm zuvor. „Ich habe keine Ahnung, warum Thor mich anruft. Das kann nur bedeuten, dass er auf der Erde ist.“
„Das wäre eine Möglichkeit. Obwohl das schade wäre.“
Ein Geräusch ließ sie herum schnellen. Robert Hauteville hatte den Flüchtigen am Kragen. „Jetzt bist du reif, Bürschchen“, lachte er, derweil der Knabe versuchte, sich aus dem Griff zu winden. „Lasst mich“, er winselte, „bitte, lasst mich gehen.“
Lysanders spannte genervt den Mund. Fast wäre es ihm lieber, sie hätten den Knaben nicht eingefangen. „Ich weiß nicht, wie wir ihn zurück in die Hölle kriegen“, er hob das Kinn des jungen Mannes an und schaute in strahlend grüne Augen, die sich mit Tränen füllten. „Nein, nicht zurück in die Hölle. Bitte!“
Robert ließ den Kragen los, blieb aber sprungbereit. „Und wenn wir ihn mitnähmen?“
„Nach Asgard? Niemals!“, bestimmte Luisa, „Wenn er nur einer dieser Pseudo-Teufel ist“, sie zupfte an seinem Latexhöschen, das schnalzte zurück, „dann ist er gar nicht richtig böse gewesen, sondern schmort nur da herum, weil er nicht getauft ist oder was anderes gemacht hat, was eure komischen Regeln sündig finden, aber gar nicht sündig ist. Die bösen Teufel waren von selbst rot! Die brauchten kein Latex!“
„Soll ich ihm jetzt die Beichte abnehmen?“ Ly verschränkte die Arme vor der Brust.
„Das nicht gerade“, schlug Robert vor, „Aber sie wird recht haben. Schicken wir ihn einfach zu eurem Freund...“
Vom Portal erklang ein vorsichtiges Räuspern, und als sie sich hinwandten, stand Damiano dort mit aus der Jeans hängendem, schmuddeligen T-Shirt. Er guckte bestürzt aus strahlend bleuen Augen. „Er ist nicht böse.“
Der schmale Teufel warf sich in Damianos Arme.
„Wenn wir ihn nicht zurückschicken, wird er uns gewiss keine Schwierigkeiten machen.“ Ein flüchtiges Erröten floß über Damianos helles Antlitz.
In Ly tickte der Ärger. „Damiano, glaube ja nicht, du wirst den Rest deiner Engelsexistenz in einem menschlichen Körper verbringen. Das muss man sich nämlich verdienen. Und bisher hast du nichts geleistet...“, Luisa zupfte an seinem Hemd, „Was?“
„Lassen wir die beiden hier“, schlug sie vor, „Ich bin nicht sicher, was Odin dazu sagt, wenn ich so viele Leute mit hochbringe.“
„Leute?“, Ly hob eine schmale Braue.
„Ja, Leute! Da mit einem Engel anzutanzen, wird schon reichen! Noch ein Engel, der seinen kleinen Satansbraten mitbringt, würde womöglich Odins Toleranzschwelle überschreiten!“, sie rückte näher an ihn heran und wisperte, „Es wird mir schwer genug fallen, meine Gefühle für dich zu erklären, wenn das hier alles vorbei ist. Mache es mir nicht noch schwerer.“
Einige Sekunden sagte Ly gar nichts, aber dann nickte er. „Meinetwegen. Geht heim.“
Damiano und der Fremde standen still und schmal wie Sardellen. Dann gerieten sie in Bewegung. Aneinandergeschmiegt traten sie durch das Portal hinaus auf die helle Piazza. Schweigend sahen sie den beiden nach. Damiano kam Lysander so merkwürdig still vor. So, als hätte ihn eine fremde Ernsthaftigkeit befallen. Kurz dachte er, es ginge dem ausnahmsweise um mehr als leibliches Vergnügen. Er hoffte es. Um seiner Engelsseele willen.
„Und wir?“, er sah Luisas Profil im Dämmerlicht der Kirche, „Wenn ihr telefoniert, habt ihr wahrscheinlich auch einen Aufzug, mit dem wir nach oben fahren?“
„Also wirklich!“ Sie stampfte mit dem Fuß auf, schwang herum und rauschte zum Seitenschiff. Dort angekommen zerrte sie die Tür in den Innenhof auf.
„Von hier aus?“ Robert deutete auf die außen im Gewölbe liegende Pazzi-Kapelle.
„Nein, nicht von hier aus!“, krakeelte Luisa verärgert über das, was ihr wie Lysanders Respektlosigkeit vorkam, „Hier gibt es keinen Aufzug“, sie streifte ihn mit glitzerndem Blick, „und keine Pforte. Aber hier gibt es ein Draußen.“
„Äh“, Lysander kratzte sich am Kopf, wobei er bemerkte, dass seine kastanienfarbenen Locken vom Aufenthalt in der Hölle immer noch nach Schwefel rochen, „Draußen?“
Ein Donnergrollen rollte heran. „Wir müssen über die Brücke“, erklärte sie ruhiger, „und es wäre arg auffällig, wenn wir es mitten auf der Piazza täten.“
Ein mächtiger Knall tat sich über ihnen, der sie alle erschreckt zusammenfahren ließ. Dann setzte der Regen ein. Unter dem Dach der Pazzi-Kapelle geschützt schauten sie auf den Vorhang aus Regenschnüren, der aus einer einzigen schwarzen Wolke, die sich exakt über ihnen positioniert hatte, heraus stürzte. Azurner Himmel umrahmte die schwarz drohende Wolke und die Sonne mühte sich damit ab, durch sie hindurchzudringen. Noch einmal knallte der Donner über ihnen und gab die grell leuchtende Sonne frei. Das Leuchten wandelte sich in einen Glanzerguss, der vom oberen Kuppelrund der Kirche als tauiges Glitzern schwamm. Nach Augenblicken begann ein Ziehen in der Luft, nach jener Mitte des Hofes, über der kronengleich der Bogen schwebte.
Ly stand da als Staunender. „Ein Regenbogen“, flüsterte er ehrfürchtig. Christköniglich erschien ihm dies, was ihm zweifellos als Ketzerei ausgelegt würde.
Er machte vorsichtig einen Schritt auf ihn zu. Bunt krümmte sich der Bogen vom Himmelszelt bis zu ihren Füßen. Verblüfft sah er Luisa an, die bereits einen Fuß auf die Farben gesetzt hatte und silbrig flirrend vor ihm stand.
„Kommt“, forderte sie und Robert ließ sich das nicht zweimal sagen. Dynamisch sprang er auf die Regenbogenbrücke und marschierte voraus. Aber Ly zögerte. Etwas so bunt Bezauberndes so nah hatte er nie zuvor gesehen.
„Kommst du jetzt oder nicht?“, keifend streckte sie ihm die Hand entgegen. Vorsichtig setzte er erst einen, dann den anderen Fuß auf die Brücke.
Eine klirrende Kälte umfing ihn.
Daher der Silberstreif, dachte er, deshalb schimmert sie so silbern.
Seltsam, dass er nicht fror. Als er mit beiden Füßen auf der Brücke stand, gewann er an Sicherheit und griff nach Luisas Hand, die ohne zu zögern, in seine glitt. Sie schenkte ihm ein Lächeln.
Hand in Hand schritten sie die Regenbogenbrücke hinauf. Bald schon stießen sie kleine Wölkchen aus, bei jedem Atemzug, und als sie die Silhouette Florenz‘ weit unter sich hatten, hatte sich glitzernder Raureif auf sie gelegt.