"Bei allen Asen“, Luisa rieb sich verwundert die Augen und machte einen Schritt an Lysander und den anderen vorbei. Doch er hielt sie zurück. Entgeistert starrten sie auf das Bild, das sich ihnen in diesem dunklen Gang bot, der links und rechts von den ausdruckslosen Warägern flankiert wurde. Ein warmer Wind wehte über sie hinweg.
Dort, wo sie hinstarrten, hing ein Wesen.
Halb Mensch, halb Stier. Dämonischer Minotaurus, aber alles andere als bedrohlich, denn er sah ziemlich tot aus. Mit einem Dreizack an die Wand geheftet und an seinem Hoden hing verbissen ein Skorpion.
„Aua“, Damiano griff sich in den Schritt.
„Was?“, ungläubig fasste Vergil in den Luftraum zwischen sich und dem Wesen, „Das ist Minos. Ich verstehe nicht...“
„Also der, den wir hätten fragen sollen, in welchen Höllenkreis wir gehen, um zu suchen?“, schnappte Luisa säuerlich, „Na toll. Und jetzt?“
„Und jetzt? Interessiert es dich nicht, wie das passiert ist?“ Lysander gestikulierte hilflos. Die Sache bereitete ihm Kopfzerbrechen. Er schwang zu Vergil herum, der atemlos über die herabhängenden Hufe des toten Höllentieres strich. „Wann ward Ihr zuletzt hier?“
„Äh“, Vergil blinzelte, „Das muss schon einige Jahrhunderte...“, er räuspert sich, „Die Zeit misst sich hier anders, mein junger Herr. Ich weiß es nicht.“
„Was machen wir denn jetzt?“, schrie die Walküre.
„Pst!“ Damiano duckt sich an Ly, „Hier stimmt etwas gewaltig....“
In diesem Augenblick strömte ein heißer Wind aus einer der vier Türen und als sie sich herumdrehen, stand im Rahmen eine Gestalt, die sich müde die Augen rieb. „Bitte, was ist das denn hier für eine Unruhe?“
„Was ist das hier“, die Walküre zuckte zu dem Kadaver.
„Minos“, der Halbschlafende kratzte sich im Schritt, „Er wachte vor dem Tore der Wollüstigen, die hier früher von Höllenstürmen gepeinigt wurden.“
„Was ist passiert?“, Lysander trat einen Schritt näher.
Die Gestalt kam ihm so unversehrt und ausgeruht vor. Ganz und gar nicht wie ein Höllenbewohner.
Der Typ winkte mit der Hand ab. „Ach, das ist schwer zu erklären. Wir haben ihn abgeschafft. Natürlich nicht alleine. Da kam jemand....“,der Wind nahm zu, „verdammte Scheiße! Da kommt ihr und macht einen solchen Höllenlärm.“
Der Wind wurde zu einem Sturm, ausgehend von einem gigantischen Portal, auf das der marmorne Gang zu strebte. Dessen Tore öffneten sich knarzend und schnell. Heraus schoss fliegend eine Schar roter Teufel. Knisternd hohes Gekreisch erfüllte den Gang.
„Runter!“ Lysander zog die Walküre zu Boden, doch die Teufel jagten genau auf sie zu. Die Dreizacke auf sie gerichtet, als sich die Waräger von den Wänden lösten. Ein tosendes Aneinanderprallen war das Wuchten und Klirren im glühenden Lärm. Wie eine Woge rollte der Kampf dahin.
„Hilfe“, wimmerte Damiano und floh kriechend in einen der offenen Räume. Vergil hechtete hinterher, nur Lysander blieb im Gang über der Walküre liegen und bot ihr mit seinem Leib Schutz.
Dann war es vorbei.
Verwundete Teufel flitzten zurück durch das Portal. Ließen ihre verendenden Kameraden liegen, wo sie waren.
„Was zur Hölle...?“ Lysander strich über Luisas Schopf, über die Weicheit ihres dichten rotgoldenen Haare, „Ist alles in Ordnung? Geht es dir gut?“ Nicht loslassen. Er wollte sie nicht loslassen. Durch die transparent gewordene Hülle ihrer vermeintlichen Vergänglichkeit fühlte er ihren inneren Kern, den Eigenengel. Bereit, aus dem Andersglauben ihre weiße Seelenknospe zu erheben. Eine innere Stimme weissagte ihm, dass er im Begriffe war, sie zu verlieren, wenn er hochschaute, denn etwas in ihr vibrierte.
Und das Vibrieren war ein Erkennen. Sie erkannten die Präsenz von etwas Großem.
Die Präsenz eines Wesens, das es vermocht hatte, diesen äußeren Höllenkreis von Lucifers Reich abzutrennen.
Das es vermocht hatte, die Waräger zu nutzen.
Jemand, der war, wie sie.
Aufgestiegen war zum Herrn dieser Vorhölle, in der es ganz offensichtlich überhaupt nicht mehr höllisch war. Aus den vier Türen traten eine Reihe verwundert dreinblickender Gestalten. Paare, der eine legte den Arm um den anderen. „Was war denn los?“, murmelte einer.
„Gäste“, erklärte ein hochgewachsener schlanker Kerl in mittelalterlicher Kleidung, „helft mal, die kleinen Satane wegzuräumen."
Die Männer ließen ihre Liebchen los und schleiften die roten Kerle zum Portal. Lysander rappelte sich auf und reichte Luisa die Hände, um ihr aufzuhelfen. Erstaunt sah er dabei zu, wie die Männer sechs oder sieben verendete Teufel vor dem Tor aufschichteten. Der schlanke dunkelhaarige Mann rieb sich die Hände an den Hosenbeinen ab und hämmerte gegen die Pforte: „He! Holt Euren Dreck ab, ja!“
Dann kam er auf sie zu. Bevor er etwas sagen konnte, resümierte Ly: „Ihr habt hier euren eigenen Herrschaftsbereich.“
„Richtig“, der Dunkelhaarige wischte sich eine verschwitzte Haarlocke aus der Stirn und grinste schief, „manchmal hetzt er uns seine kleinen Bastarde auf den Hals“, sein Daumen zuckte zum Tor, aber meistens lässt er uns in Ruhe.“
Aus dem Türrahmen linste Damiano. „Kommt ihr rein?“ Kläglich klang er.
„Was macht ihr hier?“, ignorierte der hochgewachsene Ritter das Gewinsel und musterte Lysander und Luisa wohlwollend, „Ihr seht nicht wie Gestorbene aus.“
„Er ist ein Engel“, Luisa zeigte auf Ly, „Ich bin Luisa. Wir sind hier, weil wir zwei ehemalige normannische Fürsten aus der Hölle holen und nach Walhalla bringen sollen.“
„Ah!“, entgegnete der andere, als wäre das Normalste der Welt, „Ich schätze, den einen kann ich euch heute vorstellen.“
„Ihr wisst doch überhaupt nicht, um wen es geht“, wandte Lysander ein, derweil sie hinter dem Mann her in den Raum gingen, in den sich Damiano mit Vergil zurückgezogen hatte.
Vor ihnen eröffnete sich ein großer, dunkler Raum, der von mehrarmigen Kandelabern auf zwei großen Tafeln nur diffus erhellt wurde.
„Da kommt das Essen“, überging der Mann den Einwand. Und tatsächlich, eine Prozession erschien mit ausgewählten Speisen auf Schüsseln, Tellern, Schalen aus reinem Gold. Damiano, auf einem hohen Stuhl kauernd, beäugte die Speisen misstrauisch.
„Wer seid Ihr denn nun?“, beharrte Luisa, „Und warum glaubt Ihr, dass wir einen der Männer, die wir suchen, heute schon finden werden? Wo Ihr doch gar nicht wisst, wer sie sind.“
„Verzeiht“, der Mann legte eine Hand aufs Herz und deutete eine Verneigung an, „ich bin Daoud. Armseliger Diener des Mannes, der dies geschaffen und uns ein kleines Himmelreich in der der Hölle bereitet hat.“
Hinter ihnen an der großen Tafel wurde bereits gespeist. Perlendes Frauenlachen regnete auf sie hernieder.
Lysander verstand es nicht. „Wie war das möglich, dass er Lucifers einfach so ausgespielt hat?“
„Er ist die Weltenunruhe“, rief Luisa, „Es ist Robert Hauteville, richtig? Er hat die Waräger gesehen und sich gedacht, dass sich da was draus machen lässt.“ Von ihr ging ein Leuchten aus. Von neuer fieberhafter Schönheit war sie, dass es Ly vor Eifersucht schmerzte. Ihre Wangen glühten. Ihre Gestalt war unsäglich gespannt, als erwarte sie etwas.
Oder jemanden.
„Ist das wahr“, eine warme Stimme flog herbei. Als sie sich umdrehten, stand in der Tür ein Mann.
Herrgott, dachte Ly, der Anblick eine Augenweide. Ganz schmal vom Abdomen und Hüften, breit in den Schultern, überragte der Mann hier im Raum jeden. Abgesehen von den Warägern da draußen. Sein dichtes blondes Haar kurz geschnitten, das Gesicht, faszinierend leicht getönt.
Normalerweise hatte in der Hölle niemand eine so gesunde Gesichtsfarbe. Hier waren alle grünlich-grau oder verkohlt, wie dieser Daoud. Etwas wie Süße ging von dem Mann aus, umstellt von bestürzender Kälte und Gerissenheit.
„Ihr wollt mich abholen? Und nach Walhalla bringen?“, er grinste breit, eine Hand auf dem Beckenknochen, die andere auf einer Stuhllehne.
„Ähm, ja“, Luisa stierte in die Augen des Mannes, die graublau blitzten vor Vergnügen, „Das ist mein Auftrag. Die hier“, sie umfasste beide Engel und Vergil, „helfen mir.“
Dann, aus einer Eingebung heraus zog sie Lysander näher zu sich hin. Ganz nah, als wollte sie Verbundenheit mit ihm signalisieren. „Das ist Lysander. Er ist oben im Himmelsoktogon von Bedeutung. Sein Vater ist....,ach, ich weiß nicht. Die Bürokratie da oben ist schlimm, aber er ist für einen Engel mächtig.“ Sie stupste Lysander an und streckte eine Hand zu dem Normannen aus. „Das ist Robert Hauteville. Listenreicher als Odysseus schon zu Lebzeiten, was das hier ja wohl ausreichend erklärt.“
Der Normanne lachte dunkel und griff nach einem silbernen Weinkelch. „Einfach war es auf der Erde schon nicht. Das hier war eine echte Herausforderung.“
„Und Lucifer lässt euch in Ruhe?“
„Mehr oder weniger. wir sprechen hier nur von Waffenruhen. Echten Frieden haben wir nicht.“
„Verstehe“, aber Ly verstand gar nichts. Mit einiger Beruhigung bemerkte er immerhin, dass Luisa aufgehört hatte, zu schmachten.
„Walhalla“, resümierte der Normanne, „ich schlage vor, wir genießen das Mahl und ihr erzählt mir davon. Und dann überlegen wir, wie wir hier rauskommen.“
„Schon“, warf Ly dazwischen, „aber wir sollen noch einen rausholen. Einen Guillaume.“
„Oh“, Robert Hauteville nahm einen Schluck Wein, „der ist auch hier? Also hier bei uns ist er nicht“, er zog sich einen Teller mit zum Platzen reifen Feigen herbei, "aber wenn es der Herzog der Normandie war..."
Luisa nickte eifrig: "Der, der England erobert hat."
"Ich erinnere mich", der Normannen spaltete die Feige mit einem Messer, "Mochte ihn nicht. Er ist über acht Ecken mit meinem Weib Alberada verwandt", er blickte die Walküre an, "Ist sie oben? In Walhalla, meine ich."
"Ja", hauchte sie.
"Gut", die graublauen Augen wurden samten, er aß die Feige und rieb sich dann über den Mund, als er unvermittelt wieder geschäftsmäßig klang: "Er ist vor mir gestorben. Wenn er hier ist, hat euer Lucifer ihn erwischt. Demzufolge müsste er hinter der Pforte sein." Er wies mit der Hand zur Tür.
„Minos Bücher muss es ja noch geben“, schlug Lysander vor, "dort könnten wir nachsehen."
„Nach dem Essen, ja?“ Der graublaue Blick wurde eisig. Warf das Nordische auf ihn hinab, das ihn magnetisch umfing.
„Guten Appetit.“