Je weiter sie auf Bifröst entlang marschierten, desto kühler wurde es. Dennoch, Lysander empfand kein Frösteln. Er fühlte die kalte Luft, sah die Wölkchen aus seinem Mund wehen wie Schleier, aber er fror nicht.
Mit einem Seitenblick vergewisserte er sich, dass es den anderen genauso erging.
Der Normanne sah neugierig aus. Die Augen leuchtenden in Vorfreude auf die Begegnungen mit Menschen aus seinem längst vergangenen Leben. Aber wie Lysander bewunderte er die plastisch anmutenden Wolkenhügel der Umgebung, zwischen denen das Sonnenlicht hervorkroch.
Plötzlich verhielt Luisa im Schritt und stemmte die Fäuste in die Hüften. „He!“, rief sie säuerlich, „Wach auf!“
Verwundert versuchte Ly, herauszufinden, mit wem sie sprach.
Sie standen auf einem logenartigen Rund, von dem sich phantastische Terrassen stuften und in jeder Himmelsrichtung zu einer Palastgruppe führten.
Aber der Wolkennebel lichtete sich nur langsam, zuerst sah er nur Schattenrisse, bis sich das Gesamtbild manifestierte.
Davor saß ein Mann auf einem Stein und döste vor sich hin. Seinen Umhang hatte er sich einmal um den Hals gewickelt, ein Signalhorn lag neben ihm auf dem Boden.
„Heimdall!“, krakeelte sie jetzt und versetzte der Schlafmütze einen Tritt, „Wir werden erwartet!“
„W-was?“ , der Mann zuckte zusammen, „Ach, ja, äh, stimmt. Moment.“
Umständlich stemmte er sich hoch, dabei griff er das Horn und trötete einen unsäglich schiefen Ton, dass Lysander sich das Ohr rieb.
Luisa entrisse dem Kerl das Ding, pfefferte es auf den Boden und versetzte ihm einen Tritt. Dengelnd rutschte es über den Regenbogen.
„Lass das! Wir sind ja schon da.“
„Meine zweite Frau war Fanfaren auch nicht zugetan“, grinste Robert, „Sie hier ist Sichelgaita ziemlich ähnlich.“
Da war sie wieder, die alte Eifersucht. „Vermisst du sie?“, fragte Lysander hintersinnig.
„Nicht sehr“, Robert schob sein dichtes Ponyhaar nach hinten, „mach dir keine Sorgen“, er wandte sich der gigantischen Gebäudegruppe zu, „Sieh mal, da kommt unsere Eskorte.“
Tatsächlich, ein Mann kam angeflogen. Selbstredend flog er nicht, sondern ging, mit langen Beinen ausschreitend, dringlich schnell. Sein Blondhaar wallte ihm wie eine Löwenmähne auf die Schulter, und unter dem roten Umhang trug er mittelalterlich anmutende Kleider. An seinem Gürtel hing ein Kriegshammer. „Edda!“ Die Lachenfältchen um seine Augen vertieften sich.
Edda? Ly rieb sich die Stirn. Das musste ihr wahrer Name sein. Aber statt darüber nachzusinnen, beobachtete er sie genau.
Sie wandte sich um und ein strahlendes Lächeln überzog ihr vormals verkniffenes Gesicht. Biegsam ließ sie sich umarmen. „Thor“, sie säuselte, „Was ist denn so wichtig?“
„Es ist verzwickt“, er legte eine Pranke auf Lysanders und eine andere auf Roberts Rücken und lotste sie durch ein großes silbernes Portal, „Odin wird es euch selbst erklären“, er streifte Robert mit einem Blick, „Dir und dem Engel. Unser lang vermisster Held wird schon an der Tafel erwartet.“
Durch gigantische silbern und eisblaue Hallen liefen sie jetzt auf einem schier endlosen blaugeäderten Marmorboden. Aus einer geöffneten Doppeltür floss Lärm. Ein Mann stürzte hinaus, das Haar zerzaust, das Antlitz gerötet und mit blitzenden blauen Augen. In einer Hand hielt er das Methorn. „Na endlich!“, grölte er und fiel Robert kameradschaftlich in den Arm, „Na endlich.“
Erstaunlich, aber in beider Männer Augen standen die Tränen.
„Sein Sohn“, erklärte Thor, „Darin warten noch mehr auf ihn. Na los, macht schon.“ Der Lärm der Männer und Frauen floss aus der Halle. Lachen, klirrende Schwerter, Anfeuerungsrufe und Gesang. Widerstandslos ließ sich Robert zur Tür ziehen und als er an der Seite Boemunds hindurch schritt, wurde de Welle des Geschreis überwältigend. Thor schloss die Türen. Der Radau war wie abgeschnitten.
„Du solltest dich umziehen“, meinte er gutwillig zu Luisa, „Du weißt, er schätzt diese Art Kleider nicht“, er zupfte an ihrem grauen Rollkragenpullover.“
„Und er“, sie zuckte mit dem Daumen zu Lysander.
„Er ist nicht von hier. Da ist es egal.“
Während des kleinen Dialogs waren sie weiter gegangen. Drei von vielen Palastgruppen hatten sie schon durchzogen, bis sie in einer Halle standen, in der es vielfach heller war, als in denen davor.
Die Helligkeit war schmerzlich. Lysander zischte.
„Du gewöhnst dich dran“, sie schob ihn ein Stück weiter in einen engen Gang, mit mehreren Türen, von denen sie eine öffnete und ihn hinein zog.
„In einer halben Stunde“, rief Thor der sich schließenden Tür zu, und dann waren sie allein.
Allein in einem Raum. Die Wände, unverwelkliche Wiesen aus Edelsteinmosaiken. Davor ein großes Bett mit einem Himmel aus Gaze, ein Tisch und ein Stuhl, beides mit kunstvoll gedrechselten Beinen.
Luisa schubste ihn aufs Bett. „Warte hier“, dann verschwand sie in einer Art begehbarem Kleiderschrank. Dort drinnen hörte er Bügel über Kleiderstangen schleifen, etwas fiel polternd zu Boden.
Stoffe, lila, gelb, blau und grün flogen in die Stube hinaus und segelten vor seine Füße. Er mühte sich, seine Sprache wiederzufinden. Die Tatsache, in Asgard zu sein, hatte sie ihm verschlagen, und in weniger als dreißig Minuten würde er Odin gegenüber stehen.
Einem Gott.
Aber jener Thor war ja schon ein Gott.
Er tat sich schwer mit Göttern. Im Himmel gab es nur einen, und den hatte er nie gesehen, seit der die Belange des Himmelreiches dem Weltenlenker übertragen hatte.
Als er sie gefunden hatte, räusperte er sich. „Gibt es etwas zu bedenken?“
„Zu bedenken?“, gellte sie aus dem Schrank hinaus, „Was meinst du?“ Irgendetwas raschelte darin.
„Ich werde gleich einem Gott begegnen. Ich möchte vermeiden, in Unkenntnis irgendwelcher Bräuche in Ungnade zu fallen.“
Er hörte sie schnauben. „Nein, sei du selbst. Wir haben hier nicht so eine bescheuerte Etikette wie bei euch.“
„Du meinst kein Flimmern und Glitzern aus sphärischen Höhen, um mich zu beeindrucken“, er lächelte leise vor sich hin.
„Nein, hier glitzert es von allein.“ Sie war herausgetreten und stand vor ihm. Eine Schrecksekunde setzte sein Herzschlag aus. Nie hatte sie vollendeter ausgesehen, als jetzt, da sie einen dunkelblauen Mantel trug, über dem ihr Haar bis zur Taille hinab floss. Ihre mit blauen Bändern eingeflochtenen Zöpfe leuchteten wie pures Gold. Ein Kranz aus Frühlingsblumen zierte ihre Stirn, und ein Juwelenband hätte nicht kostbarer ausgesehen. Sie verzog den Mund „Ist was?“
„Nein“, er lachte sich selbst aus und wies mit dem Kinn zum Schrank, „Wachsen darin Blumen?“
„Ein paar magische Fähigkeiten wirst du mir ja wohl zugestehen“, unwirsch wollte sie ihn vom Bett ziehen, aber er zog sie zu sich auf den Schoß.
Zuerst sträubte sie sich, dann gab sie nach. Er spürte den warmen Druck ihres angeschmiegten Körpers. Die kühlen Finger, die sich an seine Stirn legten und sein Haar streichelten, fühlten sich wunderbar an.
„Wir haben keine Zeit“, bebte sie, „Keine Zeit.“
Sie beugte sich vor, hauchte einen Kuss auf seinen Hals und sprang von ihm weg.
„Komm jetzt.“
Seine Hand streckte sich nach ihrer und er ließ sich auf die Füße ziehen.
Dann traten sie hinaus auf den engen Gang, bogen in einer silbrig weißen leuchten Halle rechts ab, bis sie auf einen breiten Gang stießen, der sich bis zu einem gewaltigen, Silber beschlagenen Tor zog.
Davor, auf einer Empore, stand ein großer Schreibtisch aus Eichenholz. Dahinter ein kahlköpfiger Mann mit Schweiß auf der Stirn und Ärmelschonern, der eifrig auf eine Schriftrolle kritzelte, die auf der anderen Seite auf den Marmorboden gerollt war.
Vor dem Schreibtisch warteten einige Männer in Bekleidung, die Lysander hier nicht erwartet hatte. Ein junger Kerl mit ägyptischem Aussehen in einer Art Tunika, direkt dahinter ein geflügelter Jüngling mit Lendenschurz.
„Ist das..?“, er zeigte mit dem Daumen hinter sich, als sie an der Schlange vorbeischritten. Luisa oder Edda, er wusste nicht so recht, wie er sie nennen sollte, gab ein gewaltiges Tempo vor.
„Ja, das ist Hermes“, sie schwang herum und winkte dem Griechen, der sie erkannte und fröhlich zurück winkte, „Ich bin froh, dass wir Damiano nicht mithaben. Hermes hätte ihm gefallen.“
Lysander lachte leise. Alle Befürchtungen fielen von ihm ab, denn erstaunlicherweise gefiel es ihm hier. Auch, weil Odin und die anderen Asen offenbar regen Kontakt mit den Göttern der restlichen Kulturen pflegten, was im Himmelsoktogon undenkbar war.
Ihm kam seine Heimat wie ein schrecklich elitärer Verein vor.
Obwohl sich vor dem Tor sein Puls vor Aufregung beschleunigte.
Garden standen links und rechts wie aus Metall.
Bis sich einer von ihnen bewegte und die Tür aufstieß.