"Er ist nicht hier“, Luce legte die Fingerspitzen aneinander und spielte Bedauern vor.
Widerstand regte sich in Lysander. Gebärden, Mimik, alles sah nach einer Lüge aus. Er schaute die anderen an. In Luisas Miene spiegelte sich Ratlosigkeit. Der Normanne, zurückgelehnt ihm Lehnstuhl, tat verblüfft. „Nicht hier? Er wird kaum im Himmel sein.“
Luce lächelte sanft. „Warum nicht?“
„Er war ein Toller unter den Tollen. Gelinde gesagt war er schlimmer als ich.“
„Moment“, Ly hob die Hand, „Wir sprechen über denselben, oder? Diesen Guillaume, zu deutsch Wilhelm, der Herzog der Normandie war, England eroberte....“
„Und König von England wurde“, der Normanne drehte seinen Weinkelch in Händen, „Ich sagte es ja, er war nicht eben ein Unschuldslamm. Wenn er in eurem Himmel ist und ich hier abhänge, stimmt bei euch da oben etwas gewaltig nicht.“
Deshalb glaube ich ja, dass er lügt, dachte Ly, sagte aber scharf: „Weshalb sollten wir dir glauben?“
„Ly“, Luce klimperte mit den langen Wimpern, „Es ist die Wahrheit. Morgen kannst du eigenhändig meine Bücher durchkämmen. Ich stelle dir Leute zur Verfügung, die dir dabei helfen. Aber nun lasst uns feiern.“
„Feiern?“
„Ly, es ist entsetzlich öde hier unten. Ich habe nie anregenden Besuch. Jeder, der hier aufkreuzt, ist entweder ein Mörder, Brandschatzer, Wucher...“
„Es ist die Hölle“, zischte Lysander und stemmte sich mit beiden Fäusten auf den Tisch, „Was erwartest du?“
„Schon, aber früher, als die Leute sich freikaufen mussten, kamen gelegentlich nette Personen hier an. Die, die nicht genügend Geld für den Ablass hatten.“
„Was du ihnen vergaltest, indem du sie in ihrem eigenen Blut kochtest“, Ly fuchtelte aufgeregt mit der Hand zum Fenster und meinte den Blutgraben, „oder sie Steine schleppen ließest!“
„Nein, das sind meine Diener“, angewidert rümpfte Lucifer die Nase, „Unschuldige bestrafen? Das würde ich nie tun. Aber wenn sie nicht böse waren, kann ich es ihnen hier kaum gemütlich machen, denn wie du schon richtig sagtest, es ist die Hölle.“
„Du bist verlogen...“
„Ly..“
„Hinterhältig und abgrundtief böse.“
Ein schriller Pfiff ließ die Streithähne innehalten. Alle sahen den Normannen, Robert Hauteville, an. „Lysander, setz dich bitte wieder.“
Er atmete schnell, wollte aufbegehren, sank aber doch im Stuhl zurück.
„Diese Streitereien führen zu nichts“, der Normanne schickte ihm einen samtenen Blick, „Er hat dich sehr verletzt, in der Vergangenheit, nicht wahr?“
Lysander sträubte sich. „Woher..?“
„Intelligenz vorausgesetzt, ist euer hitziges Verbalduell leicht durchschaubar. Aber nehmen wir mal an, es stimmt. Glauben wir ihm, dass Wilhelm nicht hier ist. Wo könnte er sein?“
Lysander mühte sich ab, seine Gefühle in den Griff zu kriegen. „Im Himmel oder in den elysischen Gefilden. In Walhalla ist er wohl nicht“, er schaute Luisa an, die den Kopf schüttelten, „Sonst hätte Odin sie kaum runter geschickt, ihn und Euch zu suchen.“
„In jedem Fall irgendwo, wo wir hin müssen. Das heißt, wir werden die Hölle bald verlassen, und ich denke, wir schenken unserem Gastgeber zum Abschied einen abwechslungsreichen und weinseligen Abend. Er hat recht, es ist erbärmlich hier.“
„Danke“, Luce salutierte ihm mit dem Glas und winkte ein Teufelchen herbei, dem er eine Kaskade von Befehlen gab. Sofort schwirrte das rote Wesen davon, um seinesgleichen herbeizuholen, die Speisen und fässerweise Wein herbeibrachten. Gitarren und fiedeln spielten auf, eine Gruppe Bauchtänzerinnen kam entzückend mit dem Nabel wackelnd und Gazestoffe schwingend herein getänzelt. Trommeln und Zimbeln.
Na, klasse, dachte Lysander. „So was gefällt dir, was?“ Seine wütend funkelnden Augen klebten auf Damiano, aber der reagierte nicht. „Damiano?“
Robert Hauteville federte aus dem Stuhl und ging vor Damianos Sessel in die Hocke. Versetzte ihm ein paar sachte Ohrfeigen. Benommen schielte Damiano ihn an. „W-was?“
„Es geht los, Junge. Eine Feier“, der Hauteville sammelte die beiden leeren Weinkrüge neben Damianos Sessel auf und stellte sie auf den Tisch, „Es wäre eine schreckliche Sache, vor Beginn des Vergnügens bewusstlos zu werden.“
Lysander, der beobachtete, wie sich sein vergnügungssüchtiger Mit-Engel die verklebten Augen rieb, schnaubte. „Das macht mal ohne mich. Ich gehe die Bücher durch“, er nagelte Luce mit den Augen fest, „Wo?“
Resigniert seufzte der. „Ich lasse dich hinbringen.“
„Ich komme mit“, Luisa stand auf und nahm Lys Hand.
Als sie den Saal verließen, war die Party in vollem Gange. Das Leben floss in Strömen durch den Raum. Damiano sprang aus dem Stuhl, schnappte sich eine Tänzerin und wirbelte sie wie einen Kreisel in die Mitte der anderen Tanzenden. Der Raum bebte und schwankte von stampfenden Füßen und wirbelnden Leibern und die Kerzenflammen neigten sich wie die Kometen im Windzug der schwingenden Röcke.
Gelächter flog ihnen nach, als sie beide dem Sekretärsteufel, der mit einer Fackel voranging, die Treppen hinauf folgten. Lysander ließ Luisas Hand erst los, als eine schwere Holztür knarzend aufgestoßen wurde und einen riesigen Raum mit Folianten freigab. Die Bücher ruhten in bis zur hohen Decke reichenden Regalen, die über und über mit Spinnweben bedeckt waren.
„Bei allen Asen“, Luisa drehte sich im Raum, „Das ist gewaltig.“
„Wir wissen ja, in welchem Jahr er gestorben ist“, er überstreckte den Hals und drehte sich mit ihr, „Das sollte uns die Arbeit erleichtern.“
Mit den Rücken stießen sie aneinander. Sie quietschte verblüfft, schreckte aber nicht zurück. Mutig legte er eine Hand um ihre Hüfte, zog sie näher an sich heran. Von irgendwoher schien angenehm wehende Luft ihm den Schweiß von der Stirn zu trocknen. Er erschauerte in ihrer Berührung, als sie sachte mit einem Finger die Linie seines Kinns nachfuhr.
Er hatte geglaubt, sie an den Normannen zu verlieren, doch jetzt kam ihr kirschroter Mund näher, berührte fast seine Lippen. Fast. Doch dann löste sie sich von ihm. „Nein“, sagte sie kühl, „erst die Arbeit.“
Sie suchte mit den Augen das Regal nach dem entsprechenden Jahrbuch ab. Lysander schüttelte sich. Wie aus einem raumzeitlosen All fühlte er sich gerissen. „Luisa, ich....“
„Ich liebe dich auch“, sagte sie geschäftsmäßig, „Auch, wenn ich nicht weiß, wo das hinführen wird“, sie griff ein schweres ledergebundenes Buch und wuchtete es ächzend auf den Tisch in der Mitte des Raumes, „du bist ein Engel und ich eine Walküre. Ich denke nicht, dass es in Asgard oder in deinem Himmel einen Plan dafür gibt.“
Er lachte. Obwohl sie den Moment zerrissen hatte, war es genau das, was er an ihr liebte. Ihr Mangel an Romantik. Verhaftet war sie, im Realen und in den Notwendigkeiten. Der vage Duft von Erde, der von ihr ausging, als wäre sie Teil des Anfangs von allem.
Die archaische Kraft ihrer Augen aber wohnte auch in denen des Normannen. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, hörte sie mit dem Seitenblättern auf und sah ihn an. „Seine Gemahlin Alberada erwartet ihn sehnsüchtig in Walhalla. Sein zweites Weib, das seine Herzogin war, wähnte ich, ehrlich gesagt, hier. Aber wenn Wilhelm im Himmel ist, könnte sie es auch sein. Ihr habt komische Regeln. Man muss nicht mal besonders gut sein, um in den Himmel zu kommen. Und selbst, wenn man gut ist, nützt es nichts, wenn man zufällig vor der Geburt Eures Herrn gestorben ist. Da kann man so liebevoll und gutherzig gewesen sein, wie man wollte. Man landet schuldlos hier!"“
„Das war aber am Anfang gut durchdacht“, er suchte sich das zweite Buch desselben Todesjahres heraus und hievte es auf den Tisch. Eine Staubwolke stieg auf, „aber seit sie in Rom einen irdischen Weltenlenker installiert haben, zählt der Schein mehr als die Seele.“
„Hm“, sie fuhr mit dem langen Zeigefinger die Namensliste entlang, „Eben deshalb könnte dein Freund Luce recht haben.“
„Nenne ihn nicht meinen Freund.“
„Er ist einsam“, sie sah ihn an.
Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Mir kommen die Tränen.“
„Ly“, sie nahm seine Hände in ihre, „Sieh dir das doch hier mal an. Der geringste Teil der Teufel ist echt. Das müssen die wahrhaft bösen sein. Aber die Typen in den roten Latexanzügen, die mit den aufgeklebten Hörnern“, sie ließ seine Hände los, „die sind nicht echt und wenn sie nicht echt sind, sind sie nicht böse. Das hier ist schon lange keine richtige Hölle mehr.“
„Da werden dir die armen Seelen, denen wir unterwegs begegnet sind, was anderes erzählen.“
„Das weiß ich!“, sie stampfte mit dem Fuß auf, „Aber das vollzieht sich langsam. Das hier wird zur Farce!“
Sie schwang zum Buch zurück und blätterte verbissen. „Ich glaube ihm. Wilhelm ist im Himmel.“
„Warum hilfst du dann suchen?“
„Um sicherzugehen.“ Sie presste die Lippen zusammen.
„Das bedeutet, der Weltenlenker im Himmelsoktogon hat es uns verheimlicht. Als wir bei ihm waren und er die Namen der Helden hörte, die du nach Walhalla bringen sollst.“
„Überrascht dich das?“, schwungvoll warf sie eine Seite herum, „Das da oben kommt mir durch und durch inszeniert vor.“ Wieder drehte sie sich zu ihm hin, griff erneut nach einer seiner schmalen, aber kraftvollen Händen, „Wenn ich nach Asgard gehe und um einen Termin bitte, werde ich empfangen. Man reicht mir ein Horn Met im Thronsaal, hört sich meine Sorgen an, und wenn man Glück hat, hat Frigg ein paar Cupcakes gebacken. Aber ihr“, sie fuchtelte aufgeregt mit der Hand in der Luft herum, „habt so viele Instanzen! Da weiß doch die eine Hand nicht, was die andere tut.“
Ein Augenblick der Stille senkte sich über sie hinab.
Er sah ihr Herz schwer schlagen, so sauer war sie, und im Stillen dachte er schon lange, wie sie. Zorn manifestierte sich als Knoten in seinem Bauch. Wenn sie recht hatte, konnte sich der Boss was von ihm anhören.
„Komm mit“, an der Hand zog er sie aus dem Raum und die Treppen hinunter. Als sie in den Saal zurückkehrten, lagen die ersten Schnapsleichen in den Kissen. Er nahm Luce den Weinkelch aus der schlaffen Hand.
„Wir gehen hoch“, entschied er, „Jetzt sofort.“
Luce blinzelte trunken. „Jetzt? Sieh dir doch deine Begleiter mal an.“
Er wedelte mit der Hand zu Damiano. Ly stürzte zu ihm hin und schlug ihm an den Hinterkopf. „Setz dich grade, Faulpelz! Wir reisen ab!“
„So scheint es also wahr zu sein“, der Normanne verscheuchte ein leicht beschürztes Mädchen mit einem Klaps von seinem Schoss, „Wilhelm ist oben.“
„Scheint so“, Ly stemmte die Fäuste in die Hüften, „Man hat uns das verheimlicht. Ich will herausfinden, wer.“
"Das Warum wäre interessanter", brummte Robert Hauteville, "An Spenden und Kirchenstiftungen kann es nicht liegen."
„Ich würde gerne mit.“ Luce, jäh stocknüchtern, war aufgestanden.
„Was!“
Luce hob entschuldigend die Hände. „Ich halte das hier nicht mehr aus. Vielleicht lässt sich hieran etwas ändern.“
„Dein Ansehen ist nicht eben.....“
„Mein Ansehen ließe sich verbessern.“
Lange sahen sie sich an. Der Engel und der Gefallene. Der Augenblick spannte sich zur grässlichen Verzückung. Er durfte nicht zulassen, dass Luce ihn erneut verletzte. „Ich werde ein Wort für dich einlegen.“
Luce zog die Brauen zusammen. „Bei wem?
„Ganz oben“, versprach Ly nach einem Zögern, „Ich verspreche es dir. Aber mitnehmen werde ich dich nicht. Du hast schon zu viele Tricks abgezogen. “
Luce Antlitz entspannte sich. Nickend sank er in den Stuhl zurück.
„Morgen“, der Normanne stand auf, „nach einem Bad und einer Rasur. Ich weiß deine Umsicht zu schätzen, Lysander, aber ich sehe keine Notwendigkeit zur Eile.“
Die blauen Augen lächelten. Und sie konnten das herrisch.