„Damiano, Isa und der kleine Satan bleiben hier!“, brüllte Lysander und rannte mit den anderen los. Sie hetzten über die gering befahrene Via Cavour, vorbei am Palazzo Medici-Ricardi und über den Domplatz.
„Wie hast du sie...“, keuchte Ly, derweil er einem Kinderwagen auswich.
Loki schnaubte belustigt. „Als sich das Engelchen an mich herangemacht hat, war ich oben. Und, na ja, ich dachte, sie schuldet mir was?“
Ly hielt inne. „Du warst im Himmel?“ Das kam ihm skandalös vor.
„Na, macht schon!, schrie Luisa, die an den beiden vorbei auf die Piazza Vecchio flitzte.
„Was hast du ihr versprochen?“, ächzte Lysander im Rennen.
„Sie mit hoch zu nehmen. Nach Walhalla, zu ihrem Mann.“
„Das kannst du doch gar nicht.“ Aber Lysander gab auf. Es war ohnehin alles scheißegal. Der Himmel hatte sich als ein einziger Betrug entpuppt. Dem Betrüger waren sie zwar dicht auf den Fersen, aber dessen Macht war nicht zu unterschätzen.
„Sie ist ziemlich speziell!“, brüllte Loki noch und hatte selbst im Lauf einen vage verklärten Gesichtsausdruck, als beglückte ihn eben das Spezielle dieser Herzogin aufs Äußerste.
Lysander kommentierte das nicht. Als sie um die Ecke bogen, sahen sie die Frau dort stehen. Die Uffizien, rechteckig, links und rechts kolossaler Renaissance-Bau von schwindelnder Länge, vorne verbunden mit einem schmaleren Gebäudeteil, dessen Mitte ein großer Torbogen dominierte, der den Blick auf die andere Flussseite eröffnete. Auf das Himmelsazur über erhabenen Hügeln, gespickt mit Schirmpinien und der Silhouette einer alten Kirche.
Aber davor stand die Frau mit einem gewaltigen Schwert.
In einem schlichten cremefarbenen Kleid mit weiten Trompetenärmeln. Das Schwert, das Licht, das sich in ihrem rotgoldenen Haar brach, die gespannten Wangenknochen, die verbissene Entschlossenheit signalisierten.....
Was sollte er sagen? Er sah glühenden Zorn durch ihre starken Adern fließen.
Lysander hörte auf zu rennen und lief langsamer auf sie zu.
Bass erstaunt. Etwas im aufgeschossenen Schwung ihrer Haltung gemahnte ihn an Luisa.
Sie war groß. Größer als Luisa.
Sie war schön. Anders als Luisa.
Aber was ihn lähmte, war die Erkenntnis, dass sie ein Mensch war. Eine Sterbliche von gewaltigem Willen und unermesslicher Kraft. Was in Luisa an Archaischem, Erdverhafteten wohnte, war in dieser Frau die Kraft einer menschlichen Liebe.
„Jeanne D’Arc“, hauchte er ehrfurchtsvoll.
Loki bekam einen Lachanfall. „Nein“, ächzte er, „ganz und gar nicht. Du wirst schon sehen.“
Sie setzte sich in Bewegung und zerbrach das Bild. „Na, wird’s bald! Sie sind schon drin“, mit der Schwertspitze wies sie auf einen Nebeneingang der Uffizien, „dieser bescheuerte Weltenlenker, zwei seiner Lakaien und dieser nervige Wilhelm!“
Nervig?, dachte Lysander, aber gut. Sie marschierten langsamer auf den Eingang zu.
„Ich bin Lysander“, stellte er sich flott vor, „das sind die Walküre Luisa, Lucifer und Loki, den du ja schon kennst.“
„Ah, Lysander“, spitzte sie, „der gnädige Herr, also. Ich will dir mal was sagen, du Vogel. In den tausend Jahren, in denen ich da oben im Himmel vor Langeweile gestorben bin, habe ich Gott nicht ein einziges Mal gesehen! Nicht mal deinen Vater! Ist das normal?“
Sie hechteten die Treppen hoch, auf dem Weg zur Tür zum Vasarigang, der den Eingang zur Hölle markierte.
„All die Kirchenstiftungen zu Canosa, in Otranto und Melfi! Wir haben sogar den Dom von Salerno neu gebaut, Robert und ich!“, sie blieb stehen und stampfte mit dem Fuß auf, „Und nicht ein einziges Mal...!“
„Da oben ist einiges schief gelaufen“, versuchte er eine Erklärung, „Ich bitte dich...“
„Robert hätte sich nicht so widerstandslos einfangen lassen“, blökte sie empört, „dieser Wilhelm ist eine Weichflöte vor dem Herrn!“
„Euer Gemahl“, entschied sich Ly nun für eine förmliche Anrede, „hat Walhalla bereits erreicht und wird entzückt sein, wenn ihr....“
„Wo war er denn überhaupt?“
„In der Hölle“, gab Luce zerknirscht zu, „Er hatte mir ein Stück davon geklaut.“
Die Frau blieb stehen, guckte verdutzt, warf den Kopf in den Nacken und lachte schallend. Als hätte sie diese Information beruhigt, blieb sie danach still, bis sie vor der nur angelehnten Tür standen.
„Wir müssen vorsichtig sein“, mahnte Luisa, schob sie ein Stück auf und linste durch den Spalt, „Hier sieht es anders aus“, konstatierte sie und öffnete die Tür in Gänze. Steppen grellten. Licht peitschte ihre Augen. Weiße Morgenhitze einer Wüstenei strahlte ihnen entgegen. Sand. Hier lag überall nur Sand in unendlicher Weite und mitten darin ein Bündel Mensch, was sich beim Näherkommen als Vergil entpuppte. Ein grün und blau geschlagener Dichter. Von Mitleid überflutet ging Lysander vor ihm in die Knie. „Mein Lieber“, sachte berührte er den alten Mann, „es tut mir so leid.“
Vergil stöhnte.
„Wisst Ihr, Signore, wohin sie sind.“ Denn wohin er sah, da war nichts. Nur lichtgrelle Ödnis.
„Was?“, Vergil stützte sich auf die Unterarme, „Nein, ich weiß nicht...ich verstehe nicht..“
„Lasst ihn liegen“, befahl Sichelgaita, „der hat einen Black out. Hier ist was.“
Forsch stiefelte sie auf eine plötzlich im Raum schwebende Öffnung zu. Die Ränder beperlt mit Relieffiguren. Gargoyles. Bösartige Fratzen. Ein waberndes Loch warmen Lichtes, in das sie, ohne nachzudenken, ein Bein setzte und dann das zweite.
„Nein!“, Loki sprang hinterher. Lysander tat es ihm gleich, denn er ahnte, was das hier war. Ein Gang, in dem aus fremdartigen Schatten Vogelsphinxe erwachsen. Erstarrt in der Gebärde des Warnens oder der Gewährung, wie gehabt. Nur neu, dass alles aber übertüncht aus einer Wolke von Gestänken war.
„Kommt wieder raus, schnell“, er machte eine rasche Geste zu Luce und Luisa, die außen in der Wüste standen und zu ihnen hinein sahen. „Das ist der Zugang zum Himmel“, erklärte Ly, „aber weil der Lenkenwelter weiß, dass wir in die Hölle wollen, hat er ihn ein wenig verunziert, damit wir glauben, wir wären richtig.“
Zuerst zögerlich, dann, als wäre ihre Entscheidung gefallen, stieg Sichelgaita wieder aus dem Loch. „Verunziert?“, schrie sie dabei, „Da klebt Kot an den Wänden und es stinkt nach Pisse! Wenn er das für die Hölle hält, war er noch nie in der Armengegend von Rom!“
„Ja“, gab Luce angesäuert zurück, „dass er denkt, ich wäre so stillos, kränkt mich.“
„Was machen wir denn jetzt“, mischte sich Luisa ein, „offenbar ist jeder Eingang zur Hölle verschwunden.“
„Och, ich wüsste schon, wie wir ihnen zuvorkommen können“, grinste Luce hintersinnig und begutachtete seine manikürten Fingernägel.
„Du weißt einen anderen Weg in die Hölle?“ Sichelgaita rückte ein Stück näher auf. Er sah unbeeindruckt zu ihr hoch, setzte ein diabolisches Lächeln auf, blieb ihr aber eine Antwort schuldig.
„Klar“, Loki versenkte die Hände in die Taschen seines Ledermantels, „Er ist the Prince of the fucking darkness.“
„Echt jetzt?“, Sichelgaita schwang zu ihm herum.
Loki nickte. „Lasst uns hören, was er vorschlägt.“
Luce räusperte sich. Sagte dann leise. „Es ist simpel. Aber wir können nur nacheinander rein. Dann sind wir aber sofort in meinem Palast. Sparen uns den Weg durch die Vorhölle und den ganzen Zinnober.“
„Und dann?“ Sichelgaita fuchtelte mit dem Schwert, „Dann brauchen wir aber immer noch eine Idee, oder?“
„Ich habe da schon eine“, Luce schickte seine Augen zu Lysander, der skeptisch dreinblickte, „Du musst mir vertrauen. Kannst du das?“
Ly schloss die Augen. Ließ all den Schmerz vorbeiziehen, den er durch Luce erfahren hatte und spürte, dass Tränen unter seinen geschlossenen Lidern hervor drängten. Er hatte ihn einst für einen Freund gehalten. Geliebter und Bruder.
„Alles, was du glaubst, das ich dir antat, Ly“, Luce berührte sachte seine Schulter, „kam niemals von mir.“
Lysander öffnete die Augen. „Nicht?“, krächzte er.
„Es ist das Konzept Gut und Böse, dass er, der uns jetzt besiegen will, auf die Spitze trieb. Lysander, der Sohn des Einen, der du Freundschaft mit dem Gefallenen schlossest. Er hasste es. Er hasst uns. Und nichts war ihm wichtiger als dich in meinem Namen leiden zu lassen. Denn solange ich wilder als die wildeste Bestie gelte, merkt niemand, wie oft ich ratloser als ein Kind bin. Ein Kind auf fremder Erde.“
Lysander sank ein Stück zu ihm hin. „Ist das wahr?“, hauchte er.
Luce umfasste seine Arme, sah ihm fest ins Gesicht. „Nichts ersehne ich mehr als den Frieden, Ly. Nichts mehr, als die Liebe.“ Sein Atem, lang wie Ozeanwellen, streifte ihn erfrischend.
„Warum hast du dich nie erklärt?“
Blausilbern funkelten Luce' Augen. „Was sollte ich reden? Hättest du mir geglaubt?“
„Jaja, sehr schön!“, schrie Sichelgaita hinter ihnen, „und jetzt küsst euch und macht, dass ihr den Arsch bewegt!“
Keiner der beiden drehte sich zu ihr um. Sie verschlangen das Antlitz des anderen und Lysander verfing sich in den langen Wimpernbögen seines einstmaligen Freundes. Die Diamanten, die seine blauen Augen waren, umfingen ihn gleich einem Sternenstrahlen.
„Vertrau mir“, wisperte Luce und Ly schaffte es, zu nicken.
„Fahr zur Hölle, Lysander!“, rief Luce laut und ließ ihn los. Die Erde tat sich auf und er stürzte hinab in unendliche Tiefen. Im ersten Augenblick schien der Schmerz Lysanders Herz zu zerreißen. Enttäuschung, so groß wie kein Ozean, durchflutete ihn, derweil er flog. Füße voraus, geradeaus, stehend. In ihm war nichts als Leid.
Bis er begriff.
Mit festen Tritt schmerzlos auf dem marmornen Boden von Lucifers Palast seiner Stadt Dis landete.
Er war da.
War es zu glauben?
Am ganzen Leib zitternd wankte er zur Wand und lehnte die schwitzende Stirn an die Tapisserie.
Das war nur ein Weg, den in die Hölle zu gehen, nur der vermag, der mit diesem Fluch belegt wurde.
Er überstreckte den Kopf und sah, wie sich oben ein kleines Loch auftat, aus dem als Nächstes Luisa angeflogen kam und deutlich unsanfter aufkam.
„Aua!“ Sie rappelte sich hoch. Es zog ihn zum erdenhaften Duft ihres Leibes und er umfing sie mit beiden Armen, drückte ihren Schopf auf seine Brust, gewillt, den Schmerz und die Erleichterung, mit ihr zu teilen.
„Ist gut, Ly“, sie kämpfte sich aus der Umarmung, „er hat gesagt, es geht nur einzeln.“
Und nach und nach flogen Loki und Lucifer selbst hinab in die unheilige Halle. Luce strich Lysander sachte mit einem langen Finger über die Wange und lächelte. Dann breitete er die Arme aus. „So“, rief er, „wir haben einen Vorsprung, den ich zu nutzen gedenke! Mir nach!“