Auf ihrem Marsch sahen sie weder Horizont noch Ende. Da war nichts als Wüstenei und Jammer.
„Hast du keine Angst?“, Lysander, der immer noch Luisas warme Hand umfasste, sah sie an.
In unmittelbarer Nähe rollten sich mehrere nackte Menschen, Männer und Weiber, mit schmerzverzerrten Gesichtern im Staub zwischen Felsentrümmern. Die einen lagen auf dem Bauch, die anderen auf dem Rücken, andere versuchten auf allen vieren, der Pein zu entkommen, kamen aber nicht an sie heran.
Luisa blickte auf die Menschen, die nicht zu fliehen vermochten.
„Ich kann mir Schöneres vorstellen, aber ich fürchte mich nicht“, sie zuckte mit dem Kinn zu dem Normannen, der forsch vorneweg schritt, dabei im Gespräch mit Vergil, der den verzagten Engel Damiano am Mantelzipfel hängen hatte, „Für ihn scheint es eine willkommene Abwechslung zu sein.“
In der Tat. Der Mann marschierte frohgemut voraus, als wäre das ein Abendspaziergang durch eine wasserlose Ebene. Die ausgestreckten, vor Schmerz schreienden Gestalten auf dem ausgedörrten Boden entlockten ihm ein kleines wehmütiges Lächeln.
Aber da war kein außerweltliches Entsetzen inmitten des Allnichts, so als wäre er das gewöhnt.
Lysander kam das ungewöhnlich vor und rannte ein paar Schritte. Als er neben dem Normannen war, fragte er: „Seid Ihr hier schonmal gewesen?“
Der Mann hob die blonden Brauen. „Nein, warum?“
Unverdrossen liefen sie weiter.
„Weil es mir scheint, als wäret Ihr der einzige unter uns, den das hier nicht schreckt.“
Robert Hauteville klopfte ihm die Schulter. „Wir nehmen das mal so hin und sehen, was sich draus machen lässt“, er zwinkerte ihm zu, dann blieb er plötzlich stehen und legte die Hand wie einen Schirm an die Stirn. Alle folgten seinem Blick. Pferde kamen angeflogen, nur auf einem ein Mann, der sich, näher kommend, als voll geharnischt entpuppte. Sie blieben stehen, lauschten den donnernden Hufen und waren durchzuckt von unguten Gefühlen. Nur der Normanne stand unbefangen und wartete ab.
„Seid gegrüßt“, der fremde Reiter legte eine Hand aufs Herz, „Mein Gebieter heißt euch willkommen, und bittet euch, zu reiten, damit“, der Kerl räusperte sich verlegen, „damit, äh, so sagte er es, wir heute noch fertig werden.“
Lysander warf den Kopf in den Nacken und lachte lauthals. Alle guckten ihn irritiert an. „Das ist Luce“, sagte er lachend und hob eine Schulter, „Sein wahres Wesen hinter den blumigen Reden.“
„Nun“, die Augen des Mannes zuckten im behelmten Antlitz ungeduldig, „Wollt Ihr aufsitzen.“ Er selbst glitt vom Sattel und band von einem der Pferde mehrere Helme ab, die er verteilte.
„Helme?“ Robert Hauteville guckte zweifelnd.
„Zieht ihn mal lieber an“, Ly saß schon auf, „Ich kenne ihn. Wenn er Lust drauf hat, lässt er Hagel splittern, scharf wie Diamanten.“
„Nein“, der Geharnischte klang beleidigt, „Wir müssen durch einen kurzen Flammenschauer.“
Alle stülpten die Helme auf, erklommen die Pferde und jagten hinter dem neuen Führer her.
Hinter dem Jammertal stürzten züngelnde Flammen auf sie hinab, bis sich die Landschaft veränderte und der Anführer die Geschwindigkeit drosselte. Um sie herum wurde ein Wald dichter, der Feuerregen war zu Ende.
Es gab keinen Weg, keinen Pfad zwischen den Bäumen, deren Blätter nicht grün, vielmehr von düsterer Farbe waren. Die Äste waren gekrümmt und knotig und voller giftiger Dornen.
„Das sind die Selbstmörder“, zischte Vergil, „sie werden hier zu Bäumen.“
„Pft“,kam es aus Luisas Helm blechern, „Blöde Idee.“
Langsam lenkten sie die Pferde durch das Unterholz. Darin die Bäume stöhnten, ächzten, und windeten sich. Warfen Blätter wie Hilferufe auf sie hernieder, bis sie am Rande des Waldes standen und auf eine Stadt blickten.
„Hier stinkt es“, blechte die Walküre, zerrte sich das Ding vom Kopf und betrachtete ihre Haarspitzen, „und meine Haare sind unten verbrannt.“
„Setz ihn lieber wieder auf“, Ly traute Luce nicht und er hatte seine Gründe, „ein Helm ist...“
„Scheiße für meine Frisur!“, sie wühlte in ihren rotgoldenen Locken, „Guck mal! Ruiniert! Keine Frisur mehr und die Spitzen verbrannt!“
Mit einem schiefen Lächeln im Gesicht schüttelte der Normanne belustigt den Kopf. „Seht euch lieber mal das an.“
Vor ihnen lag Dis. Die Höllenstadt.
Über ihr türmte sich schwarzes Gewölk wie Kuppeln und Tore. Es stank kreuzerbärmlich aus dem Graben, der die Stadt umfasste wie ein Ring. Aber die Zugbrücke war hinabgelassen, das Fallgitter hochgezogen, wie eine Einladung. Der Normanne ritt an, die anderen hinterher.
„Im Graben schwimmt....“
„Ich will es gar nicht wissen, Luisa“, bat Ly mit den wachsamen Augen voraus.
„Aber es ist....“
„Wir ahnen es“, gab der Normanne zurück.
Sie zügelte ihr Pferd und spähte in den Graben. Dabei rümpfte sie die kleine Nase. „Es ist Blut!“, schrie sie, „Nicht, was ihr denkt, verdammt!“
„Aber es stinkt“, bemerkte Ly kühl, „lasse uns weiter.“
„Nein, guck mal.“ Luisa beugte sich über den Hals des Tieres, „da schwimmen Leute drin.“
„Schwimmen würde ich das nicht nennen“, lachte der Normanne und nahm seinerseits den Helm ab, „Es sieht so aus, als wollten sie abhauen.“
Endlich kam auch Lysander näher und sah hinab. Dort unten floß ein Blutstrom. Immer wieder versuchten verschmierte Gestalten, hinaus zu klettern. Aber sie wurden von kleinen roten Teufeln erbarmungslos mit glühendem Dreizack zurückgetrieben. Dennoch, einzelne nackte Gestalten erreichten das schimmelige Ufer und wankten über die Böschung, wo sie von anderen gehörnten Teufeln mit gewaltigen Peitschen erwartet wurden.
„Die Mörder, Räuber und Brandschatzer leiden hier“, erläuterte der Dichter.
„Die haben bloß rote Latexanzüge an!“, Luisa wedelte aufgebracht mit der Hand zu den Teufeln, „Und die Hörner sind bestimmt auch nur aufgeklebt!“ Ihre Mundwinkel konnten sich nicht entscheiden, ob sie lachen oder sich empört verziehen wollten.
„Das ist ja ungemein interessant“, Ly trieb sein Pferd in die menschenleere Stadt, „Aber die Peitschen sind echt. Wir sind hier nicht auf einer Besichtigung.“
Der Normanne zuckte die Achseln und folgte ihm. Schließlich trabten sie gemächlich dahin und hielten vor einem Palast.
Kleine Teufel neigten ihre gehörnten Schöpfe zum Gruß und aus dem Atrium grüßte mit der Hand eine Gestalt, in der Lysander Lucifer höchstpersönlich erkannte. Er schwang aus dem Sattel und stürzt auf ihn zu. Dabei riss er im Gehen den Helm ab.
„Hier sind wir“, spie er aus, „Sag, was du zu sagen hast, damit wir gehen können.“ Er rieb sich den angespannten Nacken und versuchte, zu ignorieren, wie erlesen Luce aussah. Sein muskulöser schlanker Körper war nur in eine Art römische Toga gehüllt und seine blauen Augen standen in Sachen Tiefe und Ausdruck denen des Normannen nicht nach. Nun blitzten sie amüsiert. „Ich sehe, das neue schwere Helmmodell ermüdet deinen zarten Nacken“, er streckte die Hand zu Ly aus, um ihn am Nacken sachte zu berühren, aber der duckt sich schnell unter der Berührung weg, „Soll ich anweisen, dir stärkende Essenzen in heißen Ölen einzumassieren.“
„Gott bewahre.“
„Du kannst es die kleine Walküre machen lassen.“ Seine Augen huschten zu der Gruppe, die alle abgestiegen war und mit den Helmen unter dem Arm näher kamen.
„Halt dein Schandmaul, Luce. Und wage es nicht, ihr zu nahe zu kommen.“
„Ich? Bloß nicht. Diese Asgard-Figuren sind Gift. Ich gebe zu, die kriegerische Begegnung mit ihr in der Kapelle hat mir gereicht.“ Er legte die Hand leicht auf Lysanders Rücken, um ihn in das Innere eines großen Raumes zu lotsen.
„Du hast gesagt, du wüsstest, wo der fehlende Mann ist, den wir aus der Hölle holen sollen. Natürlich weißt du das. Die Frage ist nur; warum solltest du uns helfen?“
Luce blieb stehen und musterte den Normannen, der ihn um Haupteslänge überragte.
„Sehr begierig wäre ich, ihn meine Hölle verlassen zu sehen.“
„Was?“
„Wenn ich gewusst hätte, dass die Walküre ihn rausholen will, hätte ich sie nicht zu hindern versucht.“
Ly konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Weil er sich alles zu eigen macht.“
„Ja“, Luce nickt, marschierte jovial auf den Normannen zu, „Willkommen“, er klopfte dem auch die Schulter, „Ich habe es gesehen. Wie Ihr hirnklar meine gesamte Verteidigungsanlage maßet, als überlegtet ihr, wie sie zu nehmen wäre.“
„Nenne es meine Natur. Es wäre besser, uns keine Schwierigkeiten zu machen, bevor die Versuchung übermächtig wird.“
Luce wurde ein wenig blass um die Nasenspitze. „Wir werden darüber reden. Bitte tretet ein.“
Linde Wärme, nicht unangenehm, strömte ihnen aus dem Raum entgegen, in dem gemütliche Sessel um eine große Feuerstelle verteilt standen. Sie setzten sich.
Vergil an einen der Sessel am Rand, Damiano zwängte sich an die Lehne und versuchte sich unsichtbar zu machen, nur Ly, Luisa und der Normanne setzten sich mit wachsamen, aber furchtlosen Mienen hin.
Der Normanne strahlte. Lucifer lächelte zurück.
Es wurde fast gemütlich, als einige kleine Teufel Getränke auf silbernen Tabletts herbei brachten.
„Da hast du gedacht, du könntest mich in deinem Burggraben ertränken“, Robert Hauteville prostete dem Teufel zu.
„Ich irrte damals folgenschwer“, ein flüchtiges Erröten floß über Luces helle Haut, „Fühlte mich unbesiegbar. Es ist ja nicht so, als gäbe es hier unten keine großen Feldherren“, er zuckte mit dem Kinn zum Fenster, „Im Blutstrom leidet Alexander der Große.“
„Aber nicht Odysseus“, spitzte Luisa arrogant, „Und er hier ist listenreicher als Odysseus.“
„Das habe ich gemerkt“, leise gesprochen war das. Luce drehte den Silberpokal mit Wein in seinen Händen, „Ich werde euch die Informationen geben, die ihr haben wollt. Und dann verschwindet.“