Nach dem Essen warf Lysander einen rastlosen Blick in die Runde.
Viele lagen ermattet und trunken in den orientalischen Kissen, die an den Wänden des hohen Raumes aufgeschichtet waren. Leise Musik klang von irgendwoher und ein paar Mädchen vollführten beim Tanz entzückende Verrenkungen.
Kichern klirrte über ihn hinweg, das ihn vage an Damiano erinnerte. Der Junge kannte keine Disziplin. Es juckte in ihm, dem gehörig die Leviten zu lesen. Aber es eilte auch. Sie mussten so schnell wie möglich hier raus.
Er verstand die Gelassenheit dieses Normannen Robert Hauteville nicht.
Sie sollten sich beeilen, den zweiten Mann zu finden, und diese beiden sogenannten Helden in Walhalla abzugeben.
Immerhin war Luisa mit dem Hauteville im Kontor des Minos verschwunden, um die gigantischen Bücher herbeizuschleppen, die allein das Todesjahr umfassten, in dem der fehlende Normanne verstorben war. „Unfassbar!“, schrie sie, als sie ein Buch auf die, mit schmutzigem Geschirr übersäte Tafel wuchtete. Eine Staubwolke stob auf.
„Was darin für ein Dreck herrscht! Der Raum ist überall mit Spinnweben überzogen.“
„Wir sind in der Hölle“, schnaubte Ly Ungemach und fing stehend sofort in einem Buch zu Blättern an. Die pergamentenen Seiten knisterten.
Robert Hauteville nahm sich das dritte Buch vor. „Genau“, sagte er dabei, „und wo ich schon mal einen Engel hier habe, kann er mir eine Frage beantworten.“
Lysander blickte von dem dicken, in Leder gebundenem Buch auf.
Eine schmale Braue fragend gehoben.
Der Normanne legte den Kopf zurück und lachte schallend.
„Was?“ , fragte Ly verwundert.
„Du erinnerst mich an einen Freund“, winkte der andere ab, um nachdenklicher hinzuzufügen, „der hier nie ankam. Wo kommen diejenigen hin, die an nichts geglaubt haben?“
„Ist das die Frage?“
„Eine“, er machte eine unnachahmlich leichte Handbewegung zu Luisa, „Wir hätten, genau genommen, eine ganze Liste von Fragen. Mir sind hier unten Begebenheiten aufgefallen, die ich schwerlich nachvollziehe.“
„Zum Beispiel?“
„Wenn all diejenigen, die inbrünstig gelebt haben, für ihre jeweilige Inbrunst leiden, warum straft ihr auch die, die dem, was ihr Sünde nennt, nicht anheimgefallen waren?“
„Ich verstehe nicht.“ Lysander sah ehrlich verwirrt aus.
„Er meint die lauen Seelen",spitzte Luisa, "Ihr bestraft alle, die nicht lau waren. Die Lauen aber auch. Die werden mit den Insekten geplagt. Das ist totaler Humbug. Mal so, mal so. Wie wollt ihr es denn jetzt?“
Lysander fing wieder mit dem Blättern an. „Ich kann das nicht beantworten“, brummte er, „mein Vater war mit dem Konzept Hölle nie einverstanden und hat genau das zu bemängeln. Aber eine schlüssige Antwort auf diese Fragen haben wir nie bekommen.“ Er blickte hoch in das wachsame Normannenlächeln. „Und wo die sind, die nie geglaubt haben?“ Er wedelte mit der Hand in der substanzlosen Luft. „In der Vorhölle, nehme ich an. Aber es wäre vermessen, anzunehmen, Lucifer hätte sie alle bekommen. Euer Freund kann überall sein und nirgends.“
Er warf den Kopf zu der kleinen Gruppe um das bauchtanzende Mädchen. „So wie mein lieber Freund Damiano“, zischte er, „der seinen Arsch hin her bewegt und arbeitet. Sofort!“
Robert Hauteville zog den Knaben am Kragen herbei. Der blinzelte ihn trunken an. „Was denn?“
„Suchen“, grinsend legte der Normanne seine Hand auf eines der staubigen Bücher, „Jetzt. Sonst wird dein Freund sauer.“ Er tätschelte dem Blonden die Wange.
„Das gibt es doch nicht.“ Luisa blätterte wie verrückt. Staubkörner tanzten um sie herum, leuchtend im honigfarbenen Licht der Kerzen. „Der ist nicht zu finden.“
„Wie war er denn so?“ Ly hielt in der Suche inne. „Ich meine, damit wir gezielter Suchen können. Die Bücher sind eingeteilt in die Verfehlungen.“
„Er eroberte gern“,der Hauteville griff sich einen silbernen Weinbecher, „arrogant war er. Aber auch hilfsbereit. Hat mir eine Schar Schiffsbauer geschickt, als ich plante, Sizilien zu erobern“,er schaute zu Luisa, „dabei fällt mir ein. Mein Bruder Roger? Ist der auch an der Heldentafel?“
„Äh, nein?“
„Gott sei dank, um mal diesen Gott hier zu bemühen. Er ist ein renitentes Arschloch. Wahrscheinlich hat er einen Ehrenplatz in eurem Himmel.“
„Es ist ja nicht so, als wären im Himmel nur Idioten“, giftete Lysander, „können wir die Konversation auf oben verschieben? Bitte?“
Der Normanne zwinkerte der Walküre auf eine Weise zu, die Lysander nadelspitz stach. Stumm blätterten sie weiter, bis sie ein schriller Pfeifton aufblicken ließ.
„Was ist das?“, wimmerte Damiano.
„Nicht eben ein Held, der Kleine“ abschätzig grinsend zuckte der Hauteville mit dem Daumen zu dem Jungen, „ein Bote. Gelegentlich schickt er Boten, euer Freund Lucifer.“
Gemeinsam traten sie in den Gang, wo sich die Pforte ein Stück aufschob. Heraus schlüpfte ein Mann, groß und hager.
„Er schickt immer denselben“, Robert Hauteville klang belustigt und marschierte auf den Gast zu, „Wie geht es Dir, Girolamo, mein Freund?“
Verärgert hob der Mann die Hakennase, schob die Unterlippe vor und zog den schwarzen Kapuzenmantel enger um die mageren Schulterknochen. Eine glatte dunkle Haarsträhne fiel ihm dabei ins todweiße Angesicht. „Mein Herr sendet von den Zinnen seiner Stadt Dis hinab eine Einladung. Er, der Herrscher über die Menschen, größer als die beiden Ajaxe.“
„Mit homerischen Vergleichen sind wir schon ausreichend versorgt“, der Hauteville legte jovial einen Arm um die Schulter des Besuchers und lotste den Widerstrebenden durch eine der Türen, „Was lässt ihn glauben, wir kämen in das Innere seines absonderlichen Reiches?“
„Er wird den Wollüstigen hier gnädig sein Reich überlassen. Sie nicht weiter plagen mit stürmischen Winden, wenn Ihr seinem Rufe zum Tee folgt.“
Robert Hauteville schien erheitert. „Girolamo. Ich habe nicht auf diese Erlaubnis gewartet. Das weißt du. Das weiß er. Dieser Höllenkreis hier ist längst normannisches Eigentum.“
Der magere Hüne zuckte ungeduldig auf. Stumm überreicht er einen Papyrus an Lysander, der ihn aufrollte.
Las.
Dabei nachdenklich die Brauen zusammenzog.
Dann schaute er den Normannen an. „Er wird uns sagen, wo dieser Guillaume ist. Er schreibt, dass wir ihn ohne seine Hilfe nicht finden.“
„Das ist eine Falle“, Damiano versteckte sich hinter Ly, „Das ist eine Falle, ich schwöre es.“
„Ist es nicht“, der Bote rümpfte die Nase, „Ich werde als Geisel hierbleiben.“
„Das heißt schon was“, Robert klopfte dem Mann die Schulter und eine Wolke Staub umwehte ihn sofort, „dieser hier ist sein Liebling.“ Er schwang herum und schnappte sich seinen Mantel von einem Stuhl. „Lasst uns gehen.“
Lysander verblieb misstrauisch. „Ich bin nicht sicher.....“
„Wenn Du willst, nehmen wir einen Teil der Garde mit.“
„Ich weiß nicht so recht....“
„Na, komm schon“, die blauen Augen blitzten amüsiert, „Es ist sterbenslangweilig hier unten und ich hatte jahrzehntelang nicht das Vergnügen, auf den hohen Herrn Lucifer zu treffen. Die Gespräche mit den Flachpfeifen hier locken wenig.“
„Darf ich hierbleiben?“ Zusammengekauert stand Damiano da. Seine Augen irrten von einem zum anderen.
„Nein. Du kommst mit.“
„Wenn er als Geisel hierbleibt“, jammerte Damiano, „Wer wird uns leiten?“
Aller Augen huschten zu Vergil, der mit einem Weinbecher in der Hand im Türrahmen lehnte und nickte. Zu viert versammelten sie sich vor dem doppelflügeligen Tor.
Mit schrecklichem Krachen schwangen die Tore weit auf und gaben den Blick auf eine verstörende Landschaft preis. Eine weite bleiche Wüstenei, bespickt mit Bäumen, die in einen unendlichen, farb-und luftlosen Himmel ragten.
Robert Hauteville rollte die Schultern. „Jetzt gehts vorwärts auf geheimen Pfade zwischen den Martern hin zum Wall der Satanssatdt Dis.“
Vergnügt stieß er Luisa an. Ihre Wangen glühten und Lysander griff besitzergreifend nach ihrer Hand.