Das Kloster San Marco lag wenige hundert Meter vom Wohnhaus entfernt. Man sah es, wenn man aus der Haustür trat. Es lag auf der Piazza San Marco, die nebenher ein Verkehrsknotenpunkt für die großen, dieselbetriebenen Linienbusse war. Sich an den stinkenden Fahrzeugen vorbei zu pfuschen, und dabei gleichzeitig auf die Hin und Her kreuzenden Taxen zu achten, war die Regel. Ganz und gar nicht regelkonform war, dass die Busse ineinander verkeilt da standen. Lysander würde der Schweiß auf die Stirn getreten sein, hätte er nicht schon seine Engelsgestalt angenommen. Er schwirrte hektisch zum Ausgangspunkt des Chaos‘ und rechnete damit, Luisa in einem Drama aus Blut und Tränen zermantscht unter einer Busachse vorzufinden. Aber alles, was er sah, war ein einziges Durcheinander. Beißender Qualm drang aus dem Motor eines Busses, überall zerbeultes Blech, weinende und schimpfende Passagiere, die teils ausgestiegen waren und sich Taschentücher auf blutende schürf und Platzwunden drückten. Drei Taxen und ein ziviler PKW waren beteiligt. Letzterer lag auf dem Dach. Alle parkenden Motorini vor dem Cafe Deso lagen umgestürzt, wie eine Reihe Dominosteine. Überall Geschrei, wildes Gestikulieren und aus der Ferne jaulten die ersten Krankenwagen heran.
Luce, du Arsch! Furcht tickte in Lysander. Angst, der Frau könnte etwas zugestoßen sein, denn dass die Massenkarambolage dem Zweck diente, sie aufzuhalten, lag auf der Hand. Suchenden Auges schwebte er über das Durcheinander und stieß dabei auf eine Reihe Kollegen, Schutzengel der zweiten Kategorie, die hier ihre Arbeit mehr oder weniger passabel an den Passanten und Fahrern verrichteten. Die an ihn herangewisperten Grüße ignorierend schwirrte er auf das verschlossene hölzerne Portal des Klosters zu, und durch es hindurch. Stille übermannte ihn. Der schmucklose, gewölbte Bogengang um den quadratischen Innenhof mit der saftig grünen Wiese lag menschenleer. Keine Touristen. In dieser Hinsicht war das Kloster formidabel, die Öffnungszeiten restriktiv, aber Luisa fand er nirgendwo. Und dennoch fühlte er etwas. Wachsam schwebte er auf den Eingang zur Linken zu, stets auf einen Hinterhalt gefasst, denn Luce, das spürte er, war in der Nähe. Doch im Vorraum mit den Wandmalereien fand er zunächst nichts. Als er es rascheln hörte, wandte er sich flink um. Dort, unter einem Fenster, in einem Körbchen lag ein kleiner weißer Hund, der ihn aus müden Augen heraus ansah. Als könnte er ihn sehen. Er kam näher, stieß langsam hinab, um Kontakt mit dem Tier aufzunehmen, denn er wollte in erster Linie wissen, ob sich Luisa schon um das Tier gekümmert hatte. Intensiv lauschte er den Gefühlen des Hundes, der es drangegeben hatte, zu wittern, was da um ihn herum schwirrte und den kleinen Kopf auf die Pfötchen legte. Lysander fühlte die Krankheit des zarten Fellbündels, aber auch die Erleichterung. Er sah einen injizierten Wirkstoff durch das Blut rauschen und schloss daraus messerscharf, dass die Behandlung abgeschlossen war.
Aber wo war Luisa?
Und wo Damiano?
Der seine Arbeit da draußen, bei dem Unfall großartig gemacht hatte. Er überlegte, wo noch gleich die Bibel dieses christlichen Extremisten ausgestellt war, als er glaubte, ein Lachen zu hören.
Er spitzte die Sinne. Und da kam es wieder, ein leises, schnaufendes Flüstern. Lucifer, dachte er, aber da kamen menschliche Stimmen herbei. Er schwang herum und sah Luisa neben einem kleinen korpulenten, fast kahlköpfigen Mann herlaufen, der euphorisch auf sie einredete. Zu seiner Überraschung wirkte sie gestresst. Ihr ansprechendes Gesicht sah gereizt aus, so als nagte sie auf einer Frage herum, zu der sie die Antwort nicht fand. Und nicht weniger geschafft wirkte Damiano, der eilig herbei geschwebt kam. „„Hast Du das gesehen!“, kreischte er hysterisch und für menschliche Ohren unhörbar, „Das da draußen?“ Du kannst Dir nicht vorstellen, was das für eine Arbeit war!“
„Doch, kann ich Damiano“, angestrengt versuchte er zu verstehen, über was der Kurator da sprach. „.....kann Susi ja jetzt mitnehmen. So ein Flug ist ja nicht schön für ein Tier....“
Okay, Susi musste der Hund sein, und der Kurator würde verreisen, aber weshalb sollte Luisa das stressen?
„Um was geht es da?“, zischte er zu Damiano.
Der machte ein überraschtes Gesicht. „Um eine Ausstellung“, meinte er lapidar, „Sie haben hier ne Menge Kisten mit Ausstellungsstücken in Holzwolle stehen.“ Er zeigte auf den Eingang zur Kapelle, „selbst im Gotteshaus.“
Im Augenwinkel sah Lysander die beiden Menschen auf das Hundekörbchen zugehen. „Ausstellung? Was?“
„Ist doch egal...“
„Was!“
Damiano zog einen Flunsch. „Na, alles, was hier nicht niet und nagelfest ist. Die albernen Malereien können sie ja nicht mit nehmen.“ Er fuchtelte mit einem Flügel zu der naiv anmutenden Malerei Fra Angelicos aus dem 15. Jahrhundert.
„Die Bibel auch?“
„Ich versteh nicht, ja, auch die Bibel von diesem Savonorola.“
„Wohin?“
„Nach Bonn. Haus der Geschichte, oder so.“
Scheiße. Verdammter Mist, dachte er ketzerisch, wenn Luisa die Bibel brauchte und dem Buch nach flog, würde er wieder eine ganze Besatzung plus Passagiere retten müssen. Niemand, Damiano am wenigstens, wusste, welch eine Arbeit so etwas machte. Deshalb klappte es ja selten. Aber noch war das Buch hier. Aufmerksam blickte er sich um. Luisa hockte neben dem Körbchen und sprach mit ihrer warmen Stimme auf den kleinen Hund ein, ein Malteser, wie ihm plötzlich einfiel. Dabei streichelte sie den zarten Kopf sachte, derweil der Kurator mit über dem Wanst gefalteten Händen wohlwollend grinsend daneben stand. Das Buch. Lysander dachte nur an die Bibel und ahnte, dass es ihr nicht anders ging. Sie stand wieder, fragte den dicken Kerl etwas. Der nickte mit einem breiten Grinsen und gestikulierte zur Kapelle. Aber er verabschiedete sich und latschte die Treppen hoch, wo die Zellen der früher hier lebenden Dominikaner lagen. Luisa betrat die Kapelle. Aus Gründen, die Lysander nicht verstand, stürzte sie nicht direkt auf die an den Wänden und zwischen den Bankreihen gestapelten Kisten zu, sondern schritt ehrfürchtig auf den Altar zu. „Komm mit“, befahl er Damiano, der das Schmollen dran gegeben hatte und neben ihm her in das Gotteshaus flog.
Sie umschwirrten sie unauffällig. Dabei machte Lysander eine staunende Ehrfurcht in ihrem sommersprossigen Antlitz aus. Nicht so, dass sie auf die Knie fallen und beten wollte. Vielmehr so, wie er staunen würde, wäre es ihm vergönnt, einen Blick nach Asgard zu werfen. Die Faszination vor dem Fremden. Aber da war noch etwas, das spürte er genau. Luce war hier. Ohne den geringsten Zweifel war er hier.
„Er ist hier“, wisperte Lysander und Damiano wurde bleich. Sah sich hektisch um.
Lysander kribbelte es am ganzen durchsichtigen Körper. Das war ein Gefühl, das im entmaterialisierten Zustand nur Lucifer auslöste. Aber wo steckte der Mistkerl?
„Flieg zum Weihwasserbecken“, gebot er und schob scharf nach, „Sofort!“
Verängstigt schwebte Damiano zwischen die beiden Marmorbecken am Eingang. Ein keckerndes Lachen erfüllte die Kapelle und brach sich tausendfach an den Wänden wieder. Und da sah er ihn.
Auf dem Boden. In dem aus grauem und weißen Marmor geschaffenen Boden war Lucifers Antlitz Teil der Ornamente. Die Linien und Kanten malten sich in seinen engelsgleichen Zügen ab, und dort, wo das Ornament rot war, glühten seine Augen und machten das hübsche Gesicht zu der Fratze, die es in Wahrheit war. Obwohl er wusste, wie kindisch es war, teleportierte er vier Gesangbücher, ließ sie über Luce langsam hoch in die Kuppel schweben und mit Karacho hinabstürzen.
Luisa zuckte zusammen und drehte sich um. Glotzte auf die vier Bücher, die grundlos auf dem Boden lagen. Sie schüttelte sich, als wäre sie geweckt worden und marschierte auf eine der Kisten nahe dem Eingang zu. Kniend studierte sie die außen aufgeklebten Zettel.
„Sehr witzig, Lysander“, summte es aus dem Bodenornament.
„Es hat weh getan, versuche nicht, es zu leugnen.“ Er blinzelte, weil er Luce in dem Boden nicht mehr fand, aber der war nur ein Stück nach vorne gehuscht und immer noch eine Symbiose mit dem Marmor.
Und dann fühlte er, dass das Geplänkel vorbei war. Mit menschlicher Stimme stieß Lysander einen Warnruf aus und als Luisa sich umdrehte, formte sich eine Gestalt aus dem Boden. Menschlich, nackt, mit Ornamenten übersät und doch ein Geist, der auf sie zu raste. Lysander, der sich dazwischen warf, spürte eine Hitze, wie Klingen in sein nicht vorhandenes Fleisch schneiden. Luisa, ein Buch in der Hand, bebte. Und doch hielt sie sich auf den Beinen. Damiano stieß unsichtbar gegen sie, warf sie nieder und legte sich wie eine Decke aus Nebel mit dem Gewicht von Blei schützend über sie. Lysander spürte den Schmerz des anderen Engels. Lucifer fing an, an dessen Seele zu nagen. Noch wehrte der Bengel sich, noch hatte er die Kraft dazu. Ly hörte Luisa aufschreien, drehte sich um und fand sie in einem Kampf mit sich selbst, weil sie unbedingt wieder auf ei Beine kommen wollte. „Ich fürchte Dich nicht!“ rief sie, „Ich fürchte Dich nicht, du mieser kleiner Scharlatan!“
Lysander dachte einen feinen Moment, sie meinte ihn, aber dann erkannte er Luce, den sie, wäre sie ein Mensch, unmöglich sehen konnte. Aber sie sah ihn. Sie blickte ihn direkt an. „Bei allen Asen, Dich fürchte ich nicht!“
Lysander war erschüttert, von dem, was er sah. Damiano lag wie ein Bündel Nebel neben der aufgebrochenen Kiste. Luisa aber stand aufrecht, mit ausgebreiteten Armen. Ihr rotblondes Haar flatterte in einem ominösen Wind, ihre Wangen waren erhitzt und gerötet. Er glaubte, nie zuvor eine so anmutige Frau gesehen zu haben, und doch wusste er, dass sie keine Frau war. Ein Leuchten ging von ihr aus. Warum hatte er nicht eher daran gedacht? Dass auch sie über einen Zauber verfügte. Leise murmelnd stand sie da. Er verstand kein Wort. Ihre Stimme wurde lauter. Dann ging das Leuchten in die Dimension des Klanges über. Sie versuchte etwas, eine Magie, aber mit einem Mal wurde ihm klar, dass es ihr hier, in dieser Kapelle als heidnische Halbgöttin, oder was immer sie war, alleine nicht gelingen konnte. Ohne zu wissen, was sie sang, fiel er in ihren Gesang ein. Sie sah ihn. Schickte ihm eine diamantenen Blick, den er als Nicken verstand und einen Ton höher sang. Von den Emporen lösten sich die steinernen Cherubine, kreisten durch den Raum und rückten Lucifer auf die Pelle. Rückwärts schwebte Lysander auf die Weihwasserbecken zu, stellte den Gesang aber nicht ein. Eine merkwürdige Sprache, von der er glaubte, sie verknotete seine Zunge. Nach Augenblicken begann ein Ziehen. Lucifer, wie erstarrt, zuckte mal links, mal rechts, denn an ihm wurde gezogen. In alle Richtungen gleichzeitig. Lysander tauchte seine imaginären Hände ins Weihwasser und schüttelte sie in Luces Richtung aus. Der starrte mit einer Miene, die fast wie Angst wirkte, auf die Frau. Dann auf die Kuppel. Dann verpuffte er und verschwand. Eiskristalle stürzten zu Boden. Erschreckt duckte sich Lysander weg, kroch zu Damiano und nahm dessen geschundenen Engelsleib in die Arme. Es regnete Eis, unaufhörlich stürzten die Kristalle hinab, aber an Luisa vorbei. Das hatte eindeutig mit ihrer Religion zu tun, resümierte er, und zog Damiano näher an sich. In dessen weit aufgerissenen Augen stand das nackte Grauen. „Was ist...was war..“
„Schon gut“, Lysander strich dem Bengel über den Schopf, „Es wird alles gut. Das war Lucifer, Okay. Aber jetzt ist er weg.“
Über Damianos Kopf hinweg sah er Luisa an, die mit dem steinalten Buch in Händen zu ihnen rüberkam und sie überhaupt nicht sehen dürfte. Und sie sah sie nicht. Sie schien es nicht glauben zu wollen. Wie eine Blinde tastete sie in der Luft herum, wo sie lagen. Dann machte sie ein verwirrtes Gesicht, schüttelte den Kopf und wollte gerade gehen, als Lysander einen Entschluss fasste.