Als sich die klinkenlose schwarze Tür wie von Geisterhand knarzend aufschob, standen sie bei Vergil und guckten hindurch. Luisa, hochaufgerichtet, entschlossenen Antlitzes, Lysander von perlenhafter Schönheit, mit wachsamer Unruhe in den großen Augen. Und Damiano. Ängstlich presste er sich an Ly. „Muss ich wirklich mit? Ich meine, ich bin doch nur...“
Er bekam nur eine unsäglich ablehnende Schulterdrehung zur Antwort. Sie stierten in den Schlund. Oben Einöde in der Luft, strahlenklares Licht in schwarzer Bläue, unten irisierender Nebel voller Geräusche. Zikaden kreischten, Bienen brummten und Wespen summten, Falter flatterten und surrten, Wolken von Insekten, doch keine kam hinaus. Schiere Menschenmengen irrten auf weitem Raume sich juckend und kratzend, im Kreise umher. Winselnd, die Gesichter und Leiber überzogen mit blutigem Schorf.
„Iiihhh“
„Damiano reiße dich zusammen“, Lysander wandte sich an den gebeugten alten Mann in seinem roten Mantel, „Wir müssen dadurch?“
„Sicher“, zuckte der gelangweilt mit der Schulter, „Es sind nur die Jämmerlichen, die nie wirklich gelebt. Sie sind nackt, wie ihr seht, und werden viel gestochen.“
„Werden wir auch..?, Damiano wand sich, „ich meine...“
„Bist du eine laue Seele?“, der Dichter hoch eine graue Braue.
„Bis jetzt sieht es so aus“, spitzte Luisa, „Wollen wir hier festwachsen oder endlich los?“
Sie setzten einen Fuß hinein und die anderen folgten ihr über das am Boden kriechende und kreuchende Gewürm.
“In welche Richtung?“ Luisa wedelte eine Schar Bienen aus ihrem Gesichtsfeld, „Und Damiano, hör auf, dich im vorauseilenden Gehorsam zu kratzen!“
„Äh, natürlich.“ Er verschränkte die Arme hinter dem Rücken.
„Seht geradeaus“, riet Vergil.
Ein nackter, schorfüberzogener Mann taumelte gegen die Gruppe. „Lasst mich hier raus“, jaulte er, „ich habe nichts getan!“
„Genau das scheint ja das Problem zu sein“, Luisa trat ihn weg, „deine elende Untätigkeit. Also wohin? Geradeaus?“
Geradeaus, wo ein Fluss wie eine ausgegossene Phiole Mondlicht dahin schwappte. Lange blickten sie über die Insektenwolken hindurch in die monddurchwebte Landschaft, zu der sie sich zu kämpfen hatten.
Dann machte Luisa erneut den Anfang.
Die anderen folgten.
Panzerkörper, Myriaden von Kakerlaken knirschten brechend unter ihren Schritten, nur um sich neu zusammenzufügen.
Im Jammer und Winseln der lauen Seelen marschierten sie forsch durch die Vorhölle und wunderten sich am Ende, wie schnell sie hindurch kamen. Abflauende Geräuschkulisse und als sie sich herum drehten, konnten sie die Tür zwar nicht mehr sehen, aber das Elend der Vorhölle, das abgeschnitten hinter ihnen lag, und den Fluss vor ihnen.
„Und jetzt“; Lysander schaute sich in der schwarzen Bläue um, „Ich sehe hier kein Boot.“ Und überhaupt wunderte er sich, so weit gekommen zu sein. Die Tatenlosigkeit Lucifers gab ihm Rätsel auf, aber er gemahnte sich, aufmerksam zu bleiben. Je länger sie unbeschadet weiter kamen, desto eindrucksvoller und gefährlicher könnte Luce’s Angriff werden. Doch er wollte die Sorge mit den anderen nicht teilen, womöglich würde Damiano erbärmlicher in seiner Furcht.
Während sie suchend und ratlos umher tappten, rauschte jäh ein weißhaariger Kerl im Matrosenhemd heran. „Weh‘ euch, ihr verruchten Seelen!“, mit der Hand fuchtelte er in der substanzlosen Luft herum, „Hofft nimmermehr, den Himmel zu erblicken!“
„Hört mit dem Gesülze auf!“, schrie Luisa und stemmte die Fäuste in die Hüften, „Hast Du ein Boot?“
„Zum Ufer jenseits komm ich euch zu führen. In ewiger Finsternis und Frost und Gluten.“
„Jaja, eine Gluten-Allergie hab ich nicht. Beweg deinen Arsch und hol das Boot herbei.“
Verdutzt hielt der Weißhaarige inne und schickte einen hilfesuchenden Blick zu Vergil, der gebeugt zwar, schief grinste. „Verzeiht ihre ungeschickte Rede, Charon.“
„Äh, ja“, der Angesprochene guckte von einem zum anderen, „Moment, ich hole das Boot.“
Nackte und müde Personen wankten wie Zombies an ihnen vorbei, derweil sie wartend am Ufer standen. „Hör auf, mit den Zähnen zu knirschen, Damiano“, schalt Lysander.
„Das bin ich nicht“, er zuckte mit den Daumen zu den Sündern, „das sind die da.“
„Das ist ja vielleicht ein ungemütlicher Ort“, schimpfte Luisa und drehte sich zu Vergil um, „Weißt Du überhaupt, wo genau wir hin müssen.“
„Ich bin nicht sicher, edle Dame“, er rieb sich die Hände, als wären sie kalt, „Robert Guiscard, sagt ihr?“
„Hauteville“, mischte sich Lysander ein, „Nicht Guiscard.“
„Das ist dasselbe“, erklärte sie, „Guiscard ist nur sein Spitzname und dieser Dante hat ihn gesehen, als er hier unten war.“
„Da ist das Boot.“
Es hielt aus der Dunkelheit kommend auf sie zu und schleifte über den Sand.
„Steigt ein“, befahl Charon, „Die Ruderer sind taub.“
„Wenigstens gibt es Ruderer“, maulte Damiano, als er in das schwankende Boot kraxelte.
„Ich kann mich nicht erinnern, dass du eben gerudert wärest“, Ly schenkte ihm einen strafenden Augenaufschlag, „Aber wenn du wieder herum mosern kannst, ist es mit der vielbeschworenen Angst ja nicht mehr weit her.“
„Er denkt, ab jetzt wirds gemütlich“, Luisa zwängte sich neben Ly auf die schmale Holzbank, „jetzt, wo wir den Kakerlaken-Scheiß hinter uns haben.“
„Wenn er sich da mal nicht täuscht.“
Das Boot schwankte, als einer der Ruderer es abstieß. Sofort glitten sie in der Dunkelheit dahin. Der kühle Höllennebel, der sie übersponnen hatte, wurde dünner. Nicht dass er sich gemindert hätte, er waberte intensiver jetzt, aber wie Dinge, die sich überziehen mit einer Schicht aus verglasendem Eis.
Luisa drückte sich näher an Lysander heran.
„Ist dir kalt?“, einen Arm legte er um sie, und zog sie an sich.
„Nein“ murmelte sie, „Kälte bin ich gewöhnt. Es ist nur...ich weiß auch nicht.“ Sie vergrub ihren Kopf an seine warme Brust. Er verstand, was sie meinte, wusste es selbst nicht zu benennen.
Das Boot lief über völlig stilles Wasser auf eine Art Hafen zu, der nahezu irdisch aussah. Verwundert blickten sie sich an. „Ich würde nichts drauf geben, Luisa, das ist nur Luce’s Blendwerk.“
Sie nickte und stand auf. Das Boot schaukelte.
„He!“, Damiano krallte sich an die Bordwand fest.
„Ich mach doch gar nichts!“, schimpfte sie, schwang ein Bein über die Bordwand, stürzte aber zurück.
Sogar Vergil und die stummen Ruderer sahen besorgt aus. Das Boot wackelte und fing an, sich zu drehen. Der Bug drehte sich zuerst sachte, dann immer schneller.
„Mir ist“ sie klammerte sich an Lysander fest, „Mir ist schwindelig.“
„Mir auch!“,kreischte Damiano, „Verdammt, hier stimmt was nicht!“
Natürlich nicht, wir sind in der Hölle, aber Lysander sagte nichts, hielt die Walküre umklammert, streckte schutzbietend eine Hand, über ihren Rücken hinweg zu Damiano aus. Der stürzte herbei und schmiegte sich an die beiden.
Das Boot drehte sich wie ein Kreisel und rings erzitterten die düsteren Gefilden.
Lysander brach der Schweiß aus. Donner rollte heran, geleitet von zuckenden Blitzen. Er fühlte, wie ihm die Gefühle verloren gingen.
„Gucken Sie nicht so überrascht“, keifte Luisa sich aufbäumend in Vergils Richtung, aber eine weitere Erklärung brachte sie nicht mehr raus.
Der Schwindel übermannte sie gänzlich. Sie drehten und drehten sich in einer unendlichen Abwärtsspirale und Lysander dachte, sie hatte recht. Warum die vorgetäuschte Überraschung?
Plötzlich drehte sich das Boot langsamer, die Spiralen wurden sachter, bis es so jäh stand, als wäre kein Wasser unter ihnen.
Dunkelheit, allumfassende Dunkelheit überkam sie.
Sie konnten einander nicht sehen. Lysander sah gar nichts und niemanden. Vergil nicht, nicht Damiano, geschweige den die Ruderer. Nicht Konturen, keine Augen.
Nur, und das erschien Lysander wie ein Wunder, Luisa.
Durch die Finsternis schnitt ihr Kopf als flimmernde Transparenz, getragen von etwas, was ihm wie Lilien und Diamanten schien.
Es ist, weil sie nicht wie wir ist, dachte er ehrfurchtsvoll, es ist, weil sie von dort oben kommt. Aus Asgard.
Eine Gedanke, der ihn mit Mut erfüllte, wäre in seinem Herz in jener Sekunde für etwas anderes Platz, als für die tiefe, unendliche Liebe, die er empfand. Liebe fühlen zu können, hier unten unten in der Hölle, kam ihm wie eine Verheißung vor. Wo er eben doch noch nichts gefühlt hatte.
Ihre langen Augen in den weißen Schalen bekamen einen undurchsichtigen Blick. Sie hob den Kopf und schaute über sie hinweg in eine unzulängliche Ferne. "Da", hauchte sie.
Und alle sahen hin.
In den Abgrund.
Und in der Tat, dort fanden sie sich.
Auf dem schwarzen, wie abgeschnittenen Wasser am Rande der schmerzensreichen Niederung des Abgrunds.
Damiano atmete zuerst zischend, dann immer hektischer ein und aus. "Was ist das", jaulte er, "Was ist das?"
Lysander legte einen Arm um den Jungen. "Was hast du erwartet? Das hier ist nur das Vorgeplänkel. Das da unten, das ist die Hölle."
"So düster", wisperte die Walküre ohne die Augen vom Abgrund zu lassen, "so tief. So neblig."
Beide schlanken Hände legte sie sich aufs Antlitz, ließ sie dort eine Weile liegen und kam mutiger hervor. "Wir wussten, auf was wir uns einlassen."
Ich liebe dich, wollte Lysander sagen, während er Damiano festhielt wie ein Baby, Ich liebe dich. Nie zuvor gab es eine Frau wie dich.
"Doch", gab sie kühl zurück als habe sie seine Gedanken gelesen, "weil es mich gab, du Tor. Weil eine Walküre nur werden kann, wer eine mutige und tapfere Frau gewesen war. Eine lebendige menschliche Frau. So gab es mich in einer Zeit, die Jahrhunderte zurück liegt. In der es dich auch gab, weil du ein raumzeitloser Engel bist. Und doch hast du mich nicht gesehen."
"Verzeih mir", wisperte er und fühlte die Perlen seiner Tränen, "vergib mir."
Sie sah ihn milde an. "Da gibt es nichts zu vergeben. Ich hatte meinen Mann."
Wie ein Messer fuhren diese Worte durch sein Herz. Warum? Warum schmerzte das so?
Sie fing an, das Boot zu wippen.
"Nein!", kreischte Damiano, "Hör auf! Wir werden hinab stürzen!"
"Deshalb sind wir ja wohl hier, oder", spie sie aus und schaukelte stärker.
Lysander, der sich wieder gefangen hatte, weil ihm Eifersucht und Missgunst auf einen vor Jahrhunderten gestorbenen Sterblichen wie barer Unsinn in dieser Lage vorkam, gab ihr Recht. Er stand auch auf und brachte das Boot in Bewegung.
"Jetzt steigen wir Hernieder!", rief er lachend.
"Wir kommen!", jauchzte Luisa
Sie schaukelten und wippten. Ein tiefer Seufzer erfüllte die Dunkelheit
Und nieder fielen sie.