Als sich die Türen aufschoben, eröffnete sich ihnen ein runder Raum. Honigfarbenes Licht legte sich in überlappenden, blütenblättrigen Schichten auf alles und jeden darin. Das gigantische Rund wurde mittig von einem Brunnen dominiert, der von einer Bank umlaufen war, auf der Kissen in allen anschmiegsamen Formen lagen.
Lysander bemerkte die Fenster aber zuerst.
Mit Rahmen aus Eiskristallen, die die verrücktesten und zauberhaftesten Formen stetig wandelten, als wären sie von Leben erfüllt. Doch wenn es ihm gelang, die unendliche Verwandlung zu ignorieren, sah er hinter den Fenstern einen unermesslichen blauen Himmel.
Irgendwo dort draußen musste das Himmelsoktogon sein.
Seine Heimat. Eigenartig, dass er es nicht sah.
Luisa, die weit in den Raum hineingeschritten war, zupfte an seinem Hemdsärmel.
„Mach den Mund zu“, zischte sie und schubste ihn nach rechts, vor eine Empore. Zwei gewaltige, mit Bärenfellen ausgelegten Throne standen darauf, aber nur in einem saß jemand, und das musste Odin sein.
Ein Mann von beachtlicher Größe, gewaltig, ohne dick zu sein, in einem pelzverbrämten Mantel, mit nur einem strahlend dunkelblauen Auge und einem gnadenlos genervten Gesichtsausdruck.
Erst jetzt bemerkte Lysander eine junge Frau mit langem Blondhaar auf der Empore sitzen. Das Mädchen kämpfte mit den Tränen, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. Im Hintergrund hörte er das Klappern von Geschirr, was ihm seltsam anmutete, aber er konnte nicht aufhören, den Gott anzusehen. Lysander wusste nicht, was er erwartet hatte, denn eindeutig war etwas geschehen, dass Gottes Zorn heraufbeschworen hatte. Deshalb verblüffte ihn das Nächste, denn Odin, im Stuhl nach vorne gelehnt, wedelte nachlässig mit einer Pranke. „Ich weiß es, Edda, und ich gebe euch dafür meinen Segen. Was seine Leute dazu sagen, muss er klären, aber deshalb habe ich euch nicht einbestellt!“
Von Luisa, die eigentlich Edda hieß, ging eine große Hitze aus, in deren Strahlen Ly sich gewärmt fühlte.
„Ich danke Euch“, sie neigte den bekränzten Schopf und kämpfte gegen ihre Verlegenheit an.
Odins Lächeln war kaum wahrnehmbar, als er aufstand. „Meine Frau hat die Tafel eingedeckt und es sich nicht nehmen lassen, dein Lieblingsgebäck aufzutischen. Kommt.“
Der Mann schritt die Empore hinunter auf den Tisch unter dem Fenster zu, um den allerlei Leute versammelt waren. Das verheulte Mädchen kam mit und zog sich einen Stuhl vom Tisch, auf den es sich setzte.
Lysander zählte eine junge Frau mit geflochtenen Zöpfen in einem Chiton, die ein dickes Buch vor sich liegen hatte und Thor, der ihm freundlich zu zwinkerte, aber auch das verbarg seine Besorgnis nicht.
„Ah, Edda!“, aller Köpfe drehten sich zu der hellen Frauenstimme um. Eine hochgewachsene Blondine, eine herbstzeitlose Frau, überall so vollendet, dass die Zeit keine schwache Stelle fand, um ihre Kralle einzuhaken, kam mit einem silbernen Tablett aus einer Nebentür, auf dem glänzende Muffins und Cupcakes gestapelt waren. Sie stellte das Ding auf dem Tisch ab und umarmte Edda herzlich. „Da bist du ja“, sie küsste sie links und rechts auf die Wange und wirbelte zu Lysander, mit dem sie genauso verfuhr, „Und der Engel.“
Sie ließ von ihm ab und setzte sich auf einen hochlehnigen gepolsterten Stuhl. „Esst, trinkt“, sie breitete die Arme über dem Tisch aus, „Das ist Balsam für die Seele. Ich habe ihm gesagt, wir können beim Essen reden.“
Sie rieb die Hände wie ein kleines Mädchen. „Und hör mit der Flennerei auf, Lorelei, „niemand gibt dir die Schuld.“
„An was denn“, fragte Ly vorsichtig und linste misstrauisch auf den mit Mandeln bestreuten Cupcake, der auf seinem silbernen Teller platziert wurde.
„Bienenstich“, die Frau verteilte weiterhin Kuchen, „Eddas Lieblingsstücke.“
„Mein Weib Frigg“, stellte Odin resigniert vor und langte nach seinem Methorn, „Bevor ich mit den Problemen anfange und wer sie verursacht hat, lasst mich ein Lob aussprechen“, er hob das Horn in Luisas und Lysanders Richtung, „Robert Hauteville ist wohin er gehört. Auch, wenn ich von Edda nichts anderes als Tapferkeit erwartet habe, gebührt ihr“, er wandte sich an Ly, „und dir meine Anerkennung. Skal.“
Luisa freute sich über das Lob, ihre Wangen wurden noch rosiger, als sie die Geste mit ihrem Trinkhorn erwiderte. Ly tat es ihr nach und nippte an dem Getränk, das ihm überraschend mundete. Er überlegte, ob er zu essen anfangen sollte, und schielte zu Luisa, die sich innerhalb einer Minute über den zweiten Bienenstich-Cupcake hermachte.
Odin aß nichts, lehnte sich nur mit unter dem Tisch ausgestreckten Beinen im Stuhl zurück. „In der Halle der Krieger ist der Teufel los“, brummte er gutmütig, „Da hatten ein paar Leute Rechnungen mit dem Normannen offen. Einer seiner Brüder schwor Rache. Sollen sie machen. Denen war es schon zu lange langweilig“, er räusperte sich, „Dass der fehlende Mann nicht in der Hölle ist, habt ihr herausgefunden. Es ist wahr. Wahr ist auch, dass er im Himmel ist. Ohne Zweifel ist er das. Es ist mir ein Anliegen, es dir, Lysander, zu versichern, denn ich ahne, dass der Weltenlenker es weit von sich weisen wird.“
„Ihr kennt ihn? Den Weltenlenker.“ Lysander versuchte sich an einem Bienenstichteil und riss begeistert die Brauen hoch. Köstlich.
„Flüchtig. Die Mitarbeiter eueres Himmels sind nicht erpicht auf Kontakt mit anderen Kulturen.“
„Sie sind arrogant“, warf Thor ein, der sein Horn aus einer hohen Karaffe heraus auffüllte.
„Das soll nicht Gegenstand des Tischgesprächs sein“, warf Frigg vergnügt ein, „Wilhelm war für die Heldentafel geplant. Wir dachten über Jahrhunderte, dass er da ist und fröhlich kämpft und säuft wie die anderen. Aber als Sigrid hier“, sie deutete auf das Mädchen mit dem Buch, deren Mund rundum mit Bienenstichcreme verschmiert war, „die Totenbücher durchgegangen ist, bemerkten wir erst, wie viele Leute fehlten. Einige sind versehentlich in die elysischen Gefilde geraten. Überwiegend italienische Normannen.“
Lysander nickte, denn das leuchtete ein. Allein aufgrund der räumlichen Nähe zu den Mittelmeergöttern.
„Sie von dort wegzuholen war eine Aufgabe für die weniger erfahrenen Walküren. Die Aufgabe, Männer aus der Hölle zu holen, vertraute mein Gemahl der Tapfersten an.“ Breit grinste sie Luisa an, die sich über den vierten Cupcake hermachte und einverständig nickte.
Lysander begriff, dass sie hier eine hohe Stellung genoss, und konnte nur hoffen, seine wäre im Himmelsoktogon vergleichbar, allein damit dort auch so nachsichtig über seine Verbindung mit einer Walküre geurteilt wurde. Aber er hatte Zweifel.
„Ich verstehe nicht, wie Wilhelm in unseren Himmel kommen konnte“, Ly tupfte sich den Mund mit einer Stoffserviette, „normalerweise nehmen wir dort keine Menschen auf, die aus der Kirche ausgestoßen worden waren. Darauf wird sich der Weltenlenker berufen, wenn ich ihn damit konfrontiere.“
„Es war ein Deal“, Odin lächelte freundlich und zeigte seine starken weißen Zähne.
„Ein Deal?“
„Lorelei, die arme Kleine hat gestern davon erzählt.“
Wovon? Musste man den Leuten hier alles aus der Nase ziehen?
Frigg stupste das Mädchen an. „Sie war mit Loki zusammen. Sie ist schrecklich vernarrt in ihn.“
„Seit Jahrhunderten trifft sie sich heimlich mit ihm“, Odin schien darüber weniger vergnügt, „und verlässt ihren Hügel. Keine Schiffe mehr, die verunglücken. Du solltest deine Arbeit ernster nehmen, Weib.“
Kurz schluchzte das Mädchen auf und schrumpfte in sich zusammen.
„Sie hat erzählt“, nahm Frigg den Faden wieder auf, „dass Loki im Jahr von Wilhelms Tod damit geprahlt hat, zwei schlechte Menschen in den Himmel geschmuggelt zu haben.“ Sie nickte so heftig, dass sich ihr Haar, das wie zwei geflochtene Schnecken auf den Ohren lag, löste und chaotisch um ihren Hals herum liegen blieb.
„Und einer davon ist Wilhelm“, mutmaßte Ly.
„Falsch“, der Ärger kroch in Odins Antlitz zurück. Seine Gesichtshaut nahm eine ungesunde Röte an, „Euer Jesus wollte Wilhelm unbedingt haben. Er hat die beiden anderen aufgenommen, wenn wir im Gegenzug auf Wilhelm verzichten.“
Lysander blieb die Spucke weg. „Ein Deal? Mit Jesus?“, verwundert rieb er sich übers Gesicht, „normalerweise geht, äh...., Jesus keine Deals ein. Warum sollte er das gemacht haben?“
„Es hat etwas mit Liebe zu tun“, sülzte Frigg romantisch, „Und es heißt, dass ihm nichts wichtiger wäre, als die Liebe.“
„Das stimmt schon, aber was genau kann dahinter stecken?“, verwirrt Schaute Lysander von einem zum anderen.
„Das herauszufinden ist deine Aufgabe“, blaffte Odin, „Du bist hier, um zu erfahren, dass sie dich dort oben belügen werden. Er ist im Himmel, egal, was euer Weltenlenker sagt.“
„Auf wen seid Ihr so zornig“, warf Ly ein, „Auf Jesus? Ich meine, es ist doch nicht.....“
„Loki!“, brüllte der Mann einem Donner gleich, „Auf wen denn sonst? Was denkt sich dieser miserable kleine Wicht dabei, ständig an den Bestimmungen vorbei zu agieren!“
Frigg tätschelte die breite Pranke ihres Mannes. „Nun sei mal ruhig. Dafür gleich Ragnarök heraufzubeschwören.“
„Wir haben ihn getroffen“, zwitscherte Luisa, „Bevor wir in die Hölle reisten. Ein Typ war aus Walhalla getürmt, weil er Robert Hautevilles Heimführung verhindern wollte. Er hat uns geholfen.“
„Aber euch nicht gesagt, dass Wilhelm nicht unten ist“, Thor beugte sich über den Tisch und griff nach einem Schoko-Donut.
„Nein“, räumte sie ein, „aber Schwierigkeiten hat er uns nicht gemacht. Wo ist er denn jetzt?“
„Er hat sich in irgendeinem Loch vergraben und überlegt, wo er als nächstes Unheil anrichtet“, grollte Odin und leerte sein Horn in einem Zug. Lysander grübelte. Weshalb sollte Jesus einen Exkommunizierten im Himmel haben wollen?
Augenscheinlich konnten hier alle Gedanken lesen, denn die Antwort kam sofort.
„Weil eure Regeln komisch sind“, schnippte Luisa und rührte sich Honig in ihren Tee, „Wenn jemand exkommuniziert ist, ist er ja nicht gleich böse. Ich meine, mit normalen ethischen Maßstäben gemessen.“
„Er hat die Frau geheiratet, die er liebte“, sinnierte Lysander leise.
„Genau, und euer Papst war dagegen und hat ihn aus der Kirche ausgestoßen“, trillerte Frigg, die die leise schluchzende Sirene in den Arm genommen hatte und sie wiegte.
„Da hätten wir schon mal die Liebe“, resümierte Lysander, „Aber das allein kann nicht der Grund für einen Deal sein.“
„Das frag mal lieber oben. Mehr kann ich dir nicht sagen, Junge“, Odin griff über den Tisch und klopfte Lysanders Schulte, der sich tüchtig durchgerüttelt vorkam. „Bis dahin ruht euch aus. Esst, trinkt und sucht die Badehäuser auf. Morgen ist ein neuer Tag.“