(Hinweis: Die Geschichte ist Teil einer Großen, die den Titel Luisas Engel trägt und im Rahmen der Fingerübungen entstanden ist.)
Das scharfe Curry hatte Luce und Sichelgaita ausreichend gestärkt, sodass sie, der Wegbeschreibung Magdalenas folgend, unterwegs waren, Lysanders Vater zu finden.
Sie tappten durch einen finsteren Wald, über Stock und über Stein. Das Laub raschelte, Äste knackten unter ihren Füßen. Gefühlte Stunden waren sie unterwegs, bis Luce stehen blieb und sich an einer Fichte abstützte.
Die schmerzliche Reise hoch ins Himmelsoktogon stak ihm in den Knochen. Er blinzelte in das disharmonische Lichtmuster, das die helle Sonne durch die Baumwipfel sandte. „Einen Moment noch“, keuchte er und pustete sich das lange blonde Ponyhaar aus der Stirn.
„Was ist, wenn wir uns verirrt haben?“, moserte seine weibliche Begleitung leise, und warf den Kopf suchend hin und her.
„Bestimmt nicht“, Luce schöpfte tief Atem und marschierte weiter.
„Ich habe gehört, dass es jetzt so etwas Neumodisches wie Navigationsgeräte gibt“, schnatterte sie während des Marschs, „Habt Ihr so etwas dabei?“
„Und was soll ich da als Zielort eingeben? Heiliger Hain im Himmelsoktogon?“
„Papperlapapp“, Sichelgaita wischte mit der Hand in der Luft herum, „Und ein Hain ist es ja sowieso nicht. Durch den laufen wir gerade. Sie hat gesagt, er wäre auf einer Lichtung.“
„Das ist jetzt aber kleinkariert.“
„Überhaupt ist es eine Unverschämtheit. Jahrhundertelang hat man mich glauben lassen, ich wäre im Himmel, und dann stellt sich heraus, dass das hier der richtige Himmel ist.“
Luce ächzte genervt.
„Hier ist es auch viel schöner“, zwitscherte sie weiter, „Heller, freundlicher und harmonischer. Ich verstehe nicht, warum man mich nicht hier her gelassen hatte.“
Sie wichen einem äsenden Reh aus, das nicht einmal aufblickte.
„Weil die Harmonie dann rasch ein Ende gehabt hätte.“ Ohne sie anzusehen, kämpfte er sich weiter durch den pfadlosen Wald.
„Was?“, kreischte sie. Ein Vogelschwarm stob auf und verschwand zwitschernd im unendlichen Himmel.
„So was mein‘ ich“, gab er lahm zurück und sah wieder nach vorn, wo sich eine Lichtung auftat. Zielstrebiger setzte er einen Schritt vor den anderen.
„Warte mal!“ Sie bleib stehen und hielt ihn am Arm fest.
„Was ist denn?“
„Da ist Musik.“
„Ich höre nichts.“
„Wahrscheinlich seid ihr schon ganz taub von den Schmerzensschreien der Sünder da unten in Eurer Hölle. Hört doch einfach mal.“
Luce runzelte die Stirn und spitzte die Ohren.
Tatsächlich.
Seichte Musik perlte zu ihnen hin, wie ein sanftes Gewässer.
„Ich hätte mehr Stil erwartet“, meinte er dann gereizt, ehe er weiter lief, „Das ist Edvard Grieg. Im Morgenrot oder so was. Ganz schön kitschig.“
Wohl wahr. Doch schien die Musik eine hypnotisierende, in jedem Fall beruhigende Wirkung auf seine Begleiterin zu haben, die lammfromm neben ihm hier tänzelte. Dabei summte sie unentwegt: „Lülülülülü, lülülülülüü...“
Die Arme zu Schwingen ausgebreitet überholte sie ihn tänzelnd, umrundete ihn und hüpfte voraus.
„Nicht so schnell!“, er hechtete ihr nach, jederzeit mit einem Unfall rechnend.
Mit einem Mal standen sie auf der Lichtung, hinter der sich eine sanfte Hügelkette erhob. Im frischen Gras, auf leuchtendem Grün entsprang aus einer Felsnase eine Quelle, die kristallklares Wasser in ein ovales Becken ergoss, in dem die Fischlein sprangen, auf dem die Schwäne kreuzten. Daneben, auf einem Gesteinsbuckel, der sich aus dem Erdreich erhob, hockten zwei Gestalten. Einander zugeneigt, und mit etwas beschäftigt, das Sichelgaita wie eine übergroße Laute vorkam, wie sie sie aus ihrer Heimat, im Mittelalter kannte. Wie der magere Barde, den sie dereinst in Salerno durchgefütterte hatten, entlockte der dunklere Mann dem Instrument katastrophale Klänge, die sich mir der traumhaften Musik, die sie hatte herschweben lassen, vermischten, bis sie sie gar verscheuchten.
Zurück blieb etwas, das ihr wie eine Ausgeburt der Hölle vorkam. Sie rieb sich beide Ohren. Empörung kroch in ihre Züge, und als sie Luce‘ Begeisterung in den Augen las, wunderte sie das nicht.
„Natürlich! Das gefällt euch!“, kreischte sie über die Musik hinweg.
„Jedem vernünftigen Wesen gefällt das“, gab Luce strahlend zurück und ging auf die beiden zu, „Verzeiht, Exzellenz“, er beugte das Knie und bedeutete Sichelgaita, es ihm gleichzutun, aber sie blieb mit in die Hüften gestemmten Fäusten stehen.
Das Gitarrenriff erstarb, beide Männer schauten auf, und Sichelgaita stockte er Atem, als einer von beiden, der mit den dunklen kastanienfarbenen Locken und den lang bewimperten Augen, hochsah. „Jimi erklärt mir eben“, er zuckte mit dem Daumen zu dem anderen, hielt dann aber verdutzt inne. Gesammelt und doch mit einem Ausdruck tiefer Spannung sagte er: „Luce? Große Güte, was tust du hier oben?“
„Unwürdig bin ich, zu betreten das heilige Reich“, wisperte Luce gen Boden, „doch erlaubt mir die Frage, ob wir Eure Hilfe dürfen erbitten?“
Mit einer Handbewegung wurde die Frage abgewiesen. „Hör‘ mit dem Blödsinn auf und sprich normal zu mir. Was ist passiert?“
„Der Verrat des Weltenlenkers hat sich offenbart“, brachte Luce ehrfurchtsvoll heraus, „Und nun hat er....“
Sichelgaita stand fassungslos und starrte ihn an. Wie eine Ausgedörrte konnte sie sich nicht satt atmen an ihm. Eine butterweiche Erinnerung an ihr irdisches Leben umspann sie. Und hier strahlten aus ihm wehende Fontänen aus Liebe und Nachsicht. In glasigen Stürzen umhüllte er sie mit Licht. Und sie fand leider zu ihrer Stimme zurück. „Du?“, schrie sie den Einen an, „Du? Ist das zu glauben!“
„Ich freue mich auch, Euch zu sehen, Principessa“, erwiderte er und erhob sich. Mit der Hand auf dem Herzen deutete er eine ironische Verneigung an, die sie fuchsteufelswild machte. „Du warst auf der Erde!“, krakeelte sie, „Hast dich als Ritter und Gefolgsmann meines Gemahls ausgegeben! Mich erniedrigt mit deiner Allwissenheit. Hast dich gebärdet wie ein Ketzer! Und in Wahrheit bist du...!“
„Betrachtet es als Kompliment, Principessa“, lächelte er vage, „dass ich Euch fast ohne Zeremoniell als Gefährtin erachtete.“ Ein warmer Blitz zuckte durch seine Ikonenaugen.
Sie wurde puterrot, was es ihm erleichterte zu erraten, an welche Begegnungen sie sich erinnerte.
„Aber nicht doch“, er kam auf sie zu und strich ihr sachte über die Wange. Tränen der Empörung rollten zu ihren Wangen hinab.
„Tust du das öfter“, schniefte sie, „In aller Heimlichkeit unter den Sterblichen wandeln?“
Er grinst schief. „Danach nicht mehr. Ihr habt mir das gehörig verdorben.“
„W-was? Aber ihr wart doch Freunde, Robert und du. Ihr habt...“
„Pst“, zart strich er über ihre Brauenbögen, „Nicht ihr beide. Ihr Menschen“, wisperte er.
„Vielleicht könnten wir...“, warf Luce ein, der verlegen von einem Fuß auf den anderen trat, aber von einem Summton unterbrochen wurde, der sich als Klingelton offerierte. Der Eine sah sich suchend um.
Jimi klaubte das Handy aus dem Moosbett neben dem Findling, auf dem er mit seiner Gitarre hockte.
„Danke“, der Eine drückte den Knopf, „Ja?“
„Ähm, Verzeihung Herr. Hier ist Susi von der Himmels-Hilfe-Hotline. Ich habe da einen seltsamen Hilferuf aus der Hölle“, stammelte ein Flötenstimmchen, „Ich würde nicht wagen, euch zu behelligen, wenn nicht Lysander in Not wäre. Darf ich das Gespräch zu Euch durchstellen? Die Anruferin nennt sich Luisa und erhebt schwere Vorwürfe gegen den Weltenle..“
„Stell durch, Susilein.“
Sofort kreischte es drauf los. „Wir brauchen Hilfe!“
„Luisa? Wir kennen uns, meine Liebe. Wir sind uns mal im Dom von Florenz begegnet.“ Ein warmes Lächeln schwebte in seiner Stimme mit.
„Ich weiß! Bitte! Es ist heiß hier!“
„Nun, ihr seid in der Hölle.“
„Ja! Äh, nein! Schon! Aber es regnet Feuer! Der Weltenlenker will uns vernichten und er hat Lysander schwach gemacht!“
Die Ikonenaugen weiteten sich. „Keine Sorge. Ihr müsst nur singen“, redete er beruhigend auf sie ein.
„Singen?“, riefen Luisa und Sichelgaita aus einem Mund.
„Natürlich“, er lief mit einer, in der Tasche seiner weiten Leinenhose versenkten Hand umher, das Handy am Ohr, „Dazu ist die Musik erfunden. Um das Böse zu verschrecken. Wenn ihr das richtige Lied singt, wendet sich das Blatt zu euren Gunsten.“
„Geht das weniger kryptisch?“ Langsam schlich sich Verärgerung in Luisas Stimme. Im Hintergrund hörte man es poltern und knistern.
„Ihr kommt schon drauf“, gab der Eine liebevoll zurück und drückte den roten Knopf.
Luce sah ihn ratlos an. „Und wir? Sollen wir tatenlos zusehen? Lysander ist Euer Sohn.“
„Und unsterblich. Auch als Engel. Er weiß es nur nicht.“
„Was?“
„Man muss schon aufpassen, was man seinen Kindern sagt. Am Ende werden sie hochmütig.“ Gelassen setzte er sich wieder neben Jimmi und nahm ihm die Gitarre ab.
„Das hat dich dein Vater anscheinend nicht gelehrt!“, schrie Sichelgaita empört.
Der Eine übte einen Riff. „Das ist das Problem bei Einzelkindern. Man ist zu nachsichtig mit ihnen.“