Und sie landeten mit einem Rumms, doch ohne Verletzungen in dämmriger Dunkelheit, in der sie einander als Schatten ausmachten. „Luisa?“ Lysander zog die Brauen zusammen. Sah sich um.
Er erlauschte ein leises Stöhnen, das von Damiano kam und kroch zu ihm hin. Half ihm in eine sitzende Position, schaute ihn nicht an, denn seine Augen wanderten allein auf der Suche nach der Walküre umher.
„Luisa?“ Ihm war, als sähe er die Schattenumrisse riesiger Bäume, und als habe das Gigantische, worin sie saßen, ein Dach in unendlicher hoher Ferne. Im dunklen Wald bewegte sich etwas. „Kannst Du aufstehen?“
Damiano nickte und kam hoch. „Ich würde lieber wieder heimgehen“, versuchte er es mit kleiner Stimme und wurde ignoriert.
„Zwischen den Bäumen bewegt sich etwas.“ Lysander machte einen Schritt dorthin.
„Was?“, in Damianos Antlitz stieg die Panik auf, „Nein! Geh nicht weg!“
Doch Ly war schon losmarschiert. Die Gestalt kam ihm entgegen. Der ausgreifende Gang einer hochbeinigen Frau. Und je näher sie sich kamen, desto eiliger wurden beider Schritte. Das letzte Stück rannten sie. Beinahe nur, hätten sie sich in die Arme geschlossen. Er hatte die Arme ausgebreitet. Sie nahezu umfasst, wenn sie nicht direkt drauf plappern würde.
„Der Wald ist rau und dicht bewachsen“, sie zuckte mit dem Daumen über ihre Schulter, „aber man kommt leicht hindurch. Dahinter tut sich Interessantes.“ Sie lächelte breit.
„Interessantes?“, wimmerte Damiano, „Was kann in der Hölle interessant sein? Ly, bitte, ich will zurück. Und wo ist überhaupt dieser Vergil? Der bringt uns gewiss hoch, wenn wir ihn darum bitten“, er warf den blonden Schopf hin und her, „Wo ist er? Wo?“
„Er wartet hinter dem Wald darauf, dass ich euch hole“, gab sie unwirsch zurück, „nun mach schon.“ Grob schubste sie den Jungen nach vorn. Lysander lächelte nachsichtig.
Unterwegs, als sie sich durch das Geäst und Gestrüpp kämpften, kam es ihm eigenartig vor, dass es in einem vermeintlichen Wald nicht ein Geräusch gab. Kein Tier, kein Laub im Wind. Nichts.
„Hier ist nichts zu hören“, gab er zu bedenken, „Oder geht es nur mir so.“
„Oh, man hört schon was“, sie stieg über einen umgestürzten Baumstamm, „aber nichts, was in einen Wald gehört.“
„Ich höre nichts.“
„Ist besser so“, sie wies knapp mit dem Kinn auf Damiano, „er würde sich in die Hosen machen, wenn er es hörte.“
Lysander konzentrierte sich. Lauschte angestrengt. Und hörte es. Tausendfaches leidvolles Klagen wie aus einer anderen Dimension. Ihn fröstelte es. „Hat Vergil etwas dazu gesagt?“
Sie drehte sich zu ihm um. „Nur, dass die Wände hier nicht dick sind. Das Gejaule kommt aus allen Höllenkreisen.“
Eine Weile gingen sie stumm. Als der Jammer anschwoll, stimmte Luisa ein Lied an. „Meinen Kranz hab ich gesendet!“, sang sie kreischend, „Aber nicht, dich zu beglüüüücken!“
„Was soll das?“, wisperte Ly, und drängte sich näher an sie, „Er hört es“, sie zuckte zu Damiano und krakeelte weiter, „Schweigend sollt`er dir verkünden!“
„Ich kenne das Lied nicht“, wandte Damiano mit gelöstem Antlitz ein, „Ich würd‘ gern mitsingen.“
„Meiner Seele Schmeeerz!“
Verdutzt guckte Lysander sie an. „Ich hätte einen fröhlichen Text erwartet.“
„Mir fällt hier unten nichts Frohgemutes ein“, fuhr sie ihn an, „Ich bin auch nur eine Walküre.“ Beleidigt stapfte sie voraus.
Damiano hetzt hinterher, griff Ly am Arm. „Was? Warum singen wir nicht mehr.“
„Lasse es gut sein, Junge.“ Er blickte voraus und blieb einen Moment stehen. Hinter dem Wald, an dessen Rand sie standen, tat sich ein weites Feld auf, das ihm wie ein unterirdischer Zirkus vorkam.
Ein brodelndes Chaos von Gestalten und Buden.
Da tummelten sich Riesen, Zwerge, Wesen in Menschengestalt mit Tierköpfen und umgekehrt. Aber auch ganz gewöhnlich aussehende Menschen. Eben führten drei Männer in den Uniformen antik-römischer Offiziere debattierend einen Tiger an der Kette an einer Bretterbude vorbei. Es wimmelten von Hütten, eisigen Zisternen, heißen Bädern und Werkstätten. Doch dahinter ruhte in monumentaler Größe ein Kolloseum. Größer, gewaltiger als das Roms, zehnmal so groß, nein, hundert Mal so groß. Damiano krallte sich an ihm fest. „Was ist das?“, hauchte er ehrfurchtsvoll.
„Das muss die Hölle sein“, er schüttelte den Blonden ab und schritt hinein in das Chaos.
Zu Luisa, die wartend da stand. „Das Große da ist die Hölle“, bestätigte sie seine Vermutung.
„Aber ich dachte, wir wären da schon..“Damiano konnte die Augen nicht von dem überirdischen Steinbau lassen.
„Wir sind in der Vorhölle“, erläuterte sie, als wäre das hier ihre Kultur, „da sind nur die lauen Seelen, die wir kennen gelernt haben und die Leute, die sich okay verhalten haben, aber nicht christlich getauft sind.“
Sie zog Lysander in eine Nische, zwischen einem Wahrsagerinnen-Zelt und einer Bude, in der eben ein Krokodil vergoldet wurde. Eine ägyptisch aussehende Dame mit schwarzer Pagenkopfperücke, die Arme bis zu den Schultern behängt mit Goldreifen, sah verzück dabei zu und klatschte wie ein Kind in die Hände. In der Nische wartete Vergil.
„Ich versteh‘ das nicht“, beharrte Damiano, „Die Vorhölle? Die hat doch Kardinal Ratzinger abgeschafft. Als er Erdenlenker war, meine ich.“
„Selten geschieht von dieser Seite etwas, das mit dem Weltenlenker, dem Herrn oder Lucifer abgesprochen wäre“, beschwichtigte Ly und wandte sich Vergil: „Wo müssen wir denn jetzt hin?“
„Der Herr dort wird uns helfen“, er zeigte auf einen Mann, der zwischen dampfenden Tiegeln und Töpfen Flüssigkeiten zusammen mischte.
„Mein Herr“, bat der Dichter, „Meine Freunde hier wünschen, als Besucher in den inneren Kern zu reisen.“
Der Mann, mit langem Gesicht und zusammengewachsenen Brauen stellte ein zischendes Reagenzglas in einen Ständer und kam um seinen Stand herum. Erst da fiel ihnen auf, dass er den Körper eines Pfaus hatte.
„Also wirklich!Das sieht doch bescheuert aus.“ Luisa rümpfte die Nase.
„Ich habe es mir nicht ausgesucht“, grummelte der Halb-Pfau, „Wohin genau wollt Ihr?“
„Von Wollen kann keine Rede sein“, windete sich Damiano.
„Pfft.“ Luisa zuckte die Achseln.
„Wir wissen es nicht genau“, gab Ly zu.
Der Halb-Pfau fuhr sich über die Glatze und verzog den Mund gereizt. „Fangen wir so an, sucht ihr einen Wollüstigen?“
Ly sah die Walküre den Kopf schütteln.
„Einen Gefräßigen?“
„Nein“, schimpfte sie, „Er hat gern gegessen, war aber nicht mal halb so fett wie Ihr.“
„Das Pfauenfutter hier ist gehaltvoll“, verteidigte sich der Mann und griff nach einem Reagenzglas, dessen rote Flüssigkeit er in einen Becher zu einer grünen goss, „Ihr habt keinen Schimmer, wohin ihr müsst, aber er ist in jedem Fall da drinnen, ja?“
„Genau genommen sind es zwei“, Vergil mischte sich mit erhobenem Finger ein.
„Sie sind beide nicht dick“, moserte Luisa.
„Ihr geht durch eines der Tore“, der Kerl nahm ein Glasstäbchen und rührte in dem Gebräu, „dahinter seid ihr im ersten Höllenkreis.“
Damiano schmiegte sich winselnd an Ly. Der legte einen Arm um ihn.
„Dort leiden die Wollüstigen. Bewacht von Minos. Er ist so was wie der Boss da. Er hat Einsicht in die Bücher und kann euch unter Umständen helfen.“ Er sah sie alle drei nacheinander an. „Wahrscheinlich werdet ihr aber beichten müssen.“
„Wir sind Engel.“ Damiano löste sich von Ly und richtete sich stolz auf.
„Die da auch?“ Er zeigte auf Luisa.
„Nein, aber da sie keine Christin ist....“
„Das ist egal. Wird sie müssen.“ Er nahm das dampfende Glas mit der züngelden Flüssigkeit. "Trinkt davon. Es macht eurer Seele leicht zu lügen. Minos ist ein Schwachkopf.“
Zweifelnd sah Ly vom Glas zu Vergil. Der nickte allwissend lächelnd. So nahm er das Glas an und trank ein Drittel. Versuchte, das Gesicht nicht zu verziehen und gab es an Damiano weiter.
Der riss sich zusammen und trank das zweite Drittel. „Aarghh“, er schüttelte sich.
Luisa zerrte ihm das Gebräu aus der Hand und stürzte es ihn einem hinab. Sie riss die Augen auf. „Lecker“, konstatierte sie, „ein bisschen wie Met mit Pfefferminze.“
„Uuurgh.“ Damiano steckte sich demonstrativ einen Finger in den Hals und verdrehte die Augen.
"Ihr mischt Met mit Pfefferminze?", Lysander guckte sie entgeistert an.
"Wir haben einige Anglo-Normannen in Walhalla", gab sie spitz zurück.
Vergil zog seinen Beutel und zählte Münzen in die schmutzige Klaue des Halb-Pfaus.
„Viel Glück“, rief der ihnen nach, als sie das Tohuwabohu durchschritten und unter einem Bogen des Kolloseeums verharrten.
Die schweren, eisenbeschlagenen Holztore standen weit offen, aber niemand ging ein oder aus.
„Mensch“, die Walküre stampfte mit dem Fuß auf, „Überall bleibt ihr stehen und glotzt. Na los jetzt!“
Und sie gingen hinein. Die Marmorkorridore entlang, wo, im Schuppenpanzer, die Doppelaxt geschultert, mit fließendem Haar und einem Rubin im Ohr, alle zehn Meter ein Waräger stand.
„Waräger“, wisperte die Frau neben Ly, „Sie könnten uns nützlich sein.“
„Ich verstehe nicht.“
„Waräger sind dasselbe wie Wikinger. Die sind dasselbe wie Normannen. Mehr oder weniger“, sie zuckte mit den Achseln, „Sie standen in den byzantinischen Palästen genauso blöd herum wie hier, waren aber getauft.“
Er nahm ihre Hand, was sie verdutzt beäugte, sie ihm aber ließ. „Das heißt?“
„Ich bin noch nicht sicher. Vielleicht brauchen wir sie auch nicht, aber notfalls.....“
Unvermittelt blieb sie stehen
„Was ist?“
„Vielleicht kennen sie sie ja“, dachte sie laut nach, „Wir suchen immerhin zwei normannische Herzöge.
„Die auch getauft waren“, bemerkte Vergil, „Weshalb sie hier sind.“
„Sie haben nicht geglaubt“, schnappte sie den Dichter an, „Schon geglaubt, aber nicht das hier“, sie schlackerte mit dem Handgelenk, „wenn wir die Wachen fragen....“
„Nein“, Ly zog sie zu sich, „bitte. Lasse uns zu diesem Minos gehen“.
Sie schwang zu ihm herum, funkelte ihn an, sah aber dann an ihm vorbei. Alle folgten ihrem Blick.